Über den Tod. Und das Leben

Essay zum Thema Tod

von  JoBo72

1. Mit an absoluter Gewissheit heranreichender Ahnung sieht der Mensch seinem Tod entgegen. Man sagt kurz: Der Mensch weiß, dass er sterben muss. Man nimmt an, dass ihn dieses Wissen von den anderen Säugetieren ausnimmt, eine Theorie, die im übrigen durch die Elefantenforschung ins Wanken geraten ist, da Elefanten in ihrem Umgang mit dem Tod eine gewisse Todesahnung vermuten lassen. Doch das ist nun nicht unser Thema. Es reicht, wenn wir uns darauf verständigen: Der Mensch weiß, dass er sterben muss.

Aus diesem Wissen seiner Endlichkeit entspringt gerade das Leben, ein Leben, das Sinn und Bedeutung hat – soweit das Leben überhaupt Sinn und Bedeutung haben kann. Eine paradoxe These, wie es scheint, läuft die Argumentation für oder gegen einen Sinn des Lebens doch häufig gerade umgekehrt: Ich frage, welchen Sinn mein Handeln heute hat, wenn alle Menschen, die heute leben, in 200 Jahren tot sein werden. Der Maurer in der Sinnkrise fragt, welchen Wert seine Arbeit letztlich hat, wenn das Haus, dass er baut, spätestens in 300 Jahren zerfallen sein wird. Und selbst der Philosoph, der es eigentlich besser wissen müsste, klagt darüber, dass seine Werke in 1000 Jahren nicht mehr gelesen werden können, weil das Papier die Druckerschwärze bis dahin nicht wird halten können.

Dabei stellt sich die Frage, warum eigentlich die Tatsache, dass die Welt in etwa 50, 60 Jahren ohne mich und die meisten meiner Zeitgenossen weitergeht, schwer zu ertragen ist, während achselzuckend die Tatsache quittiert wird, dass sie zuvor 15 Milliarden Jahre lang ohne mich und meine Familie, meine Freunde und meine Kollegen offenbar hervorragend auskam. Die Aussicht der durch den Tod herbeigeführten künftigen Nichtexistenz ist auf eine Weise beunruhigend, auf die es die vergangene Nichtexistenz vor der Geburt offensichtlich nicht sein kann. Es scheint also einen Unterscheid zu geben zwischen der Nichtexistenz vor dem Leben und der (physischen) Nichtexistenz nach dem Leben. Vielleicht ist es die Hoffnung auf ein wie auch immer geartetes transzendental organisiertes (psychisches) Weiterleben nach dem irdischen Leben, eine Hoffnung, die beinahe eine anthropologische Konstante darstellt, wie unter Punkt 5 noch zur Sprache kommen wird.

Ich möchte aber zunächst nicht weiter über ein Leben vor oder nach dem Leben spekulieren, sondern zu begründen versuchen, warum (irdisches) Leben nur angesichts des Todes sinnvoll ist.

2. Leben in Begrenztheit. Das Leben kann nur dann insgesamt eine Bedeutung haben, wenn die Handlungen in ihm nur begrenzt wiederholbar sind und damit jeder einzelnen Handlung eine Bedeutung zukommt. Leben ist also nur sinnvoll in seiner Begrenztheit, und der Tod setzt dem Leben diese Grenze.

Angenommen, ich könnte nicht nur einmal heiraten, sondern – wie gewisse deutsche Spitzenpolitiker und bestimmte nordamerikanische Filmschauspielerinnen – unendlich oft. Welche Bedeutung hätte dann die einzelne Eheschließung noch? Gar keine! Oder die seltenen Augenblicke des Hochgenusses – denken Sie sich etwas aus – kämen mit hübscher Regelmäßigkeit immer und immer wieder. Grauenvoll! Würde man tatsächlich noch für eine Prüfung lernen, die man unendlich oft wiederholen könnte? Wohl kaum! Daher würde man sie nie bestehen. Ein Paradoxon, aber es scheint: Leben kann im Unendlichen nicht gelingen.

Sicherlich: Es mag verlockend klingen und man sieht zunächst auch kein Problem darin, dass man ewig lebt und dabei beispielsweise doch noch mal erlebt, dass Hertha BSC Deutscher Meister wird. Doch muss man diesen Gedanken tatsächlich zuende denken. Es geht hier nicht um zusätzliche 1000 Jahre, die man lebt, was schon eine enorme Belastung wäre, sondern es geht tatsächlich darum, unendlich lange zu leben. Die Vorstellung von Unendlichkeit fällt uns – zugegeben – als endliche Wesen etwas schwer. Wir sind es gewohnt, bis zum nächsten Urlaub zu denken, nicht ins Unendliche. Doch stellen wir uns vor, wir müssten in den nächsten Jahren jeden Erdenbürger im Urlaub besuchen, also jedes Jahr einen anderen und immer wieder einen von denen, die im Jahre X gerade leben, dann können wir in grober Näherung die Bürde ermessen, die uns die Unendlichkeit auferlegt.

Wer nun diese irdische Unendlichkeit als logische Konsequenz des Gesagten grässlich findet, mag sich nun – um einen Fehlschluss auf die transzendente Unendlichkeit des Ewigen Lebens nach christlicher Vorstellung zu vermeiden – den eigentlichen Grund dieses fürchterlichen Langeweile, welche die irdische Unendlichkeit für uns bereit hält, vergegenwärtigen: Die endlichen Wahrnehmungskonfigurationen des Menschen. Umgekehrt wird es nur deswegen im Paradies, im Himmel, im transzendenten Ewigen Leben nicht langweilig, weil wir neue Wahrnehmungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt bekommen, die andere Optionen der Erfahrungsteilhabe an dem, was ist, eröffnen. Diese sind in unserem Raum-Zeit-Verständnis, von dem wir bei jedem Gedanken ausgehen müssen, nicht erfahrbar, auch nicht als Simulation.

Doch zurück zum irdischen Leben.

3. Leben in Erinnerung. Leben heißt Erinnerung schaffen. Sinnvolles Tun schafft Erinnerung, aber eben auch nur in dem Maße, in dem Begrenztheit und Zeitlichkeit die bestimmenden Größen sind.

Erinnerung wäre unmöglich, wenn sich die Dinge, die wir in der Rückschau wahrzunehmen pflegen, in der gegenwärtigen Ansehung und gleichsam auch in der Zukunftsschau erfahren ließen. Wenn ich beispielsweise bei einem Bier mich der Schulzeit entsinne, kann ich das nur entspannt tun, weil ich weiß: Sie ist vorbei und kommt nicht wieder. Ich werde nie wieder nach Lateinvokabeln gefragt werden und nie wieder muss ich an der Tafel binomische Formeln lösen. Der Triumph der Erinnerung ist das unerbittliche „Nie wieder!“.

In der Unendlichkeit ist das anders. Denn irgendwann muss es in der Unendlichkeit – endliche Zustände menschlichen Daseins und menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit (s.o.) voraus-gesetzt – wieder jenen Zustand geben, dessen ich mich nun erinnere, vorausgesetzt ich will nicht untätig sein. Und Untätigkeit als Notwendigkeit, das wäre die schlimmste aller Strafen.

Wenn ich also alle Studiengänge absolviert und alle Berufe jeweils 100 Millionen Jahre lang ausgeübt habe, sitze ich wieder auf der Schulbank; es muss so kommen. Halten Sie mir nun nicht die natürlichen Zahlen vor, die sich unendlich fortsetzen lassen und immer anders aussehen, die „Eins“ (Schulzeit) gäbe es nur einmal. Falsch, denn was sind die natürlichen Zahlen anderes als „Einsen“ (Schulzeiten): „Zwei“ ist ja nichts anderes als „Eins“ plus „Eins“, „Drei“ ist „Eins“ plus „Eins“ plus „Eins“, usw.

Erinnerte ich mich also bei der Zahl „Sieben“ an die „Eins“, so müsste ich feststellen, dass auch die „Sieben“ sich aus sieben „Einsen“ zusammensetzt und – weiter gedacht – dass alles, was ich noch von der Unendlichkeit zu erwarten habe, eine Verkettung von „Einsen“ ist. „Ewige Wiederkehr des Gleichen“, so hatte Nietzsche schon das irdisch-endliche Leben charakterisiert und damit Trostlosigkeit und Lebensverneinung ausgelöst. Die Unendlichkeit wäre demnach der Exponent der Lebensverneinung. Ursächlich dafür ist die Unfähigkeit zur Erinnerung im Unendlichen.

Damit ist m. E. n. schon hinreichend begründet, dass Leben nur angesichts des Todes sinnvoll ist. Und zwar insofern, als er nicht nur das irgendwann herbeigesehnte Ende des Lebens darstellt, sondern auch in Rückwirkung auf das Leben als Prozess erst zum Leben befähigt. In der Gewissheit des Todes wird Leben erst möglich.

Es bleibt aber ambivalent: Der Gedanke, dass der Tod als eigentlicher Lebensgarant fungiert, mag intellektuell noch so einsichtig sein, wenn man den Begriffen Begrenztheit und Erinnerung die ihnen gebührende Achtung schenkt. Es bleibt am Begriff des Todes aber die Angst, das Unangenehme. Lähmt uns das Wissen um den Tod nicht doch? Schleudert es uns nicht wieder zurück in die Abgründe der Verzweiflung? Wir sehen zwar mit der ratio ein, dass Lebenssinn nur endlich möglich ist, aber erschlägt uns nicht die Keule der irrationalen Gefühlswelt tief in uns letztlich doch mit der Endlichkeit des Lebens? Und liegt darin nicht gerade die Tragik unseres Daseins: Wir müssten eigentlich froh sein, schaffen es aber nicht, froh sein zu können?

Wir müssen einen Schritt weiter gehen und dem Tod gewissermaßen ein Weiteres abringen, etwas, das uns nicht zurückwirft, sondern unseren Lebenstrieb noch zusätzlich verstärkt, einen neuen Begriff, der von der Akzeptanz des Endlichen in die Schaffung von Kultur hineindeutet, gerade auch aus der Ambivalenz der Endlichkeitserfahrung, ja, gerade auch aus der Angst und dem Unangenehmen, das dem Gedanken an den Tod nun mal anhaftet, heraus. Dieser Begriff  lautet Ablenkung.

4. Leben als Ablenkung. Leben heißt eben vor allem Ablenkung. Wir lenken uns permanent ab, von dem Gedanken an den Tod. Wir komponieren Opern, bauen Häuser und gehen zur Love Parade, ins Fußballstadion oder auf die Universität, um nur ja nicht an den Tod denken zu müssen, der uns stetig näher rückt. Um dieses Näherrücken wissen wir ziemlich genau, wie ich oben bereits sagte. Auch dieser Text entstand letztlich aus der Wahl zwischen Nachdenken über den Tod oder Schreiben über den Tod. Ich entschied mich für das Schreiben, weil mir dabei das Ablenkungspotential größer erschien. Vielleicht gibt es ja jemanden, der diesen Text ließt, dann könnte man darüber sprechen und schon wieder wäre eine Stunde dem allgegenwärtigen Todesgedanken entrissen.

Wenn es mit der Ablenkung nicht mehr so gelingt wie sonst, steht er meist bedrohlich vor einem, der Tod, und setzt sich fest und häufig auch durch. Man kann ihm nichts mehr entgegensetzen, denn die Ablenkungsstrategie ist gescheitert. Er obsiegt. So geht es Menschen, die vom Rampenlicht in die Einsamkeit des Privaten straucheln, so geht es Managern nach der Entlassung, so geht es Examenskandidaten nach der Abgabe der Magisterarbeit. So geht es uns allen an Silvester oder am Geburtstag.

Nicht immer – das möchte ich festhalten – wird der Gedanke an Vergänglichkeit und Tod so stark, dass er den Denkenden zum Freitod treibt. Der Gedanke an den Tod mag obsiegen, nicht jedoch zwangsläufig damit auch der Tod selbst. Entscheidend dafür ob in Er obsiegt. mit „Er“ der Tod oder der Gedanke an den Tod gemeint ist, scheint mir der Umstand zu sein, wie schnell und wirkungsvoll wieder neue Ablenkungsstrategien gefunden werden. Je schneller, desto besser, denn je schneller, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Gedanke an den Tod in irgendeine selbstzerstörerische Tat umgesetzt wird.

Wenn es aber gar keinen Tod gäbe, gäbe es auch nichts, was Ablenkungsstrategien freisetzen würde. Das Leben hätte sein Feindbild verloren. Der Mensch müsste leben, ohne zu wissen, gegen wen oder was, außer gegen sich und das Leben selbst. Das ist schlechterdings nicht möglich, so wie ich nicht gegen mich selber Schach spielen kann. Der Mensch, das menschliche Leben braucht den Tod als Antipoden, so wie es das Gute nur angesichts des Bösen gibt und den edlen Spender nur aufgrund des elend Notleidenden, so wie im Drama dem hübschen Helden ein hässlicher Bösewicht an die Seite gestellt wird.

Letztlich entsteht Kultur also in Form der produktiven ablenkenden Handlungen, die nur Angesicht des Todes begangen werden. Wenn Sie mir bis dahin gefolgt sind, gehen Sie vielleicht auch noch bis zum Ende mit.

5. Das Todesinteresse. Denn ich möchte noch einen (letzten) Schritt weiter gehen und die Behauptung aufstellen: Der Tod ist eigentlich das Einzige, das den Menschen interessiert, so wie der Selbstmord nach Camus das einzige philosophische Problem darstellt. Es ist nicht nur die Existenzphilosophie, die sich mit dem Tod als „Grenzsituation“ (Jaspers) auseinandersetzt, nein: Nach Platon ist alles Philosophieren meléte thanátou – Vorbereitung auf den Tod.

Der Tod schwingt immer mit, auch und gerade dort, wo das pralle Leben herrscht. Und zwar, das ist jetzt das Neue, nicht nur als Gegenstück zu diesem Leben, passiv gewissermaßen, sondern ganz aktiv. Und dabei wiederum nicht nur als Letztbegründung, als Ursache, als Triebfeder unseres Tuns, sondern auch als dessen Motiv und Richtung.

Es gibt kaum eine kulturelle Leistung, die nicht mit dem Tod zu tun hat. Damit meine ich nicht nur die Requiems der klassischen Musik oder Bilder wie „Guernica“ von Pablo Picasso oder den Kriminalfilm, dessen Essenz im gewaltsamen Tode liegt. Nein, ich meine auch Schlager, die scheinbar unverdächtig von der Vergänglichkeit säuseln, ich meine Filme, in deren Verlauf irgendjemand stirbt, um der Protagonistin, dem Protagonisten neues Leben einzuhauchen und meine die großen Kathedralen, die mit ihren Türmen aufdringlich in Richtung Himmel weisen. Ob ganz direkt oder nur mittelbar: der Tod ist das Motiv des kulturschaffenden Menschen.

Es gibt keine Religion, die nicht wesentlich vom Tod handelt, meinethalben auch vom Leben nach dem Tod, aber eben auch vom Tod. Die größte Religionsgemeinschaft der Erde, das Christentum, hat denn auch das Kreuz zum Symbol erkoren, umgedeutet vom todbringenden Folterwerkzeug zum lebensspendenden Erlösungsinstrument. Religiöses Leben findet überhaupt nur statt unter Bezugnahme auf den Tod.

Grabstätten sind seit jeher wertvolle Zeugnisse unterschiedlichster Kulturen, häufig sind es gar die einzigen Zeugen vergangener Zeiten, denn bevor die Menschen Häuser, Bordelle und Universitäten bauten, hoben sie Gräber aus. Bevor sie über Kulturtechniken wie die Sprache oder die Arithmetik verfügten, organisierten sie Bestattungen. Sarg kam weit vor Wort und Zahl.

Ich komme zum Schluss. Der Tod schafft Kultur und ermöglicht Leben, auch neues Leben. Denn das würde – schon aus Sorge um den Platz auf der endlichen Erdoberfläche – im Bewusstsein ewigen Lebens nicht entstehen. Wer würde schon Kinder zeugen wollen, die dann ewig im selben Haus blieben oder zumindest in der gleichen Stadt. Nein, neues Leben würde nicht entstehen. Im Tod muss also Zerstörung und Schöpfung in einem gedacht werden, Anfang und Ende, als Gedanke der sinnstiftenden Bedeutung des Todes für unser Leben. Und sei dies auch nur ein Gedanke der Ablenkung.


Anmerkung von JoBo72:

Bei dem Text handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Version eines Beitrags für eine Tagung zum Thema Sterben und Tod (2004).

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Kommentare zu diesem Text

Caterina (46)
(19.09.08)
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 JoBo72 meinte dazu am 20.09.08:
Vielen Dank für Deinen ausführliche Kommentar und die vielen interessanten Fragen, die Du, liebe Caterina, darin aufwirfst! Ich hoffe, dass ich mal Zeit und Muße finde, auf den einen oder anderen Aspekt einzugehen, aber – wie wir wissen und auch zu schätzen wissen: Ars longa, vita brevis... Bis dahin die besten Grüße (auch an Deinen Sohn), Josef
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