Ich werde sterben!

Anekdote zum Thema Sein

von  bratmiez

Borsti, das Ferkel, war nicht nur ein kleines Schwein sondern auch der Sohn eines XXL-Schnitzels. Sein Papa "Horsti" wurde eines schönen Tages in einen Transporter gepresst und zu jener schlimmen Stelle gebracht. Die schlimme Stelle kannte Borsti von seiner Oma Hilde. Keiner ihrer Söhne kam jemals von dort zurück. Borsti fragte die Großmutter, was denn da mit dem Papa passiert sei. Hilde grunzte leise und erzählte dem Kleinen, was der Grund ihres Daseins ist.
Völlig von der Rolle fragte er:
"Wir werden gefressen, Omi?"
"Ja, mein Junge. Das ist der Grund, weshalb wir auf dieser Erde sind."
"Wirst Du auch bald gefressen, Großmama?"
"Nein, ich bin eine verbrauchte alte Muttersau. Mein Fleisch ist zäh."
"Und ich?"
Hilde schwieg und drehte sich mit Mühe zur anderen Seite des Holzverschlags.
"Wann kommt denn die Mama wieder und wo sind meine Brüder?"
Er quiekte sooo laut, dass Hilde nicht anders konnte, als ihm die Wahrheit zu sagen:
"Deine Brüder hängen am Spieß. Die Menschen nennen das Spanferkel. Ziemlich lecker, weil die Kleinen noch die gute Muttermilch genossen. Und deine Mama liegt neben Papa auf irgendeinem Teller im XXL-Restaurant."
Borsti seufzte: "Und das soll der Grund sein für unsere Existenz?"
"Hör auf zu Denken!" sagte Hilde.

Die Nacht war kalt und dunkel. Borsti nahm die Gelegenheit wahr und schlüpfte durch das kleine Loch im Verschlag. Er rannte, schneller noch, als ihn seine kurzen Beine tragen konnten.
Da war es: "XXL-Bude"!
"XXL" - was bedeutete das überhaupt?
"Die schlachten ein Schwein, klopfen es breit und machen ein Schnitzel daraus."
... sagte der Kater, welcher gerade seine Runde ging.
"Und ich bekomme dann den Rest, miau."
"Du bist gemein!", grunzte Borsti.
"Ich bin gemein? Meckmauuuuu. Wie dumm bist du eigentlich?"
"Würde es Dir denn gefallen, wenn ich deine Mama fresse?"
"Gefallen oder nicht - wem interessiert das schon? Miau."
"Mich interessiert es. Ich will nicht gefressen werden!"
"Ha ha haah, ich wusste gar nicht, dass es noch Träumer in dieser Welt gibt. Nichts für ungut."

Borsti lief die bunt beleuchteten Straßen entlang. Vor einem großen Plakat blieb er stehen.
"BROT FÜR DIE WELT!", stand da und darunter war ein kleiner Junge abgebildet, der dem Verhungern nahe war.
"Wieso geht der nicht in die XXL-Bude?", fragte sich Borsti mit schüttelndem Haupt.
"Dafür musste doch meine Mama sterben, oder?"

"Miau, ein kleines dummes Schwein!"
"Du schon wieder?"
"Ja, es liegt in meiner Natur neugierig zu sein."
"Sag, wieso lassen die Menschen ihre Kinder verhungern und füttern Dich an deren Stelle?"
"Das sind doch nicht ihre Kinder! Das Kind ist schwarz - sieh nur!"
"Du bist auch schwarz, lieber Kater."
"Nenn mich nicht so, miau!"
"Du bist doch ein Kater?!"
"Ja, aber nichtnicht lieb!"

Borsti rannte weg und fand sich auf einer großen Kuhweide wieder.
Klara, ein Weib von Rind, entdeckte den Kleinen.
"Was willst Du denn hier?"
"Ich, ich suche den Sinn meines Seins, liebe Kuh."
"Wie dumm bist Du eigentlich? Du bist geboren, um zu Sterben, mein Freund!"
"Wer sagt das?"
"Na, die Menschen sagen das!"
"Diesselben Menschen, die ihre Kinder verhungern lassen und Katzen ihren Überschuss an Nahrung geben?"
Die Kuh dreht sich um und murmelt: "Ich weiß nicht, wovon du redest!"
"Wenn das diese Menschen sind, dann nehme ich sie nicht ernst, liebe Klara!"
"Das musst Du wohl!", erwidert sie.
"Ich muss gar nichts!"

Und er rannte weiter und weiter - bis er, auf dem Weg zurück zu Oma Hilde, plötzlich eingefangen wurde. Es roch nach Heu und Stroh. Borsti erzählte von seinen Erlebnissen.
Die anderen Schweine lachten ihn aus, während nebenan den Gänsen ein Trichter in den Hals gesteckt wurde.
Borsti musste weinen.
"Wieso heulst Du, miau?"
Da war er wieder - der schwarze Kater.
"Ich werde sterben."
"Sterben müssen wir alle!"
"Aber ich werde sterben und die Menschenkinder werden nicht satt. Das ist unfair."
"Würdest Du denn gerne sterben, wenn sie satt würden?"
"Es gäbe zumindest einen Grund, weißt Du?"
Der Transporter fuhr vor.
Borsti bekam einen Schlag mit der Elektrokeule.

Da lag es nun - das Ferkel mit den vielen Gedanken.

"Ich werde die Reste von Dir mit Bedacht fressen, kleiner Freund, miauuuu!",

sagte der Kater und ging seine Runden ...

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Kommentare zu diesem Text


 Maya_Gähler (28.03.08)
Traurig aber wahr...
jetzt guck ich ganz bedröppelt aus der Wäsche... sniff
das haste nämlich so herzzerreissend schön geschrieben, Miez
Ich hoffe, dieses Guetnachtgschichtli lässt mich schlafen.
Gute Nacht, Borsti
Gute Nacht, Oma Hilde
Gute Nacht, Kater
Gute Nacht, Miez
Gute Nacht, Maya
Caryptoroth (37)
(28.03.08)
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Sappho (48)
(28.03.08)
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 Ingmar (30.03.08)
ein märchen, und ein ziemlich realistisches, wenn wir realismus mal so verstehen wollen: nicht unbedingt für kinder geeignet.
ich les es dann meinem sohn irgendwann vor!

lg,
ingmar

 Mootz (09.07.08)
geiler text miez! du sagst was gesagt gehört in fetten unsichtbaren lettern zwischen den zeilen! das hat einen noch wirkungsvolleren effekt als es einfach hinzuschreiben.
dazu muss man sich nämlich selbst was denken.
dieses thema aus der sicht eines ferkels zu betrachten...hast du raffiniert eingefädelt.
Lg mela

 Stone (16.07.08)
eine einfache und doch intensive, faszinierende Geschichte, die mich absolut berührt hat.(okay, bin kein Vegetarier).Du übertriffst dich einfach immer wieder, auch wenns etwas nach phrasendrescherei klingt, aber: absolut "bratmiez-klasse"
Stone
giftpreisträger (50)
(19.08.08)
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