7
 Inhalt 
9 
 7
9 

8

Erzählung zum Thema Zukunft

von  bluedotexec

"Wenn ich Menschen aus den Systemspeichern lösche, bringe ich sie doch nicht um!" Sagte Gee empört.
"Hast du noch nie darüber nachgedacht?"
"Nein, wieso auch? Es sind nur PKZs, nur Zahlen."
Cab lächelte.
"Genau darum wird es niemals zu einer vollendeten Einheit zwischen Mensch und Maschine kommen. Du machst immer noch einen Unterschied zwischen beidem. Ein Mensch ist etwas, das du auf der Straße treffen kannst. Eine PKZ ist eine Zahl, die in den Nacken lasertätowiert wird. Richtig?"
"Ja."
"Nein. Nicht für das System. Für das System ist das Löschen einer PKZ gleichbedeutend mit dem Löschen einer Entität. Wenn du eine PKZ löschst, muss die Person nie mehr arbeiten gehen, muss nichts mehr tun, was das System von ihm verlangt. Er ist frei."
"Ja, das weiß ich."
"Im System gibt es keinen Platz für Freiheit. Das System arbeitet gegen das Prinzip der Freiheit. Es vernichtet sie systematisch, wenn mir der Witz gestattet ist. Sieh, eine PKZ benötigst du jedes Mal, wenn du mit dem System in Kontakt treten willst. Um dich zu ernähren, um zu überleben, in einer Wohnung, mit fließendem Wasser und Dusche, brauchst du eine PKZ. Wenn du keine mehr hast, kannst du nicht mehr einkaufen! Du kannst nichts mehr essen. Und selbst wenn du es könntest, du hättest keinen Zugang zu einem QickVic, der es dir zubereiten könnte. Du kannst vermutlich nicht kochen."
"Kochen?" Gee blinzelte. "Das ist eine thermische Zustandsänderung. Flüssig ins Gas."
Cab lachte. "Ja, Gee. Und es ist das Zubereiten von Lebensmitteln unter Einfluss von Hitze. Kochen eben. Wie auch auch immer." Er wurde wieder ernst. "Ohne PKZ hast du keinen Zugang mehr zu Lebensmitteln, Verkehrsmitteln, Wohnungen oder überhaupt Gebäuden. Du lebst auf der Straße."
"Aber wieso sind die Straßen dann nicht voller Leichen? Wieso sieht man das Elend nicht, wenn es doch da ist?"
"Nun, in einem totalitären, komplett computergesteuerten System kann es keine Gesetzesbrüche geben. Es ist unmöglich, etwas absichtlich falsch, gegen die Vorschriften zu machen, aus zwei Gründen: Erstens, niemand weiß überhaupt, dass es andere Möglichkeiten gibt. Niemand wird morgens aufstehen und seinen QickVic zertrümmern oder seinen Orga-Bot von der Decke reißen, obwohl es niemals jemand heraus finden würde. Der Mensch ist psychisch zu solchen Handlungen nicht in der Lage, weil er nicht weiß, dass es ihm möglich ist.
Der zweite Punkt ist, dass man unweigerlich für jedes noch so kleine Delikt vernichtet wird. Du schläfst in der M-Rail ein - verpasst deine Station. Deine PKZ wird eine Woche gesperrt. Oder hast du wirklich geglaubt, du bekämst eine zweite Chance, wenn du deine Haltestelle verpasst? Du hast eine Woche keinen Zugang zu Lebensmitteln, Wasser oder Lebensräumen. Du stirbst. Das einzige, was dir das System nicht sagt, sind die Konsequenzen dessen, was dir droht. Und die Menschen sind zu hirnfaul, um das zu begreifen."
Cab legte Gee die Hand auf die Schulter und drehte sie um.
"Komm, wir sind mit unserem Rundgang noch nicht fertig. Es gibt noch etwas, das ich dir zeigen muss, aber ich finde es angenehmer als das hier. Außerdem ist es für solch eine Unterhaltung ein geeigneterer Ort als das Leichenlager."
Cab schloss die Stahltür.
"Aber wieso gibt es denn nun keine Leichen in den Straßen?"
"Ach, das war, worauf ich ursprünglich hinaus wollte. Also. Die Polizei - was sollte sie schon tun? Sie vernichtet systematisch alle Menschen, deren PKZ gelöscht wird. Das tut sie nicht sofort, sondern unauffällig. Einem VLM wird die PKZ entzogen, also zieht er durch die Straßen. Den meisten fällt erst auf, was der Verlust der Kennziffer bedeutet, wenn sie sich den Scanner im Supermarkt an den Nacken halten. Die Polizei wird ihn bald liquidieren, unauffällig, und seine Leiche über die Brüstung einer Plattform werfen."
"Plattform?"
"Ja. Nun, Gee, diese Stadt da oben steht nicht auf dem Boden. Sie hängt in der Luft, die M-Rail-Stationen und das, was man in Fahrstühlen als 'Erdgeschoss' bezeichnet, liegt etwa 90 Meter über dem tatsächlichen Erdboden. Und unten landen die Leichen. Zerschmettert."
"Und wo sind wir dann?"
"In einem nicht mehr verwendeten U-Bahn-Schacht unterhalb der letzten M-Rail-Ebene. Die M-Rails überbrücken größere Entfernungen, indem sie durch den Plattformboden bis nach unten fahren und die U-Bahn-Tunnel benutzen. Was die Tunnel angeht, die wir bewohnen, nun... Sie werden druch den Fahrwind der M-Rails belüftet, und im Moment befinden wir uns unter etwas, das sich Hudson River nennt."
Sie durchquerten die Halle der Freiheit und landeten wieder in dem U-Bahn-Tunnel. Cab führte Gee weiter in den Tunnel hinein. Nach einigen Minuten Fußweg erreichten sie wieder eine Wartungstür in der linken Seite des Schachts. Ein lautes, dumpfes Dröhnen war zu hören, gepaart mit einem tiefen, schnellen Wummern. Cab stieß die Tür auf.
"Das hier ist das Herz unseres Asylums. Hörst du seinen Herzschlag?"
"Ich höre ohrenbetäubenden Lärm."
"Genau. Das hier sind unsere Generatoren, sie erzeugen den Strom für die Beleuchtung und alles andere, was hier unten Strom benötigt."
"Strom?"
"Oh mein Gott. Es ist jedes Mal wieder ein Schlag, zu erfahren, wie wenig euch das System bei bringt." Er schloss die Tür wieder.
"Ohrenbetäubender Lärm, meine Liebe. So selten es auch vorkommt, aber manchmal trifft man auf Dinge, die genau das sind, was sie vorgeben zu sein. Dies ist eines davon. Es klingt laut und mächtig, und genau das ist es auch."
"Wohin gehen wir jetzt?"
"Jetzt gehen wir, um bei den Metaphern zu bleiben, ins Gehirn unserer kleinen Welt." Sie setzten ihren Weg durch den mittlerweile nur noch schwach beleuchteten Gang fort.
"Wir haben jetzt fast drei Kilometer zu Fuß zurück gelegt. Ich glaube, deine Beine machen langsam schlapp, oder?"
Tatsächlich spürte Gee einen ungewohnten Druck in den Beinen, ein Gefühl der Rastlosigkeit, das trotzdem irgendwie Rast forderte.
"Es ist unangenehm."
Nun, du wirst dich daran gewöhnen." Cab ging unbarmherzig weiter, aber er wurde eine Spur langsamer. Sie erreichten die nächste Tür, diesmal auf der rechten Seite. Dahinter lag wieder ein schmaler langer Gang, und hinter der Tür am Ende die nächste Überraschung. Die ganze Halle, die etwa 40 Meter im Durchmesser maß, war gefüllt mit Regalen aus einem seltsamen Material. In den Regalen standen tausende Bücher.
"Das, kleines Kind, ist das gesammelte Wissen der Menschheit bis zu dem Punkt, an dem das System es geschafft hatte, die Existenz von Büchern komplett zu unterdrücken. Erst als die ersten Menschen begannen, diesen Ort aufzubauen, wurden wieder welche geschrieben. Größtenteils philosophische, einige auch über das System. Es wurden Theorien zur Subversion geschrieben. Die beiden Regale ganz links," er deutete auf die betroffenen Reihen, "sind nur mit Büchern aus dieser Zeit gefüllt. Dann kommt dystopische Science-Fiction - glaub mir, es ist unglaublich, diese Bücher zu lesen, du wirst noch sehen, wieso. Es folgt Neo-Philosophie, die aus den Dingen entsprungen ist, die wir hier erleben. Dann kommt die alte Philosophie, Religionen und so weiter, und dann kommen Sachbücher. Das letzte Regal ganz links enthält Romane, Erfindungen. Bildende Unterhaltung, etwas, in dessen Genuss du noch nie gekommen bist. Ich hingegen bin froh, dass sie euch immerhin noch das Lesen beibringen."
Sie verließen die Bibliothek wieder.
"Jetzt zeige ich dir nur noch dein Quartier, dann darfst du dich erstmal ausschlafen. Die ersten paar Nächte werden nicht so, wie du es gewohnt bist. Du wirst Schwierigkeiten beim Einschlafen haben, weil du kein Schlafmittel mehr nehmen wirst, und du wirst träumen."
"Träumen?"
"Du wirst Dinge wahrnehmen, die dir dein Gehin vorspielt, während es die Erlebnisse des Tages verarbeitet. Du wirst während des Schlafes geistig so reagieren, als wärst du wach. Nun, zumindest wirst du das glauben. Es ist ein völlig normaler Prozess, und die meisten der Bücher da drin enthalten Dokumentationen darüber. Keine Sorge."
Cab durchquerte den Tunnel und betrat eine Tür auf der anderen Seite.
"Eigentlich müssten wir einen Tunnel tiefer gehen und unter dem parallel verlaufenden Schacht hindurch laufen, es ist einer der Druckschächte. Darin herrscht ein warmer Wind, weil der gesamte Fahrtwind der M-Rails zur Belüftung hindurch geblasen wird."
Er öffnete die Tür. Tatsächlich blies ein Luftstrom hindurch, aber er war nicht so stark, dass er an der Kleidung zerrte.
"Wow." Stieß Gee hervor. Der Wind war leicht, locker, er glitt um sie herum und schmeichelte ihrer Haut, sie spürte sein Kitzeln sanft auf der Haut, wie er Wärme und Geborgenheit sezernierte und trotzdem unverändert weiter segelte. "Es ist so... ich weiß nicht."
Cab lächelte sanft. "Ja, ich mag es hier auch. Man bekommt das Gefühl, zu schweben. Man möchte nicht mehr gehen."
Gee begann zu begreifen, was Cab meinte. Das hier war wirklich schöner als das Leben dort oben. Solche Dinge konnte man dort nicht spüren.
"Wieso vernichtet ihr das System nicht einfach?"
Cabs Blick wurde ernst.
"Das System ist eine Wahrheit. Es hat sich selbst zur Wahrheit gemacht. Zwar ist es eine gelogene Wahrheit, aber es hat die gleiche Größe wie eine wahre Wahrheit. Um etwas von dieser Größe umzustürzen, braucht es die Kraft vieler Menschen. Das System ist groß, der Mensch ist klein. Wenn wir alle zusammen arbeiten würden, könnten wir das System innerhalb weniger Minuten vernichten, ja. Aber wir sind nicht in der Lage dazu. Vielleicht sind wir es irgendwann. Vielleicht niemals. Solange musst du lernen, zwischen den Wahrheiten zu leben. Die Situation kann angenehmer werden, sie kann humanisiert werden, aber sie wird sich nicht ändern. Solange es so ist, wirst du dich gut fühlen, besser als bisher, aber du wirst mit dem Gedanken leben müssen, dass Unrecht geschieht." Cab bückte sich. Am Boden lagen viele dunkle Steine, von denen er einen aufhob.
"Schau. Ein Mensch allein, ohne Glauben, ohne Ziele, ist wie dieser Stein." Er ließ ihn los. "Du wirst zwar in beiden Wahrheiten existieren, aber irgendwann kommst du wieder unten an." Dann griff er in seine Manteltasche und holte einen kleinen, symmetrischen grünen Fetzen hervor.
"Das ist ein Blatt. Von einem Baum. Du wirst auch Bäume sehen. Als Mensch in diesen Zeiten musst du sein wie dieses Blatt."
Er ließ es los, und der sanfte warme Wind erfasste es, trug es wirbelnd fort, hinein in den Tunnel, bis Gee es nicht mehr sehen konnte.
"Ein Blatt im Wind. Sieh, wie es dahin gleitet. Es schwebt immer weiter, ungeachtet der Tatsache, dass du es beobachtest, gleitet es immer weiter. Es schwebt rastlos durch die relative Luft. Genau so musst du sein, wenn du beide Wahrheiten gelernt hast. Du darfst dich nicht auf eine von ihnen festlegen. Gleite, kleine Gee Pax. Gleite zwischen den Wahrheiten und mit dem Wind."


Anmerkung von bluedotexec:

Zum ersten Mal eine bewusste Anleihe aus "Serenity"...

 7
 Inhalt 
9 
 7
9 
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text

Angelika Dirksen (62)
(08.05.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 bluedotexec meinte dazu am 08.05.09:
Ich bin nicht so sehr der Fan von der heutigen Science-Fiction im Stil von Star Wars, Star Trek, Perry Rhodan und so weiter. Ich mag die klassische Science-Fiction, die immer um die im Vordergrund stehende Komponente Gesellschaftskritik erweitert war, sehr viel lieber. DU weißt schon, Stanislaw Lem, Arkadi und Boris Strugatzki... letztere sind übrigens die großartigsten SciFi-Autoren, die der Erde je zu tragen erlaubt waren. Die sind so toll.

Auf jeden Fall - ich bin auch nicht jeder Roman^^. Ich gebe mir Mühe, und wenn dieser gut ankommt, kriege ich vielleicht auch irgendwann eine Veröffentlichung in Gang, vielleicht ja sogar diesen hier...^^
Elvarryn (36) antwortete darauf am 08.05.09:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 bluedotexec schrieb daraufhin am 08.05.09:
Nun, ich wüsste nicht, wieso sie es nicht tun sollten. Solange du die Rechte am Text behältst (Und das tue ich bei allem was mir heilig ist - meine Texte sind meine Seele, und die lasse ich mir nicht nehmen) kannst du damit machen, was du willst. Ich bin aber kein Fachmann, deswegen frag lieber so einen^^
PS: Außerdem musst du ja nicht erzählen, dass du deine Texte auch alle ausnahmslos online stellst^^
(Antwort korrigiert am 08.05.2009)
Elvarryn (36) äußerte darauf am 08.05.09:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Angelika Dirksen (62) ergänzte dazu am 09.05.09:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 bluedotexec meinte dazu am 09.05.09:
Hmm... unsere ist eine aussterbende Kunst, hm? Zumal anscheinend der Teil schon tot ist, der sie überhaupt zur richtigen Kunst werden lässt, es geht ja nur noch um Vermarktung.
Ich würde mit meinen Romanen nicht mal Geld verdienen wollen, es ist mir völlig egal. Es geht mir nicht um Geld.
Elvarryn (36) meinte dazu am 10.05.09:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram