Digestivum Essensis

Bericht

von  bratmiez

03.11.1988

An der Bushaltestelle saß ein seltsam gekleideter Mensch. Sein Blick verfolgte den vorbeiziehenden Pferdewagen von Bauer Franz. Er musste unwillkürlich lächeln und kramte so eine Art digitales Fieberthermometer aus seinem Mantel. Ich hatte so ein Ding letztens in einer dieser verbotenen Westwerbesendungen gesehen. Man betätigt einen Knopf, steckt sich das Teil unter die Achseln und "Peng!" zeigt es Dir deine Körpertemeratur an. Dann geschah etwas Komisches.
Der Mann mit der Glatze verknüpfte das Fieberthermometer mit ein paar Kopfhörern.
Das waren ganz kleine Stöpsel, welche man sich direkt in die Ohren schieben konnte.
Jetzt musste ICH lächeln. So etwas hatte ich noch nie gesehen!
Und dann kam der Hammer: Als ich mir eine Zigarette anstecken wollte und jedesmal mein Streichholz ausging, reichte er mir sein Fieberkabeldings rüber und erzeugte damit eine Flamme.

Nach fünf Minuten kam der Bus.

Genau zwei Plätze waren noch frei. Er setzte sich neben mich. Das Thermometer spielte eigenartige Töne. Träumte ich?
Während der Fahrt öffnete er seine Tasche und holte so ein riesiges Buch hervor, welches er auf seinen Beinen placierte.
In jenem Buch waren eine integrierte Schreibmaschine und ein Monitor. Wow!
"Bist Du glücklich?", fragte er.
"Nein, die Heizung in diesem verdammten Bus funktioniert nicht!", antwortete ich.

Dann schlief ich ein.

(07.05.2008)

Als ich erwachte, war alles anders. Riesige Leinwände erzählten mir etwas von:
Digestivum Essensis- und Actiregularis Kulturen, sie zeigten mir Zeitperlen und eine Substanz namens Octopirox.
Die Menschen um mich herum artikulierten in einer ziemlich verrückten Sprache.
Sie redeten von Flatrate und Defragmentierung und URLs und so.
Jugendliche saßen auf der Stadtmauer und redeten mit kleinen Maschinen, welche komische Tierlaute von sich gaben.

Ein immens großes Kaufhaus offerierte mir ein fabelhaftes Lichterspiel.
Zwischen Parfüm und glänzenden Minischallplatten flimmerten bunte Bilder.
Eine 70-Jahre-alte Frau präsentierte eine Gesichtscréme, die gegen Falten helfen soll,
drei schreiende Kinder berichteten mir von Cerealien und pürierten Früchten und im Hintergrund verteilte ein kunterbunter Clown Gratis-Fleischbrötchen.
Als ich mir eines davon schnappen wollte, zog mich eine gut gekleidete junge Dame in die nächste Ecke und versuchte mir einen Bausparvertrag anzudrehen.

Auf der Flucht vor ihr, begegnete ich dieser alten Frau. Sie saß in einer Ecke und kam mir seltsam bekannt vor.
"Sie sind doch ...", faselte ich noch, als sie mir den Mund zuhielt.
"Alles Lüge, alles-alles Lüge!"
Ich wusste nicht, wovon sie spricht.
"Früher hatte ich einen Pferdewagen, junge Frau.", sagte sie.
Ich verstand nicht.
"Omar und Sharif hießen meine zwei Lieblinge."
"Wo sind sie jetzt?", fragte ich.
Sie weinte und zeigte auf die Hauptstraße.
Vor meiner Nase hielt ein Taxi.
"Nach Hause!", befahl ich.
"Ernst-Thälmann-Straße 5", setzte ich nach.
Er wurde wütend und verwies mich seines Autos.
hmm ...

Ich setzte mich neben die alte Frau und starrte mit ihr auf die so scheinbar lebendige Straße.
"Age Re-Perfect Pro-Calcium", flüsterte sie.
"Bist Du glücklich?", hauchte ich.

Ihre Antwort hatte ich nie erfahren. Der Bus hielt am Hauptbahnhof in Leipzig.
Der Platz neben mir war leer.
Nur ein kleiner Zettel lag da.
Auf ihm stand der Name: "Dr.-Shirota" (haha!)

Wenn ich ehrlich bin, dann mag ich doch diese verdammte Heizung, die nicht funktioniert!

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Kommentare zu diesem Text


 franky (07.05.08)
Liebe Miez

Bin ehrlich, unter dem Titel konnte ich mir nichts Vorstellen und war neugierig was da zum Vorschein kommt, bei dir ist man vor Überraschungen nie gefeit.
Mich hat dein Bericht gefesselt und in eine melancholische Stimmung versetzt. Wie Recht du doch hast.. Ja in 20 Jahren hat sich alles gewändet; Ob das alles zum Guten der Beteiligten gelaufen ist?;...
Du hast das alles hautnah miterlebt.
Liebe Grüsse
von
Old Papa Franky

 DanceWith1Life (07.05.08)
Bist du dir sicher, dass du das nur geträumt hast?
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