IV.
 Inhalt 
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Erzählung zum Thema Erziehung

von  Lala

Ein paar Tage später sah ich mich erstmals wieder bewusst im Spiegel an. Ich sah fürchterlich aus. Bis auf Eric hatten alle Bewohner der WG einen großen, aber rein zufälligen Bogen um mich herum gemacht. Das heißt, sie waren froh, wenn sie es vermeiden konnten, mich zu sehen oder mit mir reden zu müssen.
Eric wagte es trotzdem, weiter nach meinem Befinden zu fragen, obschon ich ihm zu verstehen gegeben hatte, dass er für sein Seelenheil ein anderes Robbenbaby retten müsse. Aber statt beleidigt zu sein, hakte er weiter nach.

Bald gab ich nach und erzählte ihm die Geschichte, die sich mit meiner Mum zugetragen hatte, und natürlich wollte er das letzte Bild in der Mappe sehen.
„Das kenne ich doch, oder nicht? Das ist das von damals aus dem Kurs, oder nicht?“, fragte er mich leicht triumphierend.
„Ja. Genau das ist es.“, antwortete ich etwas kleinlaut.
„Ich finde, Du solltest rauskriegen, wer das ist. Vielleicht fragst Du mal Deine Oma oder so? Die lebt doch noch, oder? Hast Du mit mir eigentlich jemals über Deine Familie gesprochen?“
„Eric, danke! Aber Du hast Recht. Ich werde etwas unternehmen.“

Ingeborg aufzusuchen, kam mir natürlich nicht in den Sinn, aber als Eric darüber nachgedacht hatte, wer mir helfen könnte, das Geheimnis der Fee zu lüften, war mir spontan wieder Kuki eingefallen.

Die Recherche nach Kuki war leichter als ich gedacht hatte. Seinen richtigen Namen kannte ich zwar nicht, aber sein Spitzname war selbst den Redaktionen ein Begriff, für die er nicht gearbeitet hatte. Kuki war schon in Rente, aber noch umtriebig genug, dass er häufig in seiner alten Redaktion vorbeischaute, in der Hoffnung, doch noch die ein oder andere Geschichte platzieren zu können. So erhielt Kuki relativ zügig die Nachricht, dass der Sohn einer alten Freundin ihn sprechen wolle.

Mein Telefon klingelte. Ich nahm ab.
„Was gibt’s?“, fragte mich eine ziemlich verrauchte, alte Stimme. Kein Zweifel: Kuki.
„Das ist kompliziert.“
„Versuchs in drei Sätzen.“
„Ich habe meiner Mum ein Bild gezeigt, sie ist vollkommen ausgeflippt und hat mich verstoßen.“
„Was für ein Bild?“
„Eine Zeichnung. Genau genommen ist es eine Portraitzeichnung.“
„Kannst Du mir das Bild faxen?“

Ich konnte. Aber ich musste länger als eine Woche auf eine Antwort warten. Dann endlich rief er an.
„Wir müssen uns treffen.“, begann er ohne Umschweife.
„Weißt Du, wer sie ist?“, fragte ich.
„Wir treffen uns, wir reden und alles andere ergibt sich.“
„Und wo treffen wir uns ?“


Eine halbe Stunde früher als ausgemacht war ich am Treffpunkt. Noch etwas früher war ich in meinem alten Dorf angekommen und hatte mich schon ausreichend gewundert, wie klein alles geworden war. Wie fremd mir alles erschien, die Schule, die Häuser und erst recht der eh nur selten von mir besuchte Spielplatz. Auch die Straßen schienen mir schmal und klein zu sein.

Angenehm überrascht war ich, als ich Ingeborgs Haus entdeckte. Es war nicht nur klein, es war mickrig. Ich fragte mich, ob heute Ingeborg anfangen würde, zu stottern, wenn ich ihr plötzlich begegnete? Sie müsste noch leben, denn auf ihrer Beerdigung war ich nicht gewesen. Aber der Anflug von später Genugtuung verflog schnell wieder und statt dessen fragte ich mich, was aus der kleinen, alten Frau wohl geworden ist?

Von Ingeborgs Bleibe sind wir jeden Sonntag zur Kirche gegangen. An der Dorfkneipe vorbei, die auch heute wieder zum Kegelabend rief, und ein Stück den kleinen Hügel hinauf, erreichten wir die irdischen Himmelspforten. Als Magnet, Mittelpunkt und Monstrosität ragte das romanische Prachtstück aus der dörflichen Optik hervor. Nein, lächerlich erschienen mir das Schiff und der Turm nicht, aber ich empfand weder Ehrfurcht noch flößten sie mir einen Schrecken ein. Kurz schaute ich hinein, ob Jesus noch am Kreuz hängt und fühlte mich bestätigt, dass hier alles noch am selben Platz stand und hing.
Kurz nach meiner Stippvisite am Altar, befand ich mich am Treffpunkt. Zu früh und ohne Idee, warum Kuki mich ans Grab meines Vaters bestellt hatte, saß ich auf einer Bank vis-a-vis dem vergrabenem Vater. Ich hatte ihn nicht vermisst. Er war nur ein Bild, eine Figur, eine meist stumme Erinnerung. Und während ich mich auf der Bank sitzend fragte, welche Empfindung ich angesichts seines Grabes haben sollte, schlossen sich plötzlich alte, aber kräftige Hände von hinten um meine Schultern.

„Wurzeln. Jedes Leben, jedes Schicksal hat Wurzeln. Da ist Deine Wurzel.“ Kukis Stimme war noch rauer als am Telefon. Ich wollte mich umdrehen, doch behände und mit Druck drehte er meinen Kopf wieder Richtung Grab.
„Da liegt Paul. Und Paul ist Dein Vater. Aber Anne ist nicht der Name Deiner Mutter.“

Ich weiß nicht, wie er meine Hände, meinen Kopf weiterhin kontrollierte, denn ich wollte einfach aufstehen, Kuki auslachen und anspucken, aber seine Hände waren überall und hielten mich und meinen Blick starr auf Dads Grab gerichtet.
„Anne hat alles für Dich geopfert. Sie stand immer an Deiner Seite; sie hat sich für Dich verleugnet. Aber wenn Du nach Deinen unmittelbaren Wurzeln fragst, dann gehört Anne nicht dazu.“
„Sag mir nicht, wer meine Mutter ist, sag mir, wer das auf dem Bild ist, oder lass es.“, erwiderte ich zornig.
„Deine Mutter und Deine Schwester.“, antwortete er knapp und ließ mich los. „Ich konnte es Dir nur hier... ich hätte es nicht übers Herz gebracht, wenn Du mich angesehen hättest.“

Eigentlich wollte ich aufspringen, wegrennen, flüchten oder wenigstens dem alten Sack eins in die Fresse hauen. Aber so, als hätte ich ein Bleigewicht am Hintern, eine unsichtbare Fixierung am Körper, blieb ich bewegungslos sitzen. Meine Schwester? Meine Mutter? Ich glaubte Kuki. Aber ich verstand es nicht und trotzdem wurde mir speiübel. Ich konnte meinen Blick nicht mehr von Pauls Grabstein lösen. Dieser Endstein war der letzte Anker meiner Identität Ich hätte mir einen lebendigeren und angenehmeren gewünscht.

„Was ist mit ihr passiert?“, krächzte ich nach einiger Zeit und war froh, dass Kuki immer noch hinter mir stand und ich ihn nicht ansehen musste. “Nein, warte, warte. Vorher will ich wissen, wie sie heißt und wie alt sie ist?“
„Auf jeden Fall war sie nicht alt genug. Wiebke war dreizehn, als sie Dich geboren hatte. Geschwängert hat er sie, als sie zwölf war. Missbraucht, seit sie gehen konnte.“ Der alte Mann hatte jegliche Selbstsicherheit verloren.
„Woher weißt Du das alles?“
„Als Paul seinen Unfall gehabt hatte, begann ich zu recherchieren. In so einem Dorf mit seinen bummelig siebentausend Seelen bleibt nichts verborgen. Aber es wird auch nicht alles öffentlich. Alles hintenrum und durch die kalte Küche oder mal eine besoffene Bemerkung am Dorftresen. Ich habe zugehört und mir den Unfall dann noch mal ganz genau angesehen. Es war kein Unfall. Du solltest meine Story werden.“
“Kein Unfall? Hat Anne ihn umgebracht?“
„Ja.“

Mein Kopf war leer. Ein unbeschriebenes Blatt und doch vollgeschmiert mit Sudeleien, schließlich zerknüllt und in den Papierkorb befördert. Ich war noch nicht mal eine Story. Ich war gar nichts.

Aber Kuki erzählte mir mehr. Er erzählte mir seine Story, ob ich sie hören wollte oder nicht. Im Angesicht des Grabes empfand ich nur noch, dass ich keine Geschichte mehr hatte. Ich horchte nur kurz auf, als Kuki erwähnte, dass Paul übrigens ein Linkshänder gewesen ist. Und Anne nach Pauls Tod ganz rigoros meine Händigkeit umstellte, um nicht auch dadurch an Paul erinnert zu werden.

Wiebke sei mit sechzehn abgehauen, einen Tag nach ihrem Geburtstag. Er wisse nicht mehr, wie die Eltern Wiebkes Wegbleiben im Dorf erklärt hatten, aber er wisse aus seinen damaligen Recherchen noch genau, dass ihm immer alle unter vier Augen von der armen Anne und dem schlimmen Paul erzählt hatten:

„Schlimm. Ganz schlimm. Das hat die Anne nicht verdient. Nee, das hat sie nicht verdient. Der Paul, der taugte doch nichts. Aber Du steckst da ja nicht drin, nicht? Und böses Blut will hier keiner und der Paul hat ja nun bekommen, was er verdient hat, nicht?“, zitierte Kuki mit angewidertem Ton nicht nur jene Menschen, die ich aus Schule und Kirche gekannt hatte. Ja, Kuki war besser im Bilde.

„Warum hast Du diese ganze Story nicht als Reporter veröffentlicht? Wolltest Du auch kein böses Blut?“; den Sarkasmus meiner Frage überhörte er.
„In gewisser Weise, ja. Vielleicht hatte ich mich in Deine Mutter verliebt? Auf jeden Fall tatet ihr mir leid.“ Seine Stimme wurde wieder brüchig.
„Außer ihrem Namen, ihrem Alter und dem Zeitpunkt ihres Abschieds: Weißt Du noch irgendetwas über Wiebke?“
„Nein. Wenn ich Anne – so wie Du jetzt - nach Wiebke fragte, machte sie gleich zu. Ich glaube, sie war und ist eifersüchtig auf Wiebke. Das ist krank, das weiß ich, aber ich kann mir ihr Verhalten sonst nicht erklären. Nur durch einen Zufall hatte ich ein paar Fotos von Wiebke bei Euch gefunden. Ansonsten hat Anne alle vernichtet.“

„Außer dem Bild, das ich in meinem Kopf habe.“, antwortete ich nach einer Pause. „Danke, Kuki und tu mir jetzt einen Gefallen: Geh bitte.“

Nach langer Zeit stummer Zwiesprache mit meiner verbliebenen Vergangenheit – dem Grabstein und einem Bild namens Wiebke in meinem Kopf, also meinen Wurzeln, wie der Journalist es ausgedrückt hatte - stand ich mit dem Entschluss auf, mein Leben hinter mir zu lassen. Über die Schulter blickte ich zurück, sah nur noch den Mond und zeigte ihm den Mittelfinger.

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