Tod auf dem Dachboden

Kurzgeschichte zum Thema Verlorenheit

von  AZU20

Ein schmutziger Dachboden. Ungeschlachte Bretter. Graue Pfosten. Verstaubte Kisten, abgewetzte Koffer. Papierschnipsel. Stofffetzen. Ein raues Seil  über einem angefaulten Balken. Eine grobe Schlinge. Ein gelber Schemel liegt zerbrochen auf der Seite. Zwei schwache Fußabdrücke auf der staubigen Sitzfläche. Ein Körper schaukelt trostlos im eisigen Zugwind. Das Ende eines verpfuschten Lebens. Einsam, würdelos, fern von Gott.

In der Sakristei.
„Ich habe dafür gesorgt, dass ich mit ihm allein war.“
„Wie alt war er damals?“
„Ich glaube, er war 10 Jahre alt. Er kann auch etwas jünger gewesen sein.“
Er fährt sich fahrig durch sein schütteres, fahlgelbes Haar. Er sitzt vornüber gebeugt in einem abgewetzten Sessel. Auf dem Tisch davor sakrales Gerät. Papiere, ungeordnet angehäuft. Sein Kopf sinkt nach vorn. In die Hände. Ellenbogen auf der Tischplatte. Er wirkt geistesabwesend. Tiefe Falten in seinem von Trauer gezeichneten Gesicht.
„Ich weiß nicht, was mit mir los war. Ich handelte unbewusst, gedankenlos. Meine Hände. Ich konnte meine Hände nicht bei mir halten. Sie schweiften aus. Sie verließen mich und zogen ihn aus, berührten ihn. Überall. Er ließ es zu. Staunend, verwirrt.“
„Wo genau standen sie?“
„Ich saß auf dem Hocker dort drüben. Er stand vor mir.“
Er schüttelt heftig den Kopf, vergräbt sein Gesicht zwischen seinen Händen. Schultern zucken. Heftige Bewegungen, hektischer Rhythmus.
„Er ließ es zu. Ich griff nach ihm. Er ließ es zu. Er ließ alles zu. Ich war wie von Sinnen.“
Er blickt auf. Trostlose Miene. Gezeichnet von Erinnerungen. Erinnerungen. Schmerzen. Vorwürfe, endlos, fassungslos.
„Ich habe ihm weh getan, ich habe ihm unbeschreiblich weh getan. Er hat mir vertraut. Ich habe ihn betrogen. Entsetzlich betrogen. Ich habe sein Leben zerstört.“
Er sinkt in sich zusammen, blickt starr, stumm und ziellos umher. Seine Hände zittern.
„Ich sah einen fremden Menschen dies tun. Mein Leben fiel immer mehr auseinander, auseinander in einzelne, unbrauchbare Stücke. Ich konnte sie nicht mehr miteinander verbinden.“
„Wie lange? Wie lange ging das so?“
„Lange. Ich begehrte ihn. Trieb, unerbittlicher Zwang. Ein Drang, ihn immer tiefer zu mir in das Tal der Schatten zu ziehen. Ich atmete sein Bild ein. Diesen kleinen, nackten Körper. Immer tiefer, immer brennender. Voller rasender Begierde und doch voll schlechtem Gewissen. Und dann ließ ich ihn einsam und allein zurück, schickte ihn in tiefe, klaffende Abgründe. Ließ ihn allein mit sich und der Welt.“
Ein entstelltes Gesicht, fratzenhaft, traurig. Das Gesicht eines Gezeichneten. Das Kainszeichen auf der hohen Stirn. Vom Schicksal gestempelt. Öde, wüst, sinnlos.
„Kein Gott, kein Teufel hat mich geritten. Ich ganz allein habe mich in diese Wüste verloren. Und nun bin ich kurz vor dem Verdursten. Es tut weh.“
Es klingt wie ein Hilfeschrei nach Erlösung. Sein Gesicht. Dieses Gesicht lässt mich nicht los. Leichenhaft. Ausgehöhlt von Selbstverachtung. Das Leid hat sich tief eingefressen, die Finsternis hellt es nicht auf.

„Sie müssen mit einer Anklage rechnen.“ 
„Was ist aus dem Jungen geworden?“
„Er wird gegen Sie aussagen.“

Zurück im Haus.
„Ich habe viele Jahre damit gelebt. Aber mein Leben richtete sich zunehmend gegen mich. Von mir selbst verhöhnt, verfolgt, gehasst. Unfähig zur Umkehr. Ein Riss ging durch meine Welt, trennte mich von Gott, dem ich äußerlich  weiter diente. Kein Gedanke, der mich aufwärmte. Kalt und gefühllos fielen mir meine Worte aus dem Mund, liefen vor mir davon. Das Wissen um Gott in mir verdämmerte. Zerrissen, zerstampft, zerrieben. Erloschen.“
„Wie konnten Sie nur so viele Jahre mit dieser Schuld leben, ohne sich der Gerechtigkeit  zu stellen?“
„Ich verharrte hilflos in dieser triebhaften Irrfahrt. Lebte ein entstelltes Stück Leben. Fragte mich, was Gott mit mir im Sinn hatte, fühlte mich von grässlichen Teufeln gemartert.“
Ihn schwindelt. Sein Gesicht ist bleich und starr.

„Ich melde mich wieder bei Ihnen. Versuchen Sie zu schlafen.“

Er kann keinen Himmel mehr finden, möchte sterben. Die ungeheure Angst auf diese Weise zu überwinden wäre reine Seligkeit. Sich fallen lassen ins Unermessliche, Ungewisse. Er würde gern sterben, wenn er schon ungern gelebt hat. Doch dann, dort, jenseits der Zeit wird Rechenschaft von ihm verlangt.  Angst frisst das schmale Licht. Götterdämmerung. Tod.
„Flucht vor mir selbst. Denn das Leben, dieses Leben ertrage ich nicht  mehr. Sich auflösen im Weltgeist, verschwinden im Dunst ferner, fremder Welten. Erlösung vom Nicht erlöst werden können.“

Sich an jenem Balken auf dem Dachboden, auf dem Dachboden des alten Pfarrhauses zu Gott aufschwingen, sich im Tod, sich im Dahingehen, im Vergehen zu Gott aufschwingen. Sich aus dem Buch des Lebens selber ausstreichen und in den Weltgeist aufgehen. Ohne Erlösung, ohne gerettet zu sein.
„Aber ist  Gott nicht überall? Selbst im schlimmsten Verbrechen?“
In jedem Müllberg. In jeder Kloake. Im tiefsten Elend. Im Augenblick des endgültigen Sturzes. Im Moment  des Fallens ins Ungewisse, Unabänderliche. Im letzten Seufzer. Überall ist doch Gott.

Eine kurze Notiz in der Provinzzeitung: Wie erst jetzt bekannt wurde... Selbstmord eines katholischen Geistlichen. Auf dem Dachboden. Im Pfarrhaus. Einsam, würdelos, fern von Gott.

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Kommentare zu diesem Text


 Bergmann (16.04.06)
Schön erzählt. Das Prinzip spannender Knappheit ist gut eingehalten.

 AZU20 meinte dazu am 17.04.06:
Lieber Herr Bergmann, herzlichen Dank für den freundlichen Kommentar. Ihnen und Ihren Lieben eine schönen Ausklang des Osterfestes. LG
Elias† (63)
(25.04.06)
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 AZU20 antwortete darauf am 25.04.06:
Lieber Elias, vielen Dank für den Kommentar. Ich habe hier zwei Erlebnisse zusammengeführt. Den Selbstmord eines Pfarrers in meiner Heimatstadt, dessen Hintergründe nie geklärt wurden, und die "Taten" eines anderen Geistlichen, den ich bis dahin durchaus geschätzt habe.
LG
Nunny (73)
(06.05.06)
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 AZU20 schrieb daraufhin am 06.05.06:
Liebe Gisela, da hast du Recht. Ich kannte einen solchen Menschen. LG
Linda (28) äußerte darauf am 06.05.06:
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 AZU20 ergänzte dazu am 10.05.06:
Liebe Linda, ich hoffe es auch, so ähnlich wie Graham Greene es oft beschrieben hat. LG
Symphonie (73)
(10.05.06)
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 AlmaMarieSchneider (12.06.06)
Eindringlich, in kurzen Sätzen. Das gefällt mir.

Liebe Grüße
Alma Marie

 AZU20 meinte dazu am 12.06.06:
Liebe Alma Marie, herzlichen Dank für deinen Kommentar. Das tut gut. Ebenso die Empfehlung. LG zum Wochenbeginn.
managarm (57)
(24.10.11)
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 AZU20 meinte dazu am 24.10.11:
Ich danke dir. Habe das Schicksal zweier mir bekannter Priester vermischt. Ist schon älter und wurde plötzlich wieder aktuell.LG

 millefiori (01.05.21)
Anfangs dachte ich noch es handelte sich bei dem Erhängten um das Opfer des Missbrauchs.
So viel bleibt noch im Dunkeln, soviel ungesühnt. Aber selbst wenn ein Urteil gesprochen wird, so kann man das Geschehene nicht rückgängig machen. Man kann nur verhindern, dass es sich wiederholt.

Ein wichtiges Thema. Ich finde es sehr schlimm, das gerade die, die den armen Verlorenen ein Schutz sein sollen, deren Verderben verursachen.

Nachdenkliche Grüße
Millefiori

 AZU20 meinte dazu am 01.05.21:
Ja, so ist es. Vor so vielen Jahren haben wir (Messdiener etc.) dazu geschwiegen. LG
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