Meine DDR oder: "Meine Heimat existiert nicht mehr ..."

Anekdote zum Thema Vergangenheit

von  bratmiez

Der häßliche braune Lederranzen hängt verstaubt im Keller neben dem Regal mit den Sauerkirschen. Die Oma hatte sie vor ca 20 Jahren da placiert. Mandy, meine beste Freundin, ist eine erwachsene Frau geworden. Früher hatten wir uns gegenseitig das Fahrradfahren beigebracht, heute schreibt man es wohl auseinander. Die Katzen nutzten unseren Sandkasten als Toilette. "Toilette" sage ich erst seit 1994. Vorher hieß es einfach nur Klo. Wir hatten ein "Plumpsklo", das war so eine Art - wieso erkläre ich das eigentlich? Jeder weiß doch, was ein "Plumpsklo" ist, oder? Darüber konnte man sogar kommunizieren. Ich rief "Hallo?!" hinein und es schallte ein "Na Du?" zurück. Es war Gerd, unser Obermieter. Er trug den Namen eines berühmten Fußballers und konnte seinen Bauch ganz weit aufblähen. Seine Frau, Eva Müller, stürzte einst mit zwei Kohleneimern die Treppe herunter. Das war ein Mordskrach. Man sah nur Beine, Arme und ein Dutzend Kohlen. Ihre Tochter, die Antje, mußte immer die Hausordnung machen. Den Dreck kehrte sie dann immer unter unseren Abstreicher. Einmal verpfiff ich sie bei ihren Eltern. Danach hatte sie vier Wochen Hausarrest und ich ein schlechtes Gewissen. Mit meiner Schwester ging ich gern in den Wald. Das wäre heute undenkbar - zwei kleine Kinder, allein im Wald! Ich bewunderte immer die Mädchen aus der 10ten Klasse. Sie hatten eine AG gegründet: "Popgymnastik". Heutzutage sagt man "Aerobic" dazu. Melanie war mein Vorbild. Sie hatte mit 15 schon eine Dauerwelle und einen Haargummi aus dem Westen. Heute besitzt sie nicht einmal mehr einen Videorekorder und muß sich zweimal jährlich bei ihrem Fallmanager melden.
Im Speisesaal der TEXTIMA (TextilMaschinenFabrik) fand alljährlich eine große Weihnachtsfeier statt. Für uns Kinder war das wie, wie, wie ... keine Worte! Der Weihnachtsmann hatte die Stimme des Hausmeisters und schenkte uns Kindern Kekse, Haselnüsse und Apfelsinen - richtige Apfelsinen! Heutzutage kriegt man die in 10-Liter-Eimern im Kaufland für 2,99€. (also die Apfelsinen oder "Orangen" wie es so schön heißt)
Samstags, nach der Schule, war Familienzeit angesagt. Unser Papa baute aus dem alten Badeofen eine Art Räuchergerät. Darin wurden dann Würste und Fische und sämtliche anderen leckeren Sachen noch leckerer gemacht. Mandy und ich bauten uns derweil ein Zelt im Garten. Man brauchte dazu nur eine Wäscheleine, zwei "Mollidecken", ein paar Klammern und vier/fünf schwere Steine. Heutzutage gibt es "Bob-der-Baumeister-Zelte" bei TOYS´R´US". Hmmm, ich wollte immer den Ranzen (man sagt auch "Tornister" jetzt) mit dem Hasen und dem Igel. Der war gelb/blau und hatte extra Rückstrahler. Hätte mein Onkel damals schon in Berlin gelebt, hätte ich vielleicht einen bekommen. Cynthia kam einmal mit einer roten Digitaluhr zur Schule. Der halbe "Schulhof" versammelte sich um sie. Ich war nicht neidisch. Meine "Zeigeruhr" brauchte wenigstens keine Batterien. Einmal hatten wir Westbesuch. Ein alter "Audi 80 Sport" parkte in unserer Einfahrt. Für zwei Wochen war ich das beliebteste Mädchen der ganzen Schule. Die Jungs aus der 9ten kamen bei mir vorbei und fragten, ob sie das Auto putzen dürften. Mein Onkel aus dem Westen fand das ziemlich lustig und stellte sie an wie kleine Sklaven, hehe. Nachdem er wieder abgereist und das letzte Stückchen "Sarotti-Schokolade" aufgegessen war, bekam ich wieder den normalen "Status-Antiquo" bei meinen Mitschülern. Selbst die Direktorin redete wieder mit mir und verhalf mir zu einer Position im "Pionierrat". Von nun an war ich die Sportskanone. (heute nicht mehr auszudenken). Ich nahm an Wettbewerben teil und schaffte es doch tatsächlich: "Zweitstärkster Pionier" zu werden. Ich mußte vor all den Schülern, in der Aula, vortreten und bekam eine Urkunde, einen Anstecker, einen Wimpel und ein Buch geschenkt. In jener Aula fand man bei Sanierungsarbeiten 1995 etliche Drähte und Wanzen, welche damals zu Abhörzwecken verwendet wurden. Ich kann mich noch sehr gut an einen Pioniernachmittag erinnern. Pioniernachmittage waren vergleichbar mit der "Subbotnik-Arbeit" (abgeleitet vom russischem Subbota (Samstag) - das waren freiwillige, unbezahlte Arbeiten, die jeder DDR-Bürger, meistens samstags, verrichten "mußte")
Wir hatten die Aufgabe den Schulhof zu säubern und die angrenzenden Beete von Unkraut zu befreien. Rico, ein kleiner Rebell, sagte; "Laßt uns lieber ein Eis in der Völkerfreundschaft essen gehen!" Sein Vorschlag klang verlockend. Wir krempelten unsere Hosentaschen um und kramten ganze 60 Pfennig (Aluchips natürlich) raus. Dafür bekam man genau drei Kugeln leckeres Vanilleeis. Gesagt - getan! Den darauffolgenden Montag in der Schule möchte ich nicht nochmal erleben. Weißt du, wie peinlich es ist, vor der gesamten Schule, beim Appell bloßgestellt zu werden? Wenn ich heutzutage ein Vanilleeis im Kühlfach bei Lidl für 2,99 (€) sehe, dann ... ich fühle mich echt noch schuldig. Dann kam mein 13ter Geburtstag - ganze 20 Tage später nach dem "Tag der Republik". Honni schrie mit zitternder Stimme: "Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!" Aber die Ochsen und Esel blieben stur und ich fand mich 20 Jahre später in meinem Sessel wieder. Jetzt sitze ich hier und telefoniere mit Leuten aus dem Westen. Ich fragte Tom, was er zu Ostern macht. Er fährt in die Heimat, sagte er. "Heimat - welch schönes Wort?", dachte ich.
Der häßliche braune Lederranzen hängt verstaubt im Keller neben dem Regal mit den Sauerkirschen.

Ob sie noch genießbar sind?

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Kommentare zu diesem Text

Spocki (57)
(11.10.09)
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managarm (57)
(11.10.09)
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Max (43)
(11.10.09)
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Lena (58)
(11.10.09)
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 Didi.Costaire (11.10.09)
Falls Melanie noch genießbar ist, könnt man es vielleicht wagen, so ein Glas zu öffnen. Auch wenn die Kirschen wahrscheinlich etwas blass aussehen...

spannend und lebendig erzählt. Gerne gelesen!

LG, Dirk

 Bergmann (11.10.09)
Schön, dass das notiert wird!

Aber für mich gilt genauso:
Meine (damalige) BRD gibt es auch nicht mehr!

Aber: Das heutige Deutschland ist mir eine größer gewordene Heimat!

Herzlichst: Uli
(Ich fahre in einer Woche für eine Woche wieder nach Halle.)

 franky (11.10.09)
Einiges in deiner "Anekdote" hat mich auch an meine Kindheit erinnert wie: "Plumsklo" Im Krieg noch 5 Geschwister schliefen wegen Bettenmangel zu zweit in einem Bett. Anderes in deiner Anekdote wäre für mich sogar undenkbar gewesen. Doch du hast es sehr Spannend erzählt, es hat deine Wehmut zum Klingen gebracht.

Herzliche Grüsse
von
Papa Franky:-)
MarieM (55)
(11.10.09)
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tagedieb (43)
(13.10.09)
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Lehmfigur (46)
(10.03.10)
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Susa (55)
(17.10.10)
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