U-Bahn 6: Auf Zeichnungen einer intelligenteren Bazille

Kurzprosa zum Thema Entwicklung(en)

von  Anifarap

"Die Philosophie ist folgende: Wedding reißen sie Dir die Flügel aus. Zurückbleiben die Stümpfe auf den Schulternblättern. Die Wunden werden eitern und dann werden sie heulen. Weiße Tränen."
Das Räuspern gleicht einen leisem Seufzer oder dem freudigen Purren eines Gepards. Die Hand bewegt sich zu den Lippen. Ein Finger bleibt darauf ruhen, während seine Augen zu den geöffneten Türen huschen. Eine Flut raus, eine neue herein. Der Spiegel steigt auf und ab. Unter dem Gewühle von Gliedern ein zehnjähriges Mädchen, etwas rundlich. In einem schwarzen, hautengen Lackkleid, dessen Saum unter den Pobacken aufhört. Ihre Nägel sind bemalt mit abgeknabberten Schwarz, die Hände halten eine schwarze Tasche fest. Diese besitzt keinen Gurt und ist Komplizin des Kleides.
Wieder ein Räuspern. Die Zungenspitze befeuchtet die zersprungenen Lippen.
"Tempelhof heilen sie die Wunden und Du bleibst hängen auf der Wattewolke der Normalität, die dich nach der Heilung stetig umgibt, verstehst du? Und letztlich merkst du, dass das Feuer der ausgerissenen Flügel Dich hat kämpfen lassen. Der falsche Friede der Heilung geht einher mit sogenannter Normalität."
Die Räder quietschen. Die U-Bahn bremst an und hält im dunklen Tunnel. Die meisten Menschen reisen in der Kakaphonie ihrer eignen vollgestopften Köpfe. Zwei Männer in Anzügen und mit Aktentaschen reden im deutschen Businessenglisch. Die Wenigen, die hin hören, hören entweder gleich weg und der Rest erfährt etwas darüber, wie sie in Zukunft ausgebeutet werden sollen. Durch den Tunnel huscht ein Lufthauch. Mit langsamen Klappern setzt sich die U-Bahn schnaufend in Gang.
"Die Eventualitäten sind auf 0,03 begrenzt. Doch die Hoffnung stirbt. Zuletzt. Solche Gedanken trägt das Gewusel in der Bahn mit sich fort in menschenleere und doch volle Tunnel, jaja."
Er war dem Blick gefolgt, der mir entflohen war. Mein Nicken war wage als solches zu empfinden.
Er setzte fort.
"In den Tunnel werden sie kreiseln und dann wie Staubflocken herabrieseln. Yume. Traum. Splitter. Kristalle. Das Universum umarmt und spuckt. In einem Zuge der Girlanden Orange erschaffend und zerstörend in seiner Neutralität."
Das leise Lachen aus seinem Munde schlägt Purzelbäume durch die dicke, feuchte Luft im Waggon.
"Bebende Hassende, müde Liebende. Penner und Manager in einem Zug zusammengepfercht in einer Geruchskaskade. Friedrichstraße wird diese Spreu vom Weizen getrennt. Und ironischerweise bleiben wir beide beim Spreu.
Abschaum zu Abschaum."
Mein Hüsteln hüpft verschämt über meinen Handrücken und ich schlage die Lider nieder um Niemanden mehr ansehen zu müssen. Schweiß steht mir auf der Stirn. Wieder ein Mal beginne ich zu zittern. Meine Unterlippe findet sich unter den Schneidezähnen wieder. Er redet. Wie immer unbeeindruckt.
"Die Stadt ist ein dunkler Dschungel mit Hexerei erschaffen. Und sie besitzt nur schwache Zauberer. Allerortens glitzert es und gleichsam vernimmt die Nase Übelgerüche. Wer wahrhafte Augen besitzt sieht die Abgründe. Die Meisten jedoch blinden."
Die Augen wandern zu polierten Schuhspitzen. Verweilend in der Finsternis ausgetrockneter Pfützen des Säureregens.
Ich über gebe mich.


Anmerkung von Anifarap:

(Juni 2012)

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Kommentare zu diesem Text

wupperzeit (58)
(30.06.12)
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 Anifarap meinte dazu am 21.07.12:
Ein seltsames Gefühl, nicht? Manchmal verliert man etwas, ohne zu erfahren, dass man es besessen hat. Mir geht es zumindest ständig so...und dieses Gefühl ist unterschwellig dumpf, als hätte man eine Einkaufsliste geschrieben, die man vergessen hat, weil man sie vor dem Einkaufen in die Hosentasche gestopft hat, die man vor dem verlassen der Wohnung leert.
Keine Ahnung, was ich damit sagen will.^^

Danke. Zumindest das.
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