Wiederholungen

Tagebuch zum Thema Alleinsein

von  tulpenrot

1
Dick sind die Weiber und alt und nicht von hier. Sie stehen eigentlich genau davor und fragen sich dennoch, was sie sehen. „Ist  d a s  das Rathaus? Oder ist es das rote Gebäude da drüben?“ Ihre Stimmen sind laut und haben etwas Aufdringliches. Es stört mich. Ich setze mich auf eine Bank vor dem Brunnen auf dem Rathausplatz. Die Tauben haben die Bänke beschmutzt. Ein Pärchen läuft vorbei. Hand in Hand. Den beiden Mädchen, die dort drüben lehnen, schmecken die Pommes und die junge Frau neben mir liest einen Artikel mit der Überschrift„15 Minuten später“. Ich wollte ein Eis essen aus dem Eissalon gegenüber - wie immer, wenn ich in F. bin. Deswegen bin ich hier. Ich wollte alleine sein und Eis essen in dieser Stadt, die ich schön finde. Allein zwischen all den Menschen. Alleinseinkönnen ist mein Thema. Ich will es so, will traurig sein dürfen, ohne dass es jemanden etwas angeht, ohne dass jemand nach dem Warum fragt.
Irgendwie erwarte ich, dass I. und M. hier auftauchen. Wie damals. Drüben in dem barocken Gebäude war die Krippenausstellung. Damals vor fünf Jahren. Damals vor fünf Jahren trafen wir sie mit ihrem kleinen Sohn. Du und ich. Hand in Hand. Damals war Weihnachtsmarkt und sie waren extra deswegen nach F. gekommen um Schupfnudeln zu essen und Waffeln und die Krippenausstellung anzuschauen. Und wir auch. Damals. Sie tauchen natürlich heute nicht auf. Heute sitzen zwei Punkmädchen auf dem Gebäudesims und rauchen. Grün die Haare der einen und gelborange bei dem anderen Mädchen. Es ist 10 Minuten später und der 1. Oktober und nicht Weihnachten. Kein Weihnachtsmarkt, sondern das spätherbstliche warme Treiben wie immer in F.

2
Viele Fremde gibt es hier. Die Stadt ist berühmt. Dick sind die Weiber, die vor mir herlaufen und stehen bleiben, und alt sind sie auch und nicht von hier und sie stehen überall herum, ohne etwas zu sehen. Und ihre Stimmen sind laut, weil sie sonst noch weniger verstehen. Ich höre ihnen minutenlang zu und als ich mich schließlich hinsetze, sehe ich die punkfarbenen Mädchen rauchen und eine junge Frau. Die liest sich die Augen aus. Ich schiele zu ihrer Zeitschrift hinüber: „15 Minuten später“ heißt es da. Was wohl nach 15 Minuten passiert? Nach 15 Minuten habe ich Lust auf ein Eis von gegenüber. Als ich es habe, schmeckt es nicht so besonders, weil ich auf einer von Taubendreck beschmutzten Bank sitze. Dabei ist es der beste Eissalon in F. Ich warte, dass I. und M. kommen. Aber warum sollen sie ausgerechnet heute hier sein? Sie kommen doch immer nur hierher, um Schupfnudeln zu essen. Und die gibt es im Moment noch nicht. Auch Waffelverkäufer sind nicht zu sehen. Die Zeit ist noch nicht da oder schon vorbei, je nachdem, wie man das Jahr rechnet. Im Moment ist der 1. Oktober. Später wird es sicher alles geben: Waffeln, Krippen und Schupfnudeln. Es wiederholt sich alles. Ich mag Krippenausstellungen. Ich gehe immer mal wieder hin. In S. gibt es eine Dauerausstellung von Krippen. Auch Waffeln und Schupfnudeln mag ich. Und Wiederholungen mag ich auch, wenn sie angenehm sind. Aber es wiederholt sich nicht alles. Auch das Angenehme nicht. Das HandinHandgehen zum Beispiel hab ich verlernt.

3
Die Stimmen der Frauen sind wirklich unangenehm. Alte Frauenstimmen sind schrecklich. Sie tönen, wie wenn man Rost von einem Gerät abkratzt. Das kann man keine 15 Minuten aushalten. Die Frau ist fertig mit Lesen und mein Eis ist gegessen. Vielleicht sollte ich mir noch eines kaufen, für den Weg zurück zu meinem Auto? Auch die Mädchen, die Grüne und die Orangefarbene, sind gegangen. Die Tauben fliegen auf und nieder, picken am Boden und betteln, aber ich gebe nichts. Heute nicht. Vielleicht eines Tages von einer Waffel oder von den Schupfnudeln, wenn ich dann immer noch meine Hände frei habe.


Anmerkung von tulpenrot:

geschrieben am 1. Oktober 2009, überarbeitet
(Das Layout gelingt nicht.... Die Ziffern sollen mittig stehen ....:-(......)

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (03.11.10)
Erlebnisse wiederholen sich selten, vor allem schöne. Den Gegensatz hier hast du freilich sehr ein dringlich beschrieben. LG

 tulpenrot meinte dazu am 03.11.10:
Danke, Armin, für deinen KOmmentar. Erst heute morgen ist mir der richtige Titel eingefallen. Danke auch für die Empfehlung. LG Angelika
Jonathan (59)
(03.12.10)
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 tulpenrot antwortete darauf am 03.12.10:
Selbstverständlich bin ich gerührt - so unerwartet noch einen Kommentar und gleich zwei Sterne zu erhalten - hab ganz herzlichen Dank dafür! Solche Alltäglichkeiten wiederholen sich und dennoch sind sie immer anders.
LG in deinen Abend
tulpi
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