Anhalten: Karl

Text zum Thema Aufbruch

von  Isaban

Lokführer lässt ICE stehen.
SIEGBURG (dpa) Ein Lokführer ist beim Stopp seines ICE auf offener Strecke aus dem Zug ausgestiegen und verließ die Strecke ohne jede Erklärung. Die Passagiere mussten fast eine Stunde auf einen Ersatz-Lokführer warten. Weshalb der Mann die Führerkabine verließ, war am Freitag noch völlig unklar.

 



Als er seinen Eltern zum ersten Mal von seinen Träumen erzählte, hatten sich Fleischermeister Otto Hahn und seine Gattin Hannah besorgt angesehen. Onkel Siggi. Ganz klar, ihr Karlchen war dem Bruder seines Vaters wie aus dem Gesicht geschnitten – und man wusste ja, wo sowas endet.

„Hast du schon mal eine Katze angezündet?“ fragte sein Vater bohrenden Blicks.
„Nein, Paps. Sie kommen immer nachts, wenn ihr schlaft, und sie stecken mir komische dünne Röhrchen in die Nase und in den Penis und letzte Nacht haben sie mich mitgenommen und als ich wieder aufwachte hatte ich Nasenbluten und schmutzige Füße.“

„Bei ihm fängt es früh an.“, wisperte die Mutter und wrang ihre Hände. „Achgottachgott, ich habe es immer gewusst. Wir müssen ihn zum Arzt schaffen, bevor er sich die Schafe und die Nachbarskinder vorknöpft. Vielleicht, wenn wir ihn im Keller anketten und nur nachts ab und an, und an der Leine...“

„Unsinn!“, knurrte ihr Mann zurück. „Du weißt doch, was die im Sanatorium mit Sigurd gemacht haben. Und was er vorher mit der Kleinen – Himmel, ich will gar nicht dran denken. Schwanz ab, das ist alles, was ich dazu sage. Schwanz ab und allen ist geholfen. Und sobald ich sehe, dass er um den Spielplatz rumschleicht – ich hab schließlich nicht ganz umsonst mein Handwerk erlernt!“
Mutters Augen wurden wässrig, aber nach zwei, drei tiefen, trostfernen Atemzügen gab sie einen tapferen Seufzer von sich, nickte und murmelte:
„Wat mutt, dat mutt.“

Karl sagte gar nichts mehr. Er mochte vielleicht seltsame Träume haben, aber doof war er nicht und selbst mit seinen grade mal elf Jahren kannte er alle bösen Geschichten, die sich um das schwarze Schaf seiner Familie rankten. Siggi Hahn, dessen Namen kaum jemals jemand laut aussprach. Der Unhold, der den Gerüchten nach den Nachbarshund gegessen, Omas Perserkatze abgefackelt, seine frühere Mathelehrerin in der Jauchegrube ertränkt, Unaussprechliches mit irgendwelchen sonstigen Vierbeinern getrieben und das kleine Mädchen von nebenan in seiner großen Gefriertruhe untergebracht hatte, weil die Kurze seiner Meinung nach das personifizierte Böse und eine Wiedergeburt Hitlers war.

Man hatte Sigurd lange Jahre weggesperrt, unter Tabletten gesetzt, kastriert, lobotomiert und therapiert und dann, als er endlich die psychiatrische Anstalt verlassen durfte, hatte er sich draußen nur kurz umgesehen und war dem Hörensagen nach anschließend sofort zum Rathaus gegangen und dort umgehend und mit einem lauten, jubelnden „Halleluja!“ vom Rathausdach gesprungen. Oder einfach verschwunden. Oder sowohl als auch. Da waren sich die Familienangehörigen mütterlicher – und väterlicherseits später nie wirklich einig.

Karlchen ahnte also, wie sowas endet und das veranlasste ihn dazu, fortan Kinderspielplätze weitläufig zu umgehen und ließ ihn schweigsam werden. Sehr schweigsam. Sehr, sehr schweigsam. Und unauffällig. Ohne größere Vorkommnisse kam er durch die Schulzeit, machte einen mittelmäßig guten Abschluss, wurde, als winzige Konzession an sein ewiges und nie ausgelebtes Fernweh, Zugführer. Da hatte er wenigstens das Gefühl, dass er die Fluchtwege kennen würde, wenn es denn mal wirklich nötig wäre. Und er wurde auch im mittleren Alter immer noch unruhig, wenn er seinen betagten Vater mit dem Fleischermesser hantieren sah.

Außerdem träumte er. Beileibe nicht jede Nacht, nicht einmal jede Woche, aber in regelmäßigen Abständen hatte er diese seltsamen, beklemmenden, verrückten Träume, von denen er keinem erzählen durfte. Träume von außerirdischen Wesen, die warteten, bis es dunkel wurde, ihn paralysierten, in ihr Raumschiff verschleppten, um seltsame, verrückte Untersuchungen an ihm vorzunehmen und die ihn pünktlich vor dem Weckerklingeln wieder in seinem Bett ablieferten, müde und zerschlagen, manchmal mit Nasenbluten, manchmal mit winzigen, runden Wunden  oder kleinen Schnitten versehen, als hätte jemand eine oder mehrere Biopsien vorgenommen, manchmal wachte er sogar mit dicken, blutigen Kratzern auf, mit rotverkrusteten Händen und dreckigen Füßen oder sogar vollkommen nackt, und das, obwohl er immer einen Pyjama trug, wenn er sich schlafen legte.

Doch er hatte sein Leben im Griff, mied Begegnungen mit Nachbarshunden, Verwandtschaftskatzen, kleinen Mädchen, Kühltruhen und Psychiatern. Er hatte es im Griff. Alles im Griff, im Griff, im Griff. Unsicher wurde er erst, als er begann, die Stimmen aus den Steckdosen zu hören. Erst nur aus den Steckdosen und später auch aus den Stromverteilerkästen an der Hauptstraße. Karl verstand nicht, was die Stimmen von ihm wollten. Aber dieses ewige erwartungsvolle Raunen, das drängende Nuscheln und Flüstern machte ihn nervös. Außerdem schien er in der letzten Zeit recht oft Nasenbluten zu haben, wenn er schlief. Sein Kopfkissen war beinahe jeden zweiten Tag mit rostbraunen Flecken gesprenkelt.

Langsam wurde es Herbst und in der Nachbarschaft wurde es anscheinend Mode, die Bäume am Straßenrand mit Fotos von verschwundenen Haustieren zu schmücken.
Es ging ihm gut, ziemlich gut, als die Stimmen zum ersten Mal aus der Zugelektronik zu ihm sprachen. Diesmal waren sie deutlich. Diesmal verstand er, was sie sagten.
„Sie kommen dich holen!“, raunten sie. Eine Warnung. Ein Versprechen. Und er hatte alles im Griff. Er kannte die Strecke. Er wusste schließlich, wo sowas endet. Alles im Griff. Alles im Griff, alles im Griff.

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(11.12.08)
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 AZU20 (11.12.08)
Wirklich gut, aber das mit dem Anhalten wird wohl nicht klappen. LG

 Didi.Costaire (11.12.08)
Eine sehr spannende, tiefgehende und insbesondere zwischen den Zeilen heftige, bildreiche und Fantasie anregende Geschichte, in der nur das Thema "Aufbruch" relativ ist, liebe Sabine!

Der Name Karl hört sich alt an und ich stelle ihn mir so alt vor, wie ein ICE-Fahrer eben sein kann (ich weiß nicht recht, ob die Bahn alte Zausel kurz vor der Pensionierung noch ganz vorne sitzen lässt). Wie dem auch sei, er hat wohl lange Zeit gekämpft und gelitten, um schicksalhaft vorgegebenen fürchterlichen Wesenseigenschaften nicht hervorbrechen zu lassen, dabei sogar nächtens seinen eigenen Körper schützend vor sich selbst geworfen. Doch irgendwann war der Straßenrand doch mit den Fotos verschwundener Haustiere gesäumt - eine Formulierung, die mir in ihrer Subtilität besonders gefällt - und Karl steigt auf seine Art aus.

Figuren wie Karl - lebende Zeitbomben, wie sie auch in der Realität nicht so unzahlreich vorkommen.

lg, didi
Steinwolke (65)
(11.12.08)
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Caterina (46)
(11.12.08)
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 Reliwette (12.12.08)
Ja ja ja, Silbenfee, schaurich,traurich - aber: ein ICE kommt selten von der Strecke ab, das mag die Reisenden trösten.
Bedenklich wird es, wenn solche Menschen die Regierungsbank drücken.......

Gut gemacht- summa cum laude!
Aus dem Norden winkt:
Der alte Kunstmeister
Elvarryn (36)
(17.03.09)
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KoKa2110 (42)
(07.05.10)
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