Schnitte in Fleisch

Kurzgeschichte zum Thema Bahnhof

von  RainerMScholz

Es war novemberkalt; ein scharfer Zugwind wirbelt schmutzige Papierknäuel, graue zirrhotische Staubkumulationen, rosa zerrissene Plastiktütenfetzen über die wilhelminisch gepflasterten Flure, Treppenaufgänge hinunter, die Gleise entlang, zwischen denen grauschwarze Nager auf der Suche nach Nahrung dahinhuschen; Neonlichter zucken und flackern, leuchten widerwillig auf in der einbrechenden Dämmerung, die die Menschen auf dem Bahnsteig in diffuse Schemenhaftigkeit taucht, ihre Gesichter stiehlt, das Grau der Mäntel und gummiartigen Überwürfe zerfließen lässt in der Anonymität einer nicht determinierten Einheit eines Stilllebens aus filigranem Porzellan.
Ich stehe in der bewusstlosen Zusammenwürfelung der Wartenden, die stumm mit den Füßen scharren, in versteckte Winkel des geschwärzten Dachgewölbes starren, der Einfahrt des Zuges entgegenharren; nicht eigentlich schweigend ist sie, die Menge, eher verhalten murmelnd und kakophon summend, wie katatonische Rinnsale vergessener, eingestürzter Stollen. Mausgraue Tauben fliegen einzeln, dann in Trauben über den Köpfen der wartenden Passagiere, landen zwischen ihren Beinen und Gepäckstücken, zwischen den Bänken, Telefonzellen und Müllbehältern, begafft von Kindern, die mit Fingern auf sie deuten, und witternden Hunden. Mit ihren verkrüppelten, wie abgehackt erscheinenden, unberingten Krallenfüßen stolpern sie über den Steig, auf der gurrenden Suche nach Brot- und Dreckkrumen; dann plustert sich ein Tauber geil auf, um eine rasche Kopulation zu vollziehen, und die Kinder zeigen und lachen.
In einem hell erleuchteten Winkel der Bahnhofsvorhalle zelebrieren uniformierte Musiker der Heilsarmee ihre sklerotische Sinfonie schriller Zimbel- und Trompetenlaute, untermalt von dem Tröten einer verbeulten Tuba und dem lauen Bumsen einer Persiltrommelpauke. Eine resolut auftretende pummelige Mittfünfzigerin dirigiert das Orchester, das bigotte Erbaulichkeiten zu intonieren versucht, um schwache Seelen zur Umkehr zu bewegen, die nebenan im Rotlichtbezirk ihre leiblichen Qualen beenden möchten, oder eine Grundlage für dieselben schaffen. Aus der Distanz ist es wie das Röcheln und Pfeifen alter Dampflokomotiven, Kreischen von Eisen auf Eisen, das Aneinanderschaben von Metall, das Aufeinanderprallen der Wagons.
Ich zünde eine Zigarette an und inhaliere tief, stoße den Rauch eisenlungenzitternd in die kalte Bahnhofsluft, blicke den Bahnsteig entlang: die grauen Menschen, die hämmernde, gleißende Maschine.
Neben einer gelben Telefonzelle windet sich eine Frau unter Schmerzen inmitten der sie umgebenden Menschen. Ihr gerötetes Gesicht ist zu einem grotesken Grinsen verzerrt, sie umfasst ihren Leib mit den Armen, als wollte sie den Schmerz nicht hinauslassen, in sich bergen, verstecken. Sie trägt einen weiten schwarzen Faltenrock, der ihre Beine im Zugwind umschlingt wie ein fest gewickeltes Tuch. Leise dringt ihr Wimmern und Schluchzen durch die Dialektik der Geräusche und Sprachmodulationen des Bahnhofsgewölbes. Als harrten sie alle entschlossen einzig der Ankunft des Zuges, achtet niemand auf die Frau, die am Rand des Steigs steht und ihren Schmerz in spasmodischen Zuckungen zelebriert. Eine rote Lache dunklen Blutes glänzt jetzt zu ihren Füßen. Das entfernte Donnergrollen der Eisenbahn durchfährt die Körper der Wartenden, ein sanftes Vibrieren knapp unter der Schädeldecke, ein Erschauern den Rücken hinab wie leicht fallender Nieselregen. Die Frau blutet sehr stark, ein stummes Keuchen öffnet ihr Gesicht zu einem monströsen faltigen Krater. Dann stürzt ein zuckendes Fleischding klatschend zwischen ihren Beinen hervor. Das Neugeborene zappelt, verbunden durch die Nabelschnur, noch an der Nachgeburt. Blind und taub und mit den Resten der schleimigen Fruchtblase noch bedeckt, schreit es nicht, als die Mutter das Kind mit einem schwachen Zucken ihres Beines auf die Schienen tritt. Der Zug fährt ein. Das schreiende elektrische Eisenungetüm überrollt die gerade auf die Welt gebrochene Neugeburt, dessen Knochen schon zertrümmert sind. Das Kind öffnet die Augen und erblickt die riesigen Metallräder, die es zerschneiden und zerstückeln und auslöschen von einem Augenblick zum anderen, von einer Welt zur nächsten. Und keiner aus der Masse sah eigentlich, was geschah. Der Schaffner pfeift, der Mann mit der Zeitung faltet diese zusammen, jemand wirft eine leere Dose in den Müll, eine Mutter nimmt ihre Kinder an die Hand. Die Tauben fliegen hoch. Eine Durchsage aus den Lautsprechern gibt das Ziel der Reise an. Dann reißt das stumme Fleisch in Stücke, rollt darüber hinweg, begräbt es unter der Masse seines gigantischen Körpers.
Die Menschen drängten zu den Türen, stießen mit anonymen Gesichtern aneinander, um in das Innere des Zuges zu gelangen oder aus ihm hinaus. Die Türen schlossen sich und der Bahnhof schien in einer Verlassenheit zu strahlen, die der Leere der Herzen gleichkommt.


© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text

Elvarryn (36)
(13.06.09)
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 RainerMScholz meinte dazu am 14.06.09:
Muss ich drüber nachdenken. Verpflanzen heißt streichen, oder?!? Danke für den Kommentar.
Grüße,
R.
Elvarryn (36)
(14.06.09)
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The_black_Death (31)
(15.06.09)
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 RainerMScholz antwortete darauf am 16.06.09:
Tut mir leid.
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