Der Fremde

Kurzgeschichte zum Thema Abgrund

von  AZU20

Der Fremde

Am frühen Morgen. Er wandert durch seine Heimatstadt. Er war lange weg. Alles ist fremd und unheimlich. Über der Stadt lastet eine bleigraue, trostlose Stille. Niemand begegnet ihm. Kein Laut ist zu hören. Wo ist die erquickende Kühle der Parks, der Duft der Büsche geblieben?
Schon von weitem sieht er das gewaltige Eingangsportal seines Elternhauses, das zu einem geräumigen Innenhof führt. Das Tor öffnet sich und ein Mann tritt heraus. Er schaut mit glanzlosen Augen zu ihm hin. Er ähnelt ihm in Größe und Gestalt, wenn er auch seltsam dünn und abgemagert ist.

Je näher der Mann kommt, um so größer wird sein Entsetzen. Das Gesicht des Fremden,  Gang und Haltung, Gesten, Kleidung. Sein Abbild wie eine schlechte Karikatur seiner selbst. Der Mann schleicht an ihm vorbei, grinst ausdruckslos. Er folgt dem Fremden, der ihm so unglaublich, so erschreckend vertraut vorkommt.   

Der Mann beschleunigt seine Schritte. Er folgt ihm wie ein Schatten. Er hört seine eigenen Schritte auf dem löchrigen Pflaster. Der Fremde vor ihm bewegt sich völlig lautlos als schwebe er. Vor einer klobigen Mauer macht er halt.
Ein kleines Tor in der Mauer öffnet sich wie von Geisterhand. Eine junge Frau tritt heraus. Es ist Laura, die er einst liebte, die ihn  verstieß, wegen der er die Stadt verließ. Er beginnt zu zittern, der Schreck fährt ihm in die Glieder. Da steht sie jung und strahlend, als hätten ihr die vielen Jahre seitdem nichts anhaben können. Der Fremde geht auf sie zu. Sie läuft ihm entgegen und fällt ihm freudestrahlend um den Hals.

Der Fremde dreht sich triumphierend zu ihm um. Er hört ihn flüstern als spräche er mit seiner eigenen Stimme.
„Du Narr, sie wäre dein Glück gewesen, doch du hast nichts verstanden.“

Ein schwerer Schatten senkt sich auf ihn herab und erstickt ihn fast. Es ist ihm, als ob ihm der Fremde das Leben aus seinem Körper saugt. Unzählige verlorene Jahre. Er bricht verzweifelt zusammen.

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Kommentare zu diesem Text

orsoy (44)
(28.05.06)
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 AZU20 meinte dazu am 28.05.06:
Vielen Dank, liebe Konni, für diesen ausführlichen Kommentar. Ja, sehr oft trauern wir Versäumnissen nach. Also sollten wir möglichst wenig versäumen. LG zum Sonntag
elvis1951 (59)
(13.03.08)
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 AZU20 antwortete darauf am 13.03.08:
Ich habe den Text gerade in einen größeren Zusammenhang eingebaut. Er gefällt mir immer noch. Dank an dich. LG
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