Die folgenden Tage darauf verlaufen ähnlich. Ich betrete die Bücherei und früher oder später sehe ich dieses wunderschöne Mädchen mit ihren sanft traurigen Augen, wie sie mich mustert, wenn ich ihr mit ihren Büchern helfe.
Sie redet nicht viel, aber allein schon ihre Anwesenheit beruhigt mich.
Als ich am für mich letzten Tag die Bücherei besuche, steigt in mir unwillkürlich dieses dummsinnige Gefühl des Abschieds hoch, das ich mit zwei schweren Schlücken hinunterwürge.
Und doch kommt das Mädchen heute nicht.
Ich sitze dort zwei Stunden und pumpe unnützes Wissen in mich hinein und mit jeder Minute schrumpft meine Hoffnung, dass sie doch noch auftaucht mehr, bis schließlich nur noch ein kümmerlicher kleiner Haufen übrig ist. Ich seufze betrübt, schlage mein Buch zu und rücke meinen Stuhl zurück.
Ist ja auch nicht so schlimm, dann ist sie heute eben mal nicht da. Vielleicht hat sie was zu tun, denke ich, doch dann höre ich, wie die Pforten der Bibliothek schwungvoll aufgerissen werden, ein Windstoß über die toten Buchrücken fegt und sich die Tür nicht ganz so laut wieder schließt. Ich höre schweres Atmen, blicke in vertraute braune Augen, sehe vom Wind zerzaustes Haar. Gebannt schlage ich mein Buch wieder auf, rücke näher an den Tisch heran und kann meinen Blick nicht abwenden. So unperfekt, so menschlich und weniger verschlossen kam sie mir noch nie vor. Dann sieht sie mich und lächelt unbestimmt.
Ich weiß, dass sie froh ist, dass ich noch hier bin.
Noch völlig außer Atem aber sichtlich erleichtert gibt sie das Buch vom Vortag ab und macht sich dann mit außergewöhnlich leichtfüßigen Schritten auf den Weg und, zu meiner Verwunderung, auf einen anderen.
Etwas beschämt geht sie den Gang entlang, die zarten Finger miteinander verschränkt und auf ihrer Lippe kauend. Als sie vor meinem Tisch steht, kann ich nicht mehr tun, als sie mit purer Verblüffung anzusehen, als sie sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht streicht und ganz leise und mit ihrem wunderbaren, ganz eigenen Charme „Hallo“ sagt.
„Hallo“, erwidere ich.
„Ich will nicht unhöflich sein… aber ich dachte mir, vielleicht könnten wir zusammen lernen, ich meine… Na ja. Ich glaube, du lernst auch für Geschichte, oder? … Es… war nur so eine Idee… Ich hab mir vielleicht gedacht… Hm…“ Ihre zarte Stimme verstummt und sie beißt sich auf ihre Lippe. Ihre Augen verraten mir, wie viel Überwindung sie das hier kostet. Eine simple Frage an einen simplen Typen wie mich. Aber vielleicht war ich das nicht für sie.
„Setz dich doch“, beeile ich mich zu sagen und ich rutsche ein Stück nach links, um ihr Platz zu machen.
Anfangs reden wir nicht viel, wir beide sind angespannt und nervös, ich sogar vielleicht mehr als sie und doch, nach vielen Minuten und Kapiteln sind wir irgendwo verloren zwischen Worten und Sätzen, mit denen das mittlerweile geschlossene Geschichtsbuch nicht annähernd etwas zu tun hat.
Irgendwann, als die Sonne die Bücherei mit orangeroten Strahlen flutet, sieht sie erst aus den weißgerahmten Fenstern und dann auf ihr Handgelenk, an der sie gleich hinter einer pinken Schleife eine Uhr trägt. Sie lässt die Schultern hängen, streift mich mit einem halb entschuldigendem und halb sehr traurigem Blick.
„Ich muss gehen.“, sagt sie und die Worte scheinen tonnenschwer über ihre Lippen zu fallen, die plötzlich erstarren und so aussehen, als ob sie längst noch nicht alles gesagt hätten. Sie wartet ab, denkt nach und schließt sie dann wieder fest zusammen, als ob sie die Worte in ihrem Mund einsperren wolle. „Tut mir leid“, bringt sie noch heraus.
Sie packt ihre Sachen zusammen, schultert ihre Taschen und als sie aufsteht, tue ich es ihr gleich.
Sie mustert mich, hebt dann in einer abwinkenden Geste beide Hände und lächelt überrumpelt.
„Oh… Du… musst mich nicht begleiten, keine Angst, ich –“
Ihr Protest verstummt, als ich meine Arme um sie schließe und sie fest halte.
Einen Moment lang tut sie nichts, sie steht regungslos da, so schwach und zerbrechlich und völlig ohne Schutz, wie ein fragiles Kunststück, bis sie ihre Hände auf meinen Rücken legt und ganz sachte an mir lehnt, während ich meine Nase in ihrem Haar vergrabe und mich nicht traue, mich zu bewegen. Gott, ich will nur für ewig mit ihr hier stehen bleiben, mich nichtmehr rühren und nur zuhören, wie ihr Atem langsamer wird und sich beruhigt. Dieses sachte Zittern spüren, ihre Stirn an meiner Schulter, so nah aneinander, dass ich meine, ihren Herzschlag zu fühlen.
Als wir uns nach vermeintlichen Stunden wieder loslassen, werfen die Bücher um uns herum lange Schatten auf den Boden.
„Morgen“, sage ich.