Der Schritt dorthin!

Innerer Monolog zum Thema Trauer/Traurigkeit

von  tastifix

Sie hörte und verstand es doch nicht. Es kam einfach zu unerwartet, als dass sie in jenem Moment die Bedeutung der Worte richtig hätte einordnen können:
"Maria, unsere Mutter ist letzte Nacht gestorben!"
Es war einer der drei Söhne, der ihr von weither diese Nachricht überbrachte. Die Mutter war 91 Jahre alt geworden und hatte ein sehr engagiertes Leben geführt, sowohl in ihrem Beruf als Ärztin, in ihrer Arbeit als Stadträtin und ihrer aufopfernden Hilfe in mehreren sozialen Einrichtungen.
"In den letzten Wochen war sie schwer krank. Sie ist zu hause gestorben."
Zu hause, das war das große Haus einer reichen Arztfamilie in einer Stadt am Bodensee, das der älteste Sohn, selber Arzt, nach dem Tod des Vaters mitsamt der darin befindlichen Praxis übernommen hatte.

"Maria, kommt Ihr?"
"Ja, selbstverständlich!"
Es würde eine anstrengende, fünfstündige Fahrt werden. Aber die innere Verbundenheit innerhalb der Verwandtschaft ließ überhaupt keine andere Entscheidung zu. Maria und ihr Mann Josef beschlossen, dort zu übernachten und am Samstag zurückzufahren.

Wenigstens das Wetter spielte mit, sie mussten sich auch nicht mit irgendwelchen Staus herum plagen und kamen zügig durch. Bereits nach viereinhalb Stunden parkten sie vor dem Haus der Verwandten, in dem sie von Frederic, dem Ältesten, und dessen Frau Sabine sehr liebevoll begrüßt wurden.

Dann machte Frederic ihnen einen Vorschlag:
"Wenn Ihr sie nochmals sehen wollt - sie ist aufgebahrt - dann kommt morgen früh zu uns. Ich begleite euch dorthin!"
Maria überlegte keine Sekunde und sagte spontan:
"Ich möchte sie unbedingt sehen. Wir haben uns sehr gemocht."

Am Samstag fuhren sie zu dritt zum Haus des Bestatters. Eine Frau führte sie in den kleinen, gedämpft beleuchteten Saal, in dessen Mitte der offene Sarg stand. Am Eingang zögerte Maria für den Bruchteil einer Sekunde. Es war nicht etwa, dass sie zurückschreckte vor der Konfrontation mit dem Tod an sich. Ihre Angst war eine andere:

"Wird sie sehr verändert sein, werde ich sie überhaupt erkennen? Wie werde ich mich dabei fühlen?"
Sie riss sich zusammen und heftete ihren Blick auf das Antlitz der Toten. Ihr Herz setzte fast aus, sie erstarrte. Eine Fremde lag da vor ihr, die fast nichts mehr gemein hatte mit der Frau, die sie so gemocht hatte.
"Mein Gott!", dachte sie erschüttert und betrachtete dieses unnahbar strenge Gesicht, dass nichts mehr der einstigen Herzlichkeit erahnen ließ.
"Sie sieht total fremd aus. Das ist nicht sie, wie sie war!"

Maria musste sich wieder und wieder sagen:
"Sie ist es, auch wenn sie noch so fremd erscheint. Sieh` auf ihren Mund. Es ist der selbe geblieben, dessen Lippen von der Entschlossenheit sprechen, die für sie so charakteristisch gewesen ist!“ 

Sie versuchte, ausschließlich diesen Mund zu betrachten. Er wurde zum optischen Halt des Miteinander-Vertraut-Seins, gab ihr die Freiheit, die Gefühle, die sie mit diesem Menschen verbunden hatte, auch hier, in dieser Situation, vor diesem Sarg, noch immer fühlen zu können.

Sie atmete auf, erleichtert, den Schock der Fremdheit ein wenig überwunden zu haben und betrachtete die Tote nunmehr ohne Hemmnis genauer, die streng nach hinten frisierten Haare, die hohe Stirn, die geschlossenen Augen, die im Leben vor Temperament und Fröhlichkeit so sehr geblitzt hatten. Sie schaute auf die schmalen, langfingrigen Hände, die ihr Leben lang für Andere geschuftet, gepflegt und geheilt hatten und nun so still wie im Gebet dort lagen.

Am liebsten wäre Maria zu ihr gegangen, hätte ein letztes Mal über diese Hände gestrichen und ihr gesagt, wie leid es ihr nun tat, sich nicht in der letzten Zeit noch einmal gemeldet zu haben, wenn auch nur telefonisch, denn sie wohnten ja fast 470 km auseinander. Doch Maria beschlich eine ehrfürchtige Scheu. Statt näher zu treten, verharrte sie auf ihrem Platz, ohne allerdings den Blick von der Toten zu wenden.

Noch immer befand sie sich in einem außerordentlichen Gefühlszustand. Beschreiben konnte sie ihn nicht. Es war, als ob alles wie ein Film vor ihr abliefe, die Tote als Hauptfigur und sie selber beinahe nur als eine Statistin.

Niemand sagte ein Wort, wie um diese besondere Stille, die in diesem Saale herrschte, nicht zu brechen. Es war die Stille, die die Verbindung zum Jenseits zu sein schien – es war einfach nur Frieden.

Dieser Frieden ließ nur noch einen Gedanken zu:
Maria würde sie niemals vergessen.

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