Bad Doberan und Heiligendamm - Erinnerungen I

Tagebuch zum Thema Kinder/ Kindheit

von  tulpenrot

Bad Doberan und Heiligendamm - Erinnerungen I

 

Ein Teil meiner Erinnerungen verbinden sich mit „der Molli“, einer Schmalspurbahn, die keuchend und signalpfeifend durch den Ort Bad Doberan bis an die Osteeküste zuckelt. (Wir nannten sie „die Molli“ – wohl von „die Molli-Bahn“, obwohl ich inzwischen weiß, dass die Bahn offiziell „der Molli“ – vielleicht von „der Molli-Zug“? - heißt). Ich sitze als kleines Kind  im Waggon auf einer harten Holzbank und überlass mich den typisch rhythmischen Geräuschen eines fahrenden Dampfzuges, wenn er über die Gleisschwellen ruckelt. Die Fensterscheiben klirren im Takt mit. Man kann sie an Ledergurten hinunterlassen oder hochziehen, je nach "Luftbedarf", und auch mit Hilfe der ausgestanzten Löcher in der gewünschten Höhe an einer Schraube arretieren. Für mich konnte es nie luftig genug zugehen in diesem Zug. Es ist wieder ein heißer Sommer. Ich bin mit meinen Eltern und mit meiner Großmutter unterwegs an den Strand. Der Großvater ist zuhause in seiner Arztpraxis geblieben und versorgt die Patienten. Ihn umgibt immer ein strenges Geheimnis, was seine Tätigkeit betrifft. Ich muss immer ganz still in diesem großelterlichen Haus sein. Aber das fällt mir nicht schwer. Ich hatte zu dieser Zeit noch keine Geschwister.

 

Wie laut damals die Züge waren! Und zugig während der Bahnfahrt! Trotzdem finde ich es als Kind immer aufregend und einfach schön, mit der Bahn unterwegs zu sein, wohin und wie lang auch immer. Die Waggons der "Molli" haben offene Perrons. Während der Fahrt dort zu stehen und den Fahrt-Wind zu spüren, ist für mich als Kind natürlich verboten. Stattdessen sitze ich artig zwischen den Erwachsenen im Innern. Es riecht nach Seeluft und Sand, nach Sonne und Sonnenmilch. Dieser Geruch kommt uns verheißungsvoll entgegen, als wir auf der Hinfahrt einsteigen, und begleitet uns auf der Rückfahrt vom Strand bis zum Bahnhof in Bad Doberan. Ein  bisschen riecht es im Moment zusätzlich auch nach Gummi, denn neben mir auf der Holzbank liegt mein grünes Gummi-Krokodil, das dann am Strand von Heiligendamm stramm aufgeblasen werden wird. Es soll mir helfen schwimmen zu lernen.

 

Ich mag es nicht besonders, meine Furcht vor der Ostsee, ihren Wellen, vor dem grünen Modder und den dunkelbraunen Fangarmen des Tangs an den Buhnen, die meine Beine umschlingen, wenn ich ins Wasser springen und schwimmen lernen muss, überdeckt jedes sonstige Gefühl. Schwimmen lernen müssen, im Wasser sein, ist kein Spaß für mich. Ich bin ein „Bangbüchs“, habe Angst vor allem, was mir da in der unergründlichen, undurchdringlichen Tiefe unvorbereitet begegnen würde. Aber das Krokodil soll mein Freund werden. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob ich es überhaupt liebhaben will. Es ist so hart und glatt, so unnahbar. Wenn ich mich an seinen Beinen festhalten will, klappt sein Körper hoch und versperrt mir die Sicht. Und es schwimmt dann nicht mit mir in dieselbe Richtung, sondern liegt quer zu mir auf dem Wasser. Das stört mich jedes Mal und bereitet mir Unbehagen. Mein Vater ist ein guter Schwimmer und er will, dass seine Tochter das für ihn Natürlichste auch lernt. Schwimmen gehört einfach zum Leben dazu, wie Schreibmaschine schreiben. Eine Frau muss Schreibmaschine schreiben und schwimmen lernen, ist seine Devise, damit sie durchs Leben kommt. Beides habe ich mit mäßigem Erfolg betrieben. Ich bin trotzdem durchs Leben gekommen.

 

Es gibt ein Kinder-Foto von mir am Strand von Heiligendamm, auf dem ich weine und die Familie drumherum ungerührt zuschaut oder sich sogar amüsiert. Man erkennt zum Beispiel meinen Onkel, den Bruder meiner Mutter, wie er mich ganz ungeniert auslacht. Mich wundert bis heute, warum dieses lächerliche, abscheuliche Bild die Zeit bis heute überdauert hat. Welchen Wert hat es gehabt all die Jahrzehnte über?

Ein anderes Foto zeigt meine Eltern, wie sie mich als etwa 2- Jährige an ihren Händen zwischen sich über die heranrollenden Wellen der Ostsee halten. Ich ziehe voller Abscheu vor dem Wasser die Beine an und strampele schreiend. Meine Eltern haben wenig Verständnis für ein solch empfindsames Kind. Was sie für richtig halten, wird gemacht. So werden sie mich später in unserem damaligen Wohnort zu einem Schwimmkurs im Hallenbad anmelden. Der Schwimmlehrer wird uns  Anfänger in den ersten Stunden vom Beckenrand einfach ins Wasser schubsen. Zwar haben wir brett-artige Schwimmhilfen, die wir mit beiden Händen umklammern, wir werden auch nicht ertrinken, aber mich ängstliches Kind hat diese Vorgehensweise  zu Tode erschrocken. Erst als ich verheiratet war, lernte ich durch meinen Mann, der ein begeisterter Jollensegler war, mich einigermaßen gut im Wasser zu bewegen und sogar zu tauchen. Aber ich habe das Schwimmen trotzdem nie richtig  genießen können, es ist bis heute immer mit Unbehagen verbunden.

 

Nun zotteln wir also mit der Bahn an den Strand. Das Schönste am Strand ist der Strandkorb. Es gibt ja keinen Sand an diesem Teil der Ostsee, in dem man bequem liegen oder mit dem man eine schützende Sandburg hätte bauen können, sondern die Küste ist voller Steine, der Gang ins Wasser mühsam und schmerzhaft, weil man oft unversehens gegen einen spitzen Stein stößt. Meine Großmutter geht deshalb mit Badeschuhen ins Wasser. Der Strandkorb ist das einzig Angenehme an dieser Sache. Etwas Heimeliges hat er an sich, riecht nach Sonne und Sand und Meer, bietet Schutz vor Wind und unliebsamen Beobachtern beim Umziehen. Ich sitze gerne darin. Bis heute.

 

Ein Foto zeigt meine Mutter im schwarzen Badeanzug, wie sie sich auf die Armlehne des Korbes in Szene gesetzt hat. Sie hält einen Kamm in der Hand, um damit ihr kurzes lockiges Haar im Wind zu bändigen und hinter das rechte Ohr zu kämmen, natürlich nur für das Foto – mir ist dieses auffällige Getue peinlich, sowas  macht man doch nicht, was sollen die Leute denken! Mein Vater muss dieses Foto geknipst haben. Dazu saß er vermutlich unten im Sand und fotografierte von unten nach oben, von einer untergeordneten Position aus. Wenn ich es heute so betrachte, regt sich in mir immer noch Widerstand - oder vielleicht sollte ich das Gefühl als „Abneigung“ bezeichnen? Selbst nach so vielen Jahrzehnten. Es verleitet dazu, sich vielerlei Gedanken zu machen: über meine Mutter im Besonderen, aber auch über meinen Vater. Und über meine Rolle damals und in späteren Jahren.

 

Auf einem anderen Foto führt meine Mutter Ballgymnastik am Strand vor. Ich erinnere mich noch genau an ihren weißen lockeren Pulli, den blauen einfarbigen Tellerrock, der ihre schlanke Taille betont und den ich so gerne mochte. Ihr Tun soll fröhlich und beschwingt aussehen, wie sie in großem Bogen den Ball vom linken ausgestreckten Arm zum rechten ausgestreckten Arm wirft, und wirkt doch nur gekünstelt und unecht, einstudiert und steif. Meiner Mutter liegt das Natürliche, das Spielerische nicht. Aber so war sie, sie wollte gerne etwas Besonderes bieten, im Mittelpunkt stehen und bewundert werden. Dazu war ihr jedes Mittel recht – bis ins hohe Alter.

 

Man kann es sich kaum vorstellen: Es gibt frische Milch in Glasflaschen am Strand. Ob wir sie in Heiligendamm kaufen konnten oder ob wir sie von zu Hause mitbrachten (was ich mir eigentlich nicht vorstellen kann), weiß ich nicht mehr. Aber ein Beweisfoto existiert noch: Meine Tante, meine Mutter und ich trinken die Milch direkt aus der Flasche, haben wegen der Sonne die Augen zugekniffen und müssen dabei furchtbar kichern. Es war ja eigentlich unschicklich so Anfang der 50er Jahre: Frauen, die in der Öffentlichkeit aus der Flasche trinken, dabei lachen und sogar noch ganz ungeschickt Milch verschütten! Unerhört! Aber am Strand darf man das, was sonst verpönt ist.

 

Und Eis gab es. Ich durfte hin und wieder ganz alleine in das Restaurant des Strandhotels gehen und eine Kugel Milcheis mit Vanille- oder Schokogeschmack holen. Der Ober platzierte die Kugel auf eine untere Waffel im „Muscheldesign“ und klappte eine zweite als Deckel darüber. Das Eis schmeckte köstlich, aber der Geschmack der Waffel hatte sehr viel Ähnlichkeit mit Pappe. Trotzdem: Es war etwas Kostbares und Nichtalltägliches. Und ich war stolz, dass ich so etwas bekam.

 

Meine Großeltern hatten schwarze Singer-Fahrräder. Aus irgendeinem Grund (um das Fahrgeld zu sparen?) haben meine Eltern sie ausgeliehen und sind mit mir hin und wieder nach Heiligendamm geradelt statt mit der Molli zu fahren. Auf der Ufer-Promenade durfte ich dann auch einmal in die Pedale des großen Damenfahrrads treten. Natürlich half mein Vater dabei und hielt mich und das Rad in Balance. Ich war vielleicht 5 Jahre alt.

 

Es ist schon seltsam, wie wir Menschen „ticken“: In der Rückschau leuchten die Erlebnisse der Kinderzeit hell heraus aus dem verschwommenen Dunkel der Erinnerung. Wenn ich die Namen „Bad Doberan“, „Molli“  oder „Heiligendamm“ lese, alte und neue Fotos betrachte, dann bedeutet es für mich: „Das sind meine Orte. Sie gehören mir und meiner Familie.“ Obwohl das natürlich eine Illusion ist. Und ein unerlaubtes Besitzergreifen „fremden Eigentums“ bedeutet.



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