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Erzählung zum Thema Zukunft

von  bluedotexec

Gee sprang hinter Cab her in die Dunkelheit. Sie hätte eigentlich warten sollen, bis man sie aus der M-Rail geholt hätte. So war es ihr beigebracht worden, und bisher hatte sie diese Lehre nicht im Stich gelassen. Doch Cab wirkte, als wüsste er was er tut. Außerdem war er ein Wächter.
"Ausgezeichnet. Diese Tunnel sind alte U-Bahn-Schächte. Wir müssen weiter." Cab zog sie hinter sich her, weg von der M-Rail, weg von der in der Dunkeheit leuchtenden Tür. Für Gee war die Dunkelheit kein Problem, obschon sie nichts sehen konnte, wusste sie, was sie tat und wohin sie trat. Der Mensch war ja nicht von seinen Augen abhängig. Cab hingegen stolperte hin und wieder, einmal lief er sogar fast gegen die Magnetspur der Züge.
"Also, Gee." Begann er. Gee sah ihn nicht, sie hörte nur seine Stimme in der Dunkelheit vor ihr.
"Du bist G33X-P4X. Bis zum heutigen Tag war dein Leben langweilig und vom System bestimmt."
"Ich wüsste nicht, was ich daran ändern sollte. Es geht mir gut. Es ging mir gut, bis du mich entführt hast."
"Du glaubst, es ging dir gut. Man hat dir auf der Schule beigebracht, dass das System den Menschen am Leben hält und zu seinem Schutz dient, dass es die Sicherheit gewährleistet und unfehlbar ist. All das ist eine riesige Lüge, und du wirst bald erkennen, was ich meine."
"Das System kann nicht fehlbar sein. Es funktioniert tadellos, und..."
"Ich weiß, was du sagen willst. Du wirst sagen, dass du in der Schule gelernt hast, dass das System, solange es dir gut geht und du lebst, tadellos funktioniert. Dadurch, dass das System einzig an dein Überleben gebunden ist, machen sie dir die Birne weich."
Gee fühlte sich angegriffen.
"Das System hat schon immer tadellos funktioniert. Das System hat den Menschen erschaffen und es erhält ihn am Leben."
"Nein. Das ist nicht richtig. Das System ist fehlbar, und soll ich dir sagen, warum? Weil Menschen fehlbar sind. Zumindest, solange sie als Menschen existieren und nicht als Maschine."
"Mensch und Maschine sollen eins sein, aber sie sind es nicht."
"Auch das ist nicht richtig. Der Mensch hat die Maschine einst erschaffen, und die Maschine funktioniert nicht ohne ihn. Ich sagte ja schon, nichts von dem, was du glaubst zu wissen, ist die Wahrheit."
Cab blieb stehen. Er tastete sich an der Wand entlang, bis er um eine Ecke griff. Sie glitten in eine Nische, und er bückte sich, um eine Luke im Boden zu öffnen.
Blendendes Licht strömte in den Gang und erhellte schlagartig alles. Gee hatte einen Ort wie diesen Schacht noch nicht gesehen. Die Wände waren nicht weiß, sondern von einem brackigen Rotton. Sie waren nicht polymerisiert, sondern aus einzelnen Steinen zusammen gesetzt.
"Was ist das hier?" Fragte sie, und sie spürte, dass die bis hierher glücklich verbannte Panik sie wieder zu übermannen drohte.
"Wie schon gesagt - nichts von deinem Wissen ist wirklich wahr. Es gibt auf diesem Planeten zwei Wahrheiten. Es gibt die Wahrheit des Systems - und es gibt die Wahrheit des Menschen. Und an dieser Stelle fangen wir an, dir die zweite davon nahe zu bringen. Was du siehst, ist kein steriler weißer Gang, sondern ein uralter Tunnel. Nicht seit Anbeginn der Zeit rasen M-Rails hier hindurch, im Gegenteil. Er wurde vom Menschen gebaut, damit elektrische Züge hindurch fahren können. Mit Rädern statt Magneten."
"Nein, nein, nein. Das ist unmöglich."
"Du wirst sehen, dass es stimmt."
Cab schwang sich auf die Leiter und stieg hinab. Gee folgte ihm aus Mangel an Alternativen.

Abermals betrat sie eine neue Welt. Diesmal jedoch wirklich. Es war ein Tunnel wie der, aus dem sie kamen, aber er war beleuchtet mit Neonröhren. Überall standen Menschen, hunderte von ihnen. Sie unterhielten sich, sie hielten sich nicht an das Protokoll, das das System von ihnen verlangte. Es gab Männer mit langen Haaren und Frauen mit kurzen, einige Frauen trugen Hosen statt Röcken, manche Männer hatten merkwürdige, in Rottönen karierte Röcke an statt der erforderlichen Normhosen in blassem Blau. Und es roch seltsam, nicht unangenehm, aber seltsam. Das mochte daran liegen, dass Gee noch nie einen Geruchseindruck hatte erhaschen dürfen.
Und es war laut. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Die Geräuschfetzen rissen ihren Verstand auseinander, ließen ihn zu kleinen Krümeln zerfallen. Jeder sprach, wie es ihm gefiel, zu laut, zu leise, was auch immer.
"Wo sind wir hier?  Bitte, Cab! Lass mich zurück gehen! Ich will nicht hier bleiben, Cab!"
Cab schmunzelte.
"Willkommen im Asylum, wo alle Aussteiger landen werden. Willkommen an dem Ort, an dem du endlich beginnen wirst zu leben."
"Ich lebe! Ich habe 21 Jahre lang gelebt, bis du kamst!"
"Nein." Korrigierte Cab. "Du hast existiert. Du hast nicht gelebt. Das ist der nächste Punkt, den du lernen wirst. Das System unterscheidet nicht zwischen Leben und Existenz. Während die Existenz nur einige Kriterien erfüllen muss - Bewusstsein, Lebensfunktionen, Handlungsfähigkeit - ist das Leben von so unendlicher Komplexität, dass ein paar Tage nicht ausreichen, es dir zu erklären. Aber ein essentieller Bestandteil des Lebens ist etwas, das du bisher nicht erfahren hast. Selbstbestimmung."
"Das System sagt, dass der Mensch nicht in der Lage ist, selbst zu bestimmen, und dass er untergeht, wenn er es tut!"
"Ach, kleines Kind. Und der Beweis liegt vor dir. Sieh' dich um. Jeder dieser Menschen hat gelernt, was du gelernt hast. Jeder von ihnen bestimmt sein Leben selbst. Ja, viele von ihnen haben auch mir schon die Dinge gesagt, die du sagst. Und noch eines hast du mit ihnen gemeinsam. Jeder von ihnen durfte seinen Orga-Bot mit einer persönlichen Begrüßung programmieren."
Darum also ging es.
"Du hast mich entführt, weil ich einen einzigartigen Gen-Abschnitt habe?"
"Man könnte es so sagen. Aber jetzt komm mit. Ich muss dir etwas zeigen."
Cab ging am Rand des Tunnels entlang. Die Menschen nahmen keine Notiz von ihnen, oder sie ignorierten sie, auf jeden Fall taten sie etwas, das Gee vertraut war, und das gab ihr ein gutes Gefühl.
Cab ging immer weiter im Tunnel entlang. Langsam standen weniger Menschen hier, bis sie nur noch vereinzelt auf jemand anderes trafen. Dann bogen sie in eine Nische ab, gingen durch eine Tür und standen in einer riesigen Halle. Sie war nicht komplett beleuchtet, menschenleer und die Luft war trockener als anderswo. Außerdem war es still hier.
Gees Blick blieb am Mittelpunkt des Gewölbes hängen. Dort lag etwas, angestrahlt von rings herum stehenden Scheinwerfern. Es war groß, ziemlich groß sogar. Und scheinbar aus Stein. Sie trat näher.
"Ja, kleines Kind. Sieh' sie dir an. Betrachte sie ruhig."
Gee ging dichter an das Gebilde. Es hatte definierte Konturen, klare Linien, feine Reliefs und Erhebungen bildeten eine Form.
"Es ist ein Kopf. Ein riesengroßer Kopf." Hauchte sie leise.
"In der Tat. Er stammt von einer Statue, die ebenfalls riesig war, bis man sie abgerissen hat."
Gee berührte die kalte Oberfläche des monolithenhaften Steinkopfs.
"Er ist unsauber gearbeitet. Er hat Kanten, Ecken, es fehlen Stellen oder es ist an anderen Stellen zu viel da."
Cab trat langsam von hinten an sie heran. Das Licht erhellte seine Statur.
"Richtig. Völlig richtig. Dieser Kopf stammt von einer uralten Steinfigur. Sie stand einmal am Anfang der Stadt, im Wasser, bis man dort auch Hochhäuser hin gebaut hat. Die Person, die sie darstellt, ist die Göttin der Freiheit. Sie hat kleine Fehler und Macken, wie du sagst, weil sie nicht vom System geschaffen wurde. Sie wurde von Hand gebaut, von Menschen. Ein Mensch hat sie konstruiert, viele andere haben sie aufgebaut, zusammengezimmert und ihre Gesichtszüge nachgebildet. Ihren Namen weiß ich nicht, aber das ist egal."
Gee starrte das Gebilde an. Das System konnte es nicht erschaffen haben, das war nicht zu leugnen. Das System kann keine Fehler machen.
"Aber wie soll sie von Menschen gebaut worden sein? Es gibt im System keinen Platz dafür."
"Stimmt. Aber es gab den Platz früher einmal." Dann erhob er seine Stimme. "Diese Statue beweist zweifelsfrei, dass das System nicht schon immer existiert. Im System ist kein PLatz für die Kunst. Das System kann keine Kunst erschaffen, weil Kunst Fehler machen bedeutet."
Gee konnte es nicht leugnen. Sie konnte sich der Logik nicht verschließen, der Cab sie gerade aussetzte. Wie ein Strom Wasser, der in eine Toilette floss und den Syphon durchspülte, musste sie die Dinge akzeptieren. Sie war ein Mensch. Sie lebte in einer Lüge. Sie war Teil dieser Lüge.

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Kommentare zu diesem Text

xijlwya (30)
(10.10.09)
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