Kampfansage

Roman zum Thema Ende

von  Mutter

Die beiden Rettungssanitäter haben Dirty innerhalb kürzester Zeit in den Krankenwagen verfrachtet – ohne, dass er uns ohnmächtig wird.
„Fährst du mit?“, frage ich Manu erneut und halte ihr die Schlüssel hin. „Dirty wird ins Urban gebracht. Das ist nicht so weit.“ Sie nickt. „Soll ich dir nicht noch mit Tiger helfen?“
Eigentlich will ich sie wegschicken – mich alleine um den Jungen kümmern. Keine Ahnung, warum ich dabei lieber alleine wäre. Vielleicht weil ich mich dann weniger beobachtet fühlen würde. Aber ich sage: „Wartest du kurz, ob ich ihn runter bekomme?“
Sie willigt ein, und ich gehe zurück nach oben. Nehme Tiger entschieden an der Schulter, helfe ihm hoch. Er lässt es zu – lässt sich von mir führen wie ein Kind.
Nebeneinander gehen wir die Treppe runter, während ich ihn weiter halte. Ihn damit gleichzeitig steuere, schiebe und festhalte.
Unten wartet Manu. Während sie uns beobachtet, gehen wir die langgezogene Treppe runter, dann über die Wiese, bis wir neben dem Clio stehen. Ich öffne Tiger die Tür und Manu hilft mir, ihn auf den Sitz zu bugsieren. Danach schnalle ich ihn an, während ich mich über ihn beuge. Und versuche, seinen Gestank zu ignorieren. Endlich winde ich mich aus dem Wagen und schlage mit einem letzten Blick auf den gesicherten Tiger die Beifahrertür zu. Spüre Manu neben mir und drehe mich langsam zu ihr um.
„Was ist?“, fragt sie, als sie meinen Blick bemerkt. „Machst du dir Sorgen? Um mich?“
„Ich habe den Kerl schwer verletzt, aber der ist irgendwo. Und wir können uns nicht sicher sein, ob …“
„Ob was? Ob er nochmal kommt, um mich auch noch zu holen?“
„Sowas in der Art, ja.“
Sie betrachtet Tiger, der ruhig und mit gefalteten Händen im Schoß im Wagen wartet. Als hätte er alle Zeit der Welt. Als sei er sicher.
„Ich glaube nicht, dass mir eine Gefahr droht, wenn du Tiger mitnimmst.“
Überrascht sehe ich sie an. „Wie meinst du das?“
Offenbar unsicher, wie sie es erklären soll, streicht sie sich die Haare hinter die Ohren. Ich liebe diese Geste. „Der Schlüssel zu diesen Morden ist Tiger – es dreht sich immer alles um ihn. Offenbar ist sein Vater eine Art Psychopath, der ihn zwanghaft kontrollieren muss. Seinen Umgang mit Frauen kontrollieren muss?“ Sie sieht mich an.
„Das ergibt Sinn, ja. Möglicherweise ist es eine Form von krankhafter Eifersucht. Vielleicht kann er seinen Sohn nicht teilen.“
„Irgendwie scheinen die beiden eine Art chemische Reaktion bei dem Vater auszulösen – also Tiger und die Frauen.“
Es tut mir weh, so neutral über Luisa zu reden. Als sei sie einfach nur eine von Vielen. Ich zwinge mich, meinen Schmerz, meinen Ekel und meinen Widerwillen zu schlucken.
Manu zuckt mit den Schultern. „Wenn du Tiger mitnimmst, findet keine Reaktion statt.“
„Halt trotzdem die Augen auf, in Ordnung?“ Sie verspricht es mit einem Nicken.
Ich begleite sie zu meinem Motorrad. Ich halte den Helm, sehe zu, wie sie aufsteigt. Wir umarmen uns kurz etwas umständlich, weil sie die Maschine zwischen den Beinen halten muss. Als ich mich gerade von ihr lösen will, nimmt sie mit beiden Händen mein Gesicht und zieht mich zu sich herunter. Sie küsst meine Stirn. „Pass auf dich auf, Luca Monteleone“, sagt sie mit einem Lächeln. Und sieht mich dabei an, als müsse ich tatsächlich Angst haben, sie nicht wiederzusehen. „Ich fahre kurz in seine Wohnung und hole Sachen. Melde mich, wenn ich im Krankenhaus etwas erfahre.“
Verblüfft entgegne ich: „Ich habe keinen Schlüssel zu seiner Bude. Du wirst erst ins Urban fahren müssen.“ Mit einem Grinsen zeigt sie mir einen Schlüsselbund – ich erkenne die nackte Frau aus Silber, die daran hängt. Seinen Handschmeichler, nennt Dirty sie.
Statt ihr meinen Helm zu reichen, setze ich ihn ihr auf – sie lässt es geschehen. „Bis bald“, sage ich mit einem Lächeln, das sich gezwungen anfühlt. Ihrs scheint echt, als sie mich ein letztes Mal am Arm drückt und dann den Motor startet. Kurz darauf reitet sie über die Wiese Richtung Friedrichshain davon.
Mit dem anderen von Dirtys Schlüsseln in der Hand gehe ich in Gedanken zurück zum Clio. Tiger und das LKA. Versuche mir auszumalen, was jetzt passiert. Wie sie mit ihm umgehen werden, welche Fragen sie stellen. Und viel wichtiger: Was für Antworten sie erhalten werden.
Ich gleite in den Sitz neben Tiger. „Allet schick?“, frage ich gekünstelt, bereue es aber sofort, als Tiger meinen Spruch nur quittiert, indem er weiter ins Leere starrt. Ich starte den Wagen, rolle vorsichtig Richtung Straße. Wir müssen Richtung Osten, über Treptow fahren. Selbst so bin ich mir nicht mal sicher, ob ich mir mit Dirtys tiefergelegter Karre nicht unten eine Ölwanne oder einen Spoiler abreiße.
Ich bewältige den Weg, bis ich wieder Asphalt unter den Breitreifen habe, ohne einen Schaden und fahre dann zügig Richtung Innenstadt. Zwischendurch schnappe ich mir das Handy und wähle Wehmeiers Nummer.
„Herr Monteleone.“
„Tiger ist hier bei mir.“ Am anderen Ende ist Stille. Ich kommentiere das mit einem Seitenblick auf meinen desinteressierten Beifahrer.
„Wo sind Sie?“
„Keine Sorge, wir kommen vorbei. Sind auf dem Weg.“
Ich kann förmlich spüren, wie er protestieren will. Die Kontrolle an sich reißen und mir sagen, ich soll bleiben, wo ich bin. Aber das macht offensichtlich wenig Sinn, wenn ich mich in einem fahrenden Auto und er sich in seinem Büro befindet.
„Also gut. Wie lange brauchen Sie noch?“
„Keine zwanzig Minuten mehr.“ Ich lege auf. Sehe erneut rüber zu meinem Beifahrer. „Ich bin ja mal gespannt, was du denen erzählen wirst, Tiger“, sage ich - mehr zu mir selbst als zu ihm.
„Er beobachtet mich“, kommt die Antwort zurück. Mit dieser gepressten, erschreckten Stimme. Als würde man das Grauen nie wieder aus ihm herausbekommen – zu fest verwurzelt ist es in jeder Faser seiner Körpers. „Immer hat er alles gesehen – ich habe keine Kraft mehr gehabt. Konnte nicht mehr weiterlaufen, verstehst du das denn nicht?“
Ich sage ihm, dass ich das gut verstehen kann. Um ihn zu beruhigen. Meine Finger umklammern das Lenkrad, bis die Knöchel sich weiß färben. 
„Auch jetzt weiß er genau, wo ich bin.“
Das nützt ihm aber nichts. Weil der Pisser eine fünfzehn Zentimeter lange Klinge von mir in den Bauch gestoßen bekommen hat, denke ich mit zusammengebissenen Zähnen. Laut frage ich: „Hast du ihn reingelassen? In unsere Wohnung? Damit er Luisa abschlachtet?“ Ich weiß, dass ich gar nicht mit ihm reden sollte. Dass die Gefahr, ihn noch weiter zu verstören, seine Verstockung zu verstärken, zu groß ist. Ihm dem Psychologen überlassen. Aber es fällt mir schwer.
„Ich war schon auf der Flucht. Und wollte nicht – wollte zu niemandem.“
Seine Worte treffen mich mit solcher Wucht, fühlen sich so physisch an, dass ich fast das Lenkrad verreiße. Er hat Recht. Hätte ich nicht darauf bestanden, ihn mitzunehmen, wäre Luisa nichts passiert. Niemand hätte sie umgebracht. Ich habe Tiger und den Tod in unsere Wohnung gebracht. Wie bei einem plötzlichen Regenschauer sehe ich nichts mehr. Tränenblind verschwimmt meine Sicht. In dem Moment ist es mir egal – wir rauschen im Verkehr die zwei Spuren am Wasser Richtung Potsdamer Platz entlang, und wenn vor uns jemand voll in die Eisen steigen würde, wäre mir das vermutlich sogar recht.
„Shhhhhhh …“, macht Tiger. Seine Hand berührt meinen Arm. „Wir konnten uns nicht wehren. Noch  nie. Es ist immer schon so gewesen.“
Ich zwinkere die Tränen weg. Nehme nicht an, dass Wehmeier begeistert wäre, wenn er von einer Streife die Info bekäme, dass ich seinen Hauptzeugen wegen eines Heulkrampfes bei einem Unfall verletzt oder getötet hätte.
„Warum tut er das? Warum tötet er all diese Frauen?“, frage ich mit ganz leiser, versteckter Stimme. Als dürfe man die Frage nicht stellen.
Tiger antwortet nicht. Gelassen sieht er vor uns auf die Straße.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

FliegendesOink (27)
(27.08.10)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Mutter meinte dazu am 27.08.10:
Wegen des Themas? :D
Nein, keine Sorge ...
Iss noch nich soweit.

Zum Tiger: Hmmmm ...
Fahrscheinlich hast Du recht. Ich überprüf das noch mal, eventuell isser da wirklich zu flapsig.

Danke. :)
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram