Als Leonore flog

Erzählung zum Thema Traum/ Träume

von  Secretgardener

.
.
.

Fliegen wollte sie; davon träumte sie immer.
Mit ihren kleinen Händen faltete sie Papierflugzeuge – so wie es ihre Mutter ihr einmal gezeigt hatte – ging auf den Balkon mit ihnen, ließ sie fliegen und träumte ihnen hinterher. Sie zeichnete manchmal kleine Menschen auf die Flugzeuge, oder auch andere Tiere. Auch neue Modelle bastelte sie, aus ihrer Phantasie, doch nur wenige flogen. Und manchmal fuhr sie mit dem Fahrstuhl nach oben und ging aufs Dach, ohne daß jemand es bemerkte. Sie breitete die Arme aus, wenn es windig war und schloss die Augen. Manchmal drehte sie sich auch dabei und stellte sich vor, auf einem hohen Berg zu sein, und die Wolken zogen durch ihr Haar.
Aber nur vorstellen war ihr nicht genug. Sie traf Vorkehrungen um wirklich zu fliegen, nur in der Luft, ohne Boden unter ihren Füßen. Immer, wenn ihr Essen ins Zimmer gebracht wurde, frug sie, wann es denn endlich so weit sei. „Bald“ bekam sie immer als Antwort, „bald Leonore“. Nachts lief sie durch die Wohnung, wieder mit geschlossenen Augen, nur im Nachthemd, streifte im Vorbeigehen über Wände, Stühle, Bilder und allem, was sie in ihrem Fluge passierte; während ihre kleinen Füße auf dem Linoleum 2 Vögel waren, die sie an jeder Seite begleiteten und ihr immer wieder zuriefen, wie toll sie doch flöge. So berührten ihre Finger immer wieder Baumkronen und Dächer, denn sie liebte es auch tief zu fliegen, da man so die Geschwindigkeit besser spürte. Am liebsten über die leere See, unglaublich schnell und gerade einmal weniger als einen halben Meter über dem Wasser. Und dabei steckte sie gerne einen Finger ins Wasser und blickte hinter sich um die Fontäne zu sehen, die sie erzeugte.
Ein Ziel hatte sie nie. Ihr war das Wo wichtig, nicht das Wohin. Im Winter flog sie nicht nach Afrika ins Warme, im Sommer nicht nach Italien. Vielmehr über Berge und Täler, vorsichtig durch Wälder, seit kurzer Zeit auch ganz behutsam durch Tunnel Canyons, oder auch rücklings über Wiesen; wonach sie die Blumen aus ihrem Haar wusch, im See. Ihr Essen nahm sie nur noch verringert auf. Sie wollte leichter und leichter werden, damit sie ihr optimales Fluggewicht erreichte. Auf fiel es niemandem, da niemand sich um sie kümmerte. Nur, wenn man ihr ihr Essen brachte, fielen ein paar Worte; die sie nicht mehr erreichten, auf den rotschwarzen Teppich. „Mein Leben ist nicht leicht“ sagte sie sich, als ihre dünnen Finger die große Waage rausholten, die unter dem Badschrank stand, „da muß ich es wenigstens sein“. Sie wog sich jeden Tag, doch hatte auch hier kein Ziel, denn, wenn sie ehrlich war zu sich selbst, was wusste sie schon über Physik, über Auftrieb und Aerodynamik? So aß sie weiter und weiter weniger und weniger, und weiter und weiter fiel es weniger und weniger auf.
So vergingen ihre Tage, bis sie den einen fand, auf den sie schon so lange wartete. Es war warm, doch windig, fast stürmisch, der Morgen würde in Kürze über sie hereinbrechen. Und sie fasste Mut. Gestern Abend sah sie sich Bilder an, von ihrem besten Freund, der ihr alles bedeutete, und der vom einen auf den anderen Tag nicht mehr an ihre Türe klopfte. Das Letzte, das er zu ihr sagte war „Morgen sitze ich wieder im Flieger, es wäre schön, wärest Du auch da“. So nahm sie ihren Mut, steckte sich ein Bild von ihm unters Nachthemd, direkt aufs Herz, ging in den Fahrstuhl und drückte mit ihrem Ellenbogen - damit es keine Fingerabdrücke, keine Spuren gab - wie so oft die 21, zog die schwere Leiter herunter, ging aufs Dach und schaute in den noch dunklen Himmel, flüsterte ein „Heute…heute“ in den Wind und kletterte auf die Brüstung; der raue Boden drückte sich in ihre Knie. So stand sie da, mit fest ausgebreiteten Armen, festem Blick und spürte, wie ihr Hemd und Haar im steifen Gegenwind flatterten. Ihr Entschluss war so wenig zu brechen wie ihre Liebe zu ihrem Freund. So lief sie an, rannte immer schneller, so schnell sie konnte, keuchte und stieß sich endgültig vom Rande ab.
Sie fühlte sich frei, als sie um sich herum nichts mehr außer Wind spürte. Schloss die Augen und genoss das Gefühl. Sie fühlte sich so fern der Welt, und dabei so eng ihrem Freund, daß sie weinte. Sie weinte für die ganze Dauer ihres kurzen Fluges und lächelte dabei.
Als der Morgen völlig hereingebrochen war, fand man sie schließlich, mit einer letzten Träne und einem milden Lächeln auf dem Gesicht. Das Einzige, was den anderen dazu und zu ihr einfiel waren die Worte, in Stein gemeißelt, „Hier ruht Leonore Sophie Bellarue, kinderlos, 74 Jahre alt“.
.
.
.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text

Steinwolke (65)
(11.01.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Secretgardener meinte dazu am 12.01.09:
Hey, das freut mich, daß es so anscheinend ganz genau so rüberkam, wie es geplant war.
Die Idee mit dem Alter und dem Freund kam mir spontan (wie die Idee mit dem Fliegen), und die Hinweise sollten dann auch auf alte Leute passen, und umso weiter man hinten ist, umso weniger kindlich werden die Anzeichen.
Ja, ihre Motivation war der Traum.
Vielen Dank und liebe Grüße.

 Unbegabt (12.01.09)
du weißt ja was ich davon denke.

und ja: es ist genauso rübergekommen. :)

(nur ums nochmal zu sagen *g)

 Secretgardener antwortete darauf am 12.01.09:
Das freut mich. =)
Danke.
thammü (22)
(03.02.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Secretgardener schrieb daraufhin am 03.02.09:
Hab´ Dank für das Lob.

 Jorge (10.02.09)
Sehr spannungsvoll geschrieben. Anfangs denkt man an ein junges Mädchen mit Bulämie und wird dann schlicht aber zielstrebig der träumenden alten Frau gewiß.

 Secretgardener äußerte darauf am 10.02.09:
Auch hier danke für das Kompliment.
Bulemie ist mir noch gar nicht in den Sinn gekommen, passt aber. Schön, wenn man zielstrebig merkt, daß es doch kein Mädchen sein könnte.
Ja, die Menschen waren gewollt, sind ja auch nur Tiere (biologisch gesehen, soll keine Philosophiedebatte werden ^^), mit dem Komma hast Du Recht, wäre mir dort sicher nicht aufgefallen.
Viele Grüße.
Cocco (32)
(12.02.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Secretgardener ergänzte dazu am 12.02.09:
Hej,
erstmal großen Dank für das ganze Lob; der Text hier floß zwar nicht einfach so raus wie z. Bsp. die Mina. Aber schön, wenn er denn so gut rüberkommt und die Idee mit dem Alter immer klappt (das war auch eine zufällige Idee beim Schreiben).
Liebe Grüße auch Dir.
The_black_Death (31)
(14.02.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Secretgardener meinte dazu am 14.02.09:
Danke, auch für die Empfehlung.
Viele Grüße zurück.
Elvarryn (36)
(15.02.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Secretgardener meinte dazu am 15.02.09:
...da es schon etwas Spaß macht, kann man es ruhig Pointe nennen. ^^
An der Stelle überlegte ich auch beim Schreiben mit dem Komma...ich glaube die zweite Variante trifft es eher; also auch das Tieffliegen, nicht nur fliegen allgemein, wird geliept.
"Frug" sagt man so in Ich-Mag-Alte-Worte-Hausen und Der-Reiz-Des-Ausgemusterten-Dorf. ;)
Viele Grüße.

 SunnySchwanbeck (21.02.09)
Wow.
Wirklich ein toller Text :o
vorallem der Satz :
während ihre kleinen Füße auf dem Linoleum 2 Vögel waren, die sie an jeder Seite begleiteten und ihr immer wieder zuriefen, wie toll sie doch flöge.
Wie schon die anderen gesagt haben, ich dachte auch die ganze Zeit es wäre ein kleines Mädchen und irgendwie war Leonore auch eins, zumindestens in ihrem Kopf.
Wunderbares Ende, konnte mir richtig vorstellen wie sie weinend durch den Morgen flog.

lg
Sunny :)

 Secretgardener meinte dazu am 21.02.09:
Hej,
danke für das ganze Lob. Freut mich sehr, dabei ist der hier für mich noch nichtmal der Beste der Neuen (wäre es zuviel Werbung, wenn ich "Mina" erwähnte? ^^).
Was mich aber besonders freut ist, daß Du den Satz mit den Vögeln so gut findest (ich musste erstmal schauen, ob "flöge" richtig ist, es klingt so schräg), danke. :)
Ja, im Kopf war sie immernoch das kleine Mädchen, das einfach nur fliegen möchte.

Liebe Grüße zurück, A..
Cat (21)
(07.03.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Secretgardener meinte dazu am 08.03.09:
Erst einmal danke für das Lob und die Empfehlung.
Nun ja, ich denke, es war ein schönes Ende eines Lebens, das viel vermisste.

Und ja, man fragt sich öfter, von wem man eigentlich gekannt wird, und auch, ob man will, daß die Leute einen wirklich kennen - denn das tiefste Innere will man ja auch nur von seinen engsten Freunden gekannt wissen.
Es gab da in Bremen jemanden, der starb in seiner Wohnung und 7 Jahre lang lag er tot in seiner Wohnung (er trocknete schnell aus, sodaß es nicht roch), und niemand bemerkte es - alleiner kann man kaum sein.

Ich werfe Dir mal eine Packung Taschentücher, auch, aufdaß sie als Stopper für die Dominos dient.

Liebe Grüße und Danke für Deine Kommentare.
muse (22)
(15.03.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Secretgardener meinte dazu am 16.03.09:
End-geil. ;)
Danke.
Liebe Grüße zurück, A..

 mondenkind (15.03.09)
ich bin froh, dass ich endlich die zeit gefunden habe, den text mit der aufmerksamkeit zu lesen, die er verdient.
und es bleibt mir nur eins zu sagen: schoen, wirklich wunderschoen geschrieben. :)

 Secretgardener meinte dazu am 16.03.09:
Ja, ich sah Dich in letzter Zeit öfters hier rumtigern...
Vielen Dank für das schöne Kompliment.
Grüße.

 tueichler (03.06.09)
Klasse Geschichte! Eben ein Traum, der wahr wird. traurig schön und doch nicht bedrückend.

Schöne Grüße,

Tom :)
Snow (18) meinte dazu am 03.06.09:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Secretgardener meinte dazu am 03.06.09:
@tueichler
Danke für´s Kompliment. Am Ende dann nicht bedrückend, aber irgendwie schon finde ich. Man weiß nicht, was Leonore alles erlebte, daß sie nach all den Jahren immernoch diesem Freund nachtrauert, was hat sie nie erleben dürfen...? Das ist das, was mich am meisten interessieren würde.

@snow
Dir natürlich auch danke für das Lob und die gleich 2 Empfehlungen. Es macht mich dann schon ein bißchen stolz, wenn meine Texte solche Gefühle auslösen ("Ich wußte nich einmal..." *hust ^^).
So im Nachhinein bin ich echt froh, daß mir das spontan einfiel (Nicht denken, schreiben! sag ich immer) mit dem Alter, das sollte zuerst ohne das Suggestive werden. Ich mag´s, wenn man Sachen entdecken kann in Werken.
Für´s Thema Träume bin ich wahrlich kein Experte, aber ich stimme Dir schon zu.
Liebe Grüße vom Überraschten,
A..
Songline (45)
(15.01.10)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Secretgardener meinte dazu am 15.01.10:
Danke für´s Lob und die Empfehlung.
Ja, sowas muss man leise erzählen, damit es wirkt. Der Spung sollte mehr schmerzlich sein, nicht mit Schrecken verbunden; die Sehnsucht sollte man in ihr erkennen.
"Manche Menschen verschwinden einfach." ist ein passendes Zitat dazu...
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram