Die Wannseeprinzessin

Erzählung zum Thema Stadt

von  Lala

Die Wannseeprinzessin

Es war einmal eine kleine, unscheinbare Frau. Sie trug immer nur Braun in Braun und ein Hütchen auf dem Kopf. Ihr Gesicht war schmal und verträumt, aber auch ein wenig verbittert. Verbittert, weil ihr das Leben nicht immer gut mitgespielt hatte. Sie lebte allein, doch das war nicht immer so gewesen. Ihren Mann, das war schon lange her, den hatte sie schnell an eine andere, die hübscher war als sie, verloren. Aus ihren wasserblauen Augen schaute sie mal kalt, mal traumverloren auf die sie alleinlassende Welt. So machte man das, als kleine unscheinbare Frau.

Marianne, hieß sie, und lebte in einer kleinen Wohnung in Berlin. Gleich neben den S-Bahnbögen, gleich neben dem Schinkelstuck, gleich neben dir und mir, wenn du auch in der Stadt von Marianne lebst.

Marianne, in ihrem braunen Kostüm, ging jeden Morgen zur gleichen Zeit aus dem Haus. Denn auch ihr Bus kam pünktlich wie ein Uhrwerk. Und da sie beide stets pünktlich erschienen, verpassten sie sich nie: der große gelbe Bus und die kleine, braune Frau. Dann stieg sie ein und auf der vorletzten Bank nahm sie Platz, starrte hinaus und fuhr zur Anlegestelle ihrer Fähre.


Wenn du in Berlin nach der Wannseeprinzessin fragst, dann werden dir viele sagen, das sei eines der Fährschiffe zwischen Kladow und Zehlendorf, das manchmal auch als Ausflugsschiff am Wochenende eingesetzt wird. Aber fragst du die Fährmänner von der Stern- und Kreisschiffahrt, dann nicken sie bedächtig, streichen, wenn möglich, ihren Bart und wiederholen deine Frage: Wer die Wannseeprinzessin ist? Und dann erzählen sie dir, das sei eine kleine, stets gleichgekleidete Frau mit Hut, die jeden Morgen zur gleichen Zeit am Kladower Steg auf die Fähre wartete und sich – mochten es auch dreißig und noch mehr Grad seien - ins Unterdeck, in die vorletzte Reihe setzte und wie gebannt aufs Wasser schaute. Nie sagte sie ein Wort, nie rührte sie sich und wenn dann nur, um den Sitz ihres Hutes zu korrigieren. Aber ansonsten saß sie nur da und schaute aufs Wasser.

Fährmann Rollo Brandt, so hieß er wohl, soll ihr an dem Tag den Namen verpasst haben, als auch auf dem kleinen Wannsee die Wellen windgepeitscht umherwogten, prasselnder Regen aufs Deck und auf die Scheiben ging, Rollo das Ruder mit fester Hand halten musste und die kleine Fähre durch die schweren Wellen stampfte.
Sie aber hätte dagesessen, als sei das alles nichts. Vielleicht einmal mehr als sonst mit dem Zeigefinger den Sitz des Hutes korrigiert, aber weder sei sie grün angelaufen noch irgendwie sich hätte anmerken lassen, dass der Seegang ihr zu viel geworden wäre. Die anderen Passagiere hätten alle die Luft angehalten, so mulmig sei denen geworden. Da hätte sie der Käpt`n auf den Namen getauft, den ihr nun alle kennt: die Wannseeprinzessin.


Wie jeden Tag stand Marianne am Steg und wartete. Eine bunte Schlange Mensch drängte sich von links kommend an ihr vorüber, die von rechts kommenden schoben sich in ihrem Rücken an ihr vorbei. Sie aber schaute hinaus auf den See. Direkt auf die Bugspitze der Fähre und vielleicht sah sie mit ihren blauen Augen Rollo mitten ins Gesicht. Der, falls er es bemerkt haben sollte, hätte sich wahrscheinlich seltsam durchschaut gefühlt. Aber Rollo nahm sie nur in Gänze und nicht ihren Blick im Besonderen wahr. Er lächelte und war sich sicher, dass diese Frau eine ganz besonders tapfere, kleine Frau sein musste.

Mit einem großen Sprung von der Brücke ans Deck, schnell die Seile an die Tampen, das Brett zum Einstieg an den Steg gelegt und fast hätte er sogar salutiert, als Marianne, ohne ihn zu beachten,  an Deck schritt.
Später fragte ihn der Maat, warum er so hastig herbeigeeilt und so dienstbeflissen ausgeschaut hätte? Da sah ihn der alte Rollo aus Augen an, deren Irisglanz hinter etlichen Ringen so verborgen war, wie der Wasserspiegel bei einem tiefen Brunnenschacht, und erwiderte ernst:
„Wenn eine Prinzessin an Bord kommt, dann hat der Kapitän als Erster ihr Respekt zu zollen. Vergiss das nicht.“
Dann streute er sich Schnupftabak auf seine Hand, schniefte ihn vernehmlich ein und wiederholte fast im Kasernenton:
„Vergessen Sie das nicht!“

Marianne bekam von alledem nichts mit. Sie stand zur rechten Zeit bereit, als das Schiff ihr Ziel erreichte. Nicht links, nicht rechts schauend, stieg sie aus und ging die letzten paar hundert Meter zur Arbeit. Vorbei an den lockenden Geschäften, den Fressbuden und Straßenmusikanten, bog sie am Ende dieses Jahrmarktes in eine Sackgasse ein, an deren Wendehammer die Fabrik stand.

Immer schon arbeitete Marianne in der Fabrik, die eine hundertprozentige Tochtergesellschaft eines Industriekonsortiums aus Nordrheinwestfalen war, und die sich darauf spezialisiert hatte, einfarbige Pinnorecks herzustellen, die in jedem Apparillo gebraucht wurden.
Ihre Aufgabe war es die Produktionsbahnen zu überprüfen und an einer überdimensionalen Schiefertafel, die an der Stirnseite der großen Fabrikhalle angebracht war, auszurechnen wie hoch der Ausschuss pro Bahn ist.
Wie festgenagelt auf einer asthmatisch schnaufenden Hebebühne stehend, die sie vollhydraulisch aber ruckartig an der Tafel hoch und runter und links und rechts bewegte, rechnete sie, bewehrt mit einer großen Kreide, den prozentualen Ausschuss aus. Grundlage ihrer Rechnungen waren die im Stakkato hineingerufenen Zahlen des Rufers.
Der Rufer saß in einer kleinen, blickdichten Kabine und bekam per Rohrpost ständig die Parameterzahlen der Produktionsbahnen. Er durfte nicht nuscheln, sondern musste klar verständlich die Zahlen durchs Flüsterrohr in die Halle rufen und Marianne errechnete sofort die neuen Schwellenwerte.
Nur wenn ein Wert, so als hätte man Fieber, im kritischen oder roten Bereich lag, musste Marianne den Justierer per Zugseil, wie bei einer Notbremse, herbeiholen, damit der die fehlgeleitete Bahn neu einstellte.

Nur einmal, und das war lange her, hatte es Marianne gewagt, den Müller nach einem besseren Gehalt anzugehen. Aber der Müller, der ihr Chef war und den auch kein anderer der Kollegen Herr Müller nannte, war schwerer zu packen, als ein glitschiger Fisch.
Er schätze zwar ihre Arbeit und gerne baue er ihr Schlösser, aber – ach – am Pinnoreck verdiene es sich schlecht. So schlecht, dass der Taler nur kleckerweise in die Firmenschatulle falle. Er hätte, so beschloss er seine und ihre Klage, doch besser Apparillos bauen sollen, als diese monotonen Pinnorecks.


Auch dieser Tag verging an der Tafel wie jeder andere Tag. Am Ende der Schicht wurde sie herabgelassen und verließ die Bühne. Sie zog ihren weißen Kittel aus, den sie immer trug, wenn sie arbeitete, legte ihr braunes Kostüm an, setzte ihr Hütchen auf, korrigierte mit dem Zeigefinger seinen Sitz und verließ die Fabrik.

Es war zwar Sommer, der Himmel blau und die Sonne schien dazu, aber an einer Flanke des Himmelszelts bauschten, türmten sich dunkle Wolkentürme auf. Stahlblau und Bleischwarz, wie zwei Armeen in Schlachtordung, stießen sich die Fraktionen am Firmament. Doch ungeachtet der Vorzeichen herrschte in den Straßen noch ungetrübter Jubel und keine Spur von Angst vor dem nahenden Gewitter. Marianne schritt in zirkelgleichen Schritten aus ihrer Sackgasse in die breite Straßenflucht. Sie selbst nahm den Trubel gar nicht wahr, sondern fixierte wie stets und so auch jetzt, gleich einer Seiltänzerin, den fernsten Punkt auf ihrem Weg. Mittendrin, in dieser Abfolge monotoner Tritte, schlug mit einem Male eine freche Hand ihr den Hut von ihrem Kopf. Und laut lachend stob auch schon ein halbstarkes Kind mit ihrer Kopfbedeckung auf und davon. Marianne war wie erstarrt und konnte sich nicht rühren oder schreien. Gebannt verfolgte sie wie das Kind mit ihrer Bedeckung enteilte. Es kam aber nicht weit.

Auf einmal, wie aus dem Nichts, kreuzte ein großer Latsch den Weg des Diebs. Der krachte nicht übel auf sein Gesicht und schlug sich so manche Schramme in sein blödes Grinsen. Verdutzt, den Schmerz noch nicht begreifend, blieb er mit großen Augen liegen, und ließ vor Schreck die Beute fallen. Die rollte, trudelte, sehr unglücklich in die schmutzigste der Rinnsteinecken.

Mit spitzen Fingern in weißen Handschuhen, pickte der Retter ihren Hut aus dem Dreck heraus. Rieb, mit einem langen, bunten Lappen, den er zu diesem Zwecke aus seinem Revers gezogen hatte, hier und da am Hut herum. Beäugte ihn dann kritisch und rieb dann umso heftiger. Den Dreck aber nur umso mehr auf dem guten Filz verreibend. Nicht lange, und bald schon schaute er weit unglücklicher drein als zu Beginn. So schämte er sich sehr, als er Mariannen ihren Hut zurückbrachte.

Marianne aber war hingerissen: ein Mann auf großem Fuß, der sich nach ihren Sachen bückte. Lächelnd nahm sie ihm den Hut aus seiner Hand. Aber wie und wie sie ihn sich jetzt auch aufsetzte, er saß nicht gut und wollte ihr nicht passen.
Er sah ihr halb beschämt, halb leidend, bei ihren Mühen zu, bis er schließlich und blitzschnell mit einem leichten Fingertick den Hut in seine ideale Position brachte.
Sie wollte ihn für diese Tat schon küssen, da wand er sich wieder traurig ab und holte stattdessen einen großen Schminkspiegel aus seinen viel zu weiten Taschen und hielt ihn vor ihr Gesicht.

Marianne lachte, als sie sich im Spiegel sah. Der Hut, so gut er jetzt auch sitzen mochte, er war nicht nur hinüber sondern auch ganz und gar lächerlich. Ihr Galan, durch ihr Gelächter wieder voller Lebensmut, bat sie noch einmal um das Stück. Ohne Scheu gab sie ihn her und ohne viel Tamtam zog er Spraydose um Spraydose aus seinem breiten Sakko und sprühte dicke Regenbogenfarben drauf. Fette, farbige Kleckse prangten auf dem braunen Filz und er sprühte immer weiter bis kein Braun mehr zu erkennen war. Als das erreicht war, schaute er sie aus seinen großen Augen an und bat mit langem Finger vor seinem roten Mund um Ruhe. Dann blinzelte er kurz zu ihr und sie verstand und machte einen Knicks vor ihm. Mit beiden Händen hielt er die regenbogenbunte Krone und setzte ihr sie feierlich aufs Haupt.


Rollo stand auf der Brücke seines Schiffes. Das Wetter sah bedrohlich aus. Bedrohlicher als an jenem Tage, als er die Wannseeprinzessin das erste Mal wahrgenommen hatte. Obendrein war sie heute auch noch überfällig. Obwohl schon lange angelegt und nur noch wenige Minuten bis zur Weiterfahrt blieben, war von ihr noch immer nichts zu sehen.
Rollo blieb auf der Brücke. Die Fähre schaukelte arg am Steg und der bleischwarze Himmel gewann die Überhand. Regentropfen, dick und schwer, klatschten auf das Deck. Den genervten Blick des Maates, der schon längst einholen wollte, ignorierend, schaute Rollo stur auf das hektischer als sonst  links und rechts und hin und her eilende Volk. Aber was war das? Rollo rieb sich die Augen. Irgendetwas hatte ihn irritiert. Er rieb sie sich noch mal und dann sah er einen bunten Punkt aus der Gischt der bleiernen Menschenmassen auftauchen, untergehen und wieder auftauchen, als beobachte er eine Boje bei heftigem Wellengang. Das war seine Prinzessin! War es auch nicht. Zu spät und zu keck sprang sie an Bord mit ihrem bunten Hut. Rollo rümpfte seine Nase und gab dem Maat wütend Zeichen, die Leinen los zu machen.

So schwer wie der Wellengang, so hart war es auf Kurs zu bleiben. Der Wind war für den Sommer zu kalt und blies der Fähre stramm entgegen und immer mehr Schleusen öffneten sich am Himmel. Der Kapitän war so beschäftigt, dass er erst spät wahrnahm, dass in seinem Rücken auf dem Oberdeck Marianne stand, die Arme mal weit gespreizt, mal eng um sich geschlungen. Sie tanzte im Regen und wedelte mit ihrem bunten Hut und schien Rollo wie von Sinnen zu sein. Marianne aber war glücklich. Sie spürte nicht den Regen und nicht den empfindlich kalten Wind. So übermütig war sie, dass sie ihre Pumps ausgezogen und mit einem lauten Lachen in den See geworfen hatte.

„Hol mir das Weib sofort darunter!“ schnaubte Brandt und war nicht mehr nur auf Marianne sauer, sondern jetzt noch mehr auf seinen Maat. Rollo wagte nicht daran zu denken, was passiert wäre, wenn sie über Deck gegangen wäre?
Mit halbem Auge nahm er wahr, wie der Maat Marianne mit beiden Armen packte und in Sicherheit ziehen wollte. Denn freiwillig ging sie nicht, stemmte sich sogar entgegen und lachte immer noch, als wolle ausgerechnet sie, gleich beide – Neptun und Thor - herausfordern.

Rollo blieb auf der Brücke, als sie sein Schiff wieder verließ. Traurig blickte er der Gestalt hinterher, die einstmals seine Prinzessin gewesen war. Jetzt schien sie ihm nur – Rollo war schon zu alt für Ausflüchte - eine dumme Gans zu sein. Aber es zerriss ihm das Herz und er fragte sich was ihr widerfahren sein mochte, dass sie sich so hat gehen lassen?


Spät, sehr spät kam Marianne erst nach Hause. Sie war noch immer barfuß und noch immer selig. Zwar fror sie wie ein Schneider und schüttelte sich, als hätte sie hohes Fieber, aber es kümmerte sie nicht mehr. Sie drehte alle Heizkörper auf, kochte sich eine heiße Milch mit Honig und mummelte sich in ihr Bett.

In der Nacht wurde sie öfters wach, weil sie immer noch fror und ihr Hals rau war und das Schlucken immer schwerer fiel. Aber mit mehr Decken und einer weiteren Portion Milch, versuchte sie die Symptome abzumildern und als sie sich dann unter ihrem Deckenberg zur Seite wälzte, da erstrahlte sie in ihrem Inneren.

Marianne verschlief den nächsten Vor- und Nachmittag und überhörte das ständige Läuten ihres Telefons. Wahrscheinlich war es die Pinnoreck Fabrik, die verzweifelt versuchte, Marianne wieder auf die Hebebühne zu bekommen. Aber am Nachmittag verstummte das Läuten und kehrte auch nicht mehr zurück. Marianne fühlte, als sie ihre Augenlider schmerzhaft auseinanderbekommen hatte und trotz des schalen Lichtes sie lieber wieder geschlossen hätte, dass es ihrem Körper sehr schlecht ging. Aber ihr Geist war immer noch euphorisch, denn ihre Einsamkeit war endgültig vorüber. Spät, sehr spät, in der letzten Nacht hatte sie ihn wiedererkannt: ihren Helden, der ihr den Hut und manches andere gereicht hatte. Sie musste sich nur zur Seite drehen, um ihn anzusehen.

Das Fieber stieg am Nachmittag und stieg auch noch am Abend. Mariannes Haare waren strähnig, ihre Wangen schmal und ihr Mund schnappte hektisch nach Luft. Als Marianne endlich Wasser aus der Küche holen wollte, eimerweise, bergeweise Wasser, denn das Verlangen danach brannte in ihrem Körper, da geriet ihr schon das Anwinkeln der Beine – der Knochen – wie sie meinte, denn das Frösteln ging ihr durchs Mark und Bein – zu einer solchen Pein, dass sie beschloss, lieber liegen zu bleiben, sich lieber gar nicht mehr zu rühren und nur so liegen bleiben, um so wenigstens ihn weiter ansehen zu können. So blieb sie - trotz ihres jämmerlichen Zustands - glücklich.

Die Gewitter über der Stadt tobten ohne Unterlass und ließen Blitze und Donner krachen, so dass  die Wolkendecke nicht mehr aufgerissen war, seit dem Tag, als Marianne ihren Hut verloren hatte. Als die zweite Fiebernacht hereinbrach,  spendete kein Stern, kein Mond ein Licht. Auch das Licht der Elektrik aus Wohnungen, den Laternen oder flackernden Werbetafeln war so schmallippig wie Mariannes Mund in jener Nacht. Es reichte nicht weit und verblasste alsbald. Und so starb Marianne in sackschwarzer Nacht. Sie sah nicht mehr, wie gegen Morgen die Wolken aufbrachen und das himmelblaue Heer die bleischwarzen Wolken endlich vertrieb.




Es lag gerade nichts Besseres an, als ihn die Marconi-Nachricht seines Kumpels bei der Polizei durch den Äther erreichte. Er war grade mitten in einem der vielen Kreisverkehre dieser Stadt und wollte in eine Ausfallstraße scheren, als der Marconi-Apparillo ihm die Nachricht überspielte. Waghalsig steuerte er wieder in das Zentrum des Kreises und drehte monoton ein paar Runden um die Mitte, während er zuhörte.
„ Frauenleiche in guter Wohnlage, vier bis fünf Wochen tot, gerade aufgefunden worden. Die Mieter hatten sich wegen des Gestanks beschwert.“

Na ja, dachte er, das war immerhin besser als gar nichts, aber auch noch nicht genug für einen smarten Reporter der Berliner Boulevard Zeitung. Er schnippte seine filterlose Zigarette aus seinem karbidgetriebenen Kabinenroller, karriolte, als ob er die Schwerkraft nutzen wollte, noch ein zweimal um das Zentrum des Kreisverkehrs herum, kreuzte wieder auf die Außenbahnen und bretterte schließlich über eine der großen, drei- und vierspurigen, die Stadt von Ost nach West, Süd nach Nord wie Torten durchschneidenden Traversen, zum Tatort.

Der Geruch in der Wohnung war erbärmlich und stand in krassem Widerspruch zu der peniblen Sauberkeit, die hier geherrscht haben musste. Routiniert lud er immer wieder mit schnellen Drehungen an der Kamerakurbel das Blitzlicht auf.
Die Wohnung war nicht groß. Altbau. Bloß zwei Zimmer. Schiffbauerparkett. Viele Vitrinen, vollgestopft mit Puppen. Auch eine Eierbechersammlung fand sich in der Küche. Alles sehr gepflegt, sehr schön. Von jedem Zimmer machte er mit großem Zisch vom Blitzlicht eine Aufnahme.

Er musste sich durch die Zimmer regelrecht schlängeln, denn immer standen, kamen oder gingen Polizeibeamte durch die Wohnung.
„Tut mir leid,  alter Freund, aber das ist eine natürliche Sache. Kein Fremdverschulden. Habe es auch erst gerade gehört.“, mit diesen Worten legte sein Freund ihm eine Hand auf seine Schulter und begrüßte ihn.
„Wie könnt ihr das so schnell wissen? Die Puppen hier in den Regalen, Vitrinen und, und, und sind vielleicht eine Menge wert? Das ist doch ein Motiv?“
„Motiv?“, wiederholte sein Polizistenfreund leicht spöttisch. „Statt eines Motivs bräuchte ich erst mal einen Anhaltspunkt. Aber sieh dich doch selbst um; das ist alles so … “, und er stockte kurz, „Das ist alles so bescheiden kitschig. Die Kleine hat die Welt“ - und dabei wischte er eine beschlagene Fensterscheibe ab, in dem er den Ärmel seines Mantels hochzog und mit dem Stoff das Glas frei rieb - „als großen Feind erlebt und sich hier verbarrikadiert. Ein Berliner Dreieinhalbmillionen-Schicksal, wenn Du mich fragst.“ Dann drehte sich der Ermittler wieder um und fragte aufrichtig: „Currywurst?“

Statt einer Antwort kam das laute Pfeifen und folgende Zischen des Kamerablitzes. Damit war auch der Kommissar auf Platte gebannt. Dieser winkte aber nur kurz ab und konstatierte: “Mach Du hier Fotos, ich geh jetzt was essen. Willst Du nicht doch mitkommen?“ Er schüttelte den Kopf und drehte wieder an der Blitzlichtkurbel. Er brauchte noch ein paar Fotos, denn er traute der Friedlichkeit der Wohnung nicht und hatte, wenn es ausnahmsweise mal still war, ständig so ein störendes Geräusch im Ohr.


Sein Chef war über seinen Artikel nicht begeistert. Das sei bestenfalls ein Absatz, eine Fußnote aber auf gar keinen Fall mehr. Eigentlich sei es gar nichts. Dergleichen mehr vorbringend, wanderte der Chef durch sein Büro und beendete das Gespräch dann mit „Ach, alles dummes Zeug“, spannte seine Hosenträger und ließ sie mit ordentlichem Schmackes auf seinen runden Leib zurückschnalzen. Dabei grinste er noch feist.

Die kleine Story über die Tote ohne Hintergrund und Freunde, die jahrelang in einer Firma gearbeitet hatte, die selbst aber nur einen Vormittag brauchte um sie zu vergessen – denn das hatte der junge Mann alles fix recherchiert gehabt – war eigentlich schon für die Tonne produziert, als es sich ergab, dass doch ein Plätzchen frei geblieben war, weil eine Anzeige leider nicht geschaltet werden konnte. So rutschte Marianne doch noch auf Seite Sechs.

Wenig später, gleich am Morgen, kaum dass er das Redaktionsbüro betreten hatte, tippelte ihm auch schon auf hohen Absätzen die Poststellenassistentin Zindy hinterher, um ihm einen ganz frisch per Rohrpost eingetroffenen Leserbrief von Kapitän Rollo Brandt zu überreichen. Er schob lässig seinen breitkrempigen Hut aus der Stirn, lächelte sie an und bedankte sich etwas zu charmant. Zindy mit der Zahnspange, zog zu stark die Luft durch das Metall im Mund, verdrehte ihre Augen leicht und schaute dann verlegen zu Boden.
Mit einem „Man sieht sich, man liest sich“ gingen beide auseinander und während er seinen Trenchcoat an den Haken warf, träumte er noch ein wenig von einer Luftfahrt im Zeppelin mit Zindymaus.

Der Brief des Kapitäns Brandt enthielt die genaue Schilderung der Vorkommnisse auf Mariannens letzter Fahrt. Er war so gebannt von dem was er las, dass er die dissonanten Anschläge der zahlreichen Schreibmaschinen, die Ätherdurchsagen, das permanente Gequatsche seiner Kollegen und das regelmäßige Fump-Geräusch der Rohrpost vollkommen vergaß. Denn der Kapitän lieferte ihm den Anhaltspunkt, den er  für eine gute Story brauchte. Irgendetwas musste Marianne widerfahren sein.
Er nahm sich die Fotos der Wohnung noch einmal vor. Vor allen Dingen waren darauf Puppen, Figuren und Porzellangesichter. Und alle schauten wie Gespenster in die Kamera, mit starrem, totem Blick.
Das Schlafzimmer – wo man Marianne unter einem Berg von Decken gefunden hatte – war ein Puppenmausoleum. Ihm fiel auf, dass er ausgerechnet dieses Zimmer nicht gut getroffen hatte. Er hatte auf den Bildern immer das Kopfteil des Bettes abgeschnitten. Und da erinnerte er sich auch wieder an dieses Geräusch, dass er, wenn es still geworden war, sofort im Ohr gehabt hatte. Er musste noch mal an den Ort des Geschehens, das war ihm jetzt klar. Wenn, so glaubte er, war dort der Schlüssel ihres Todes zu suchen.


Kurz darauf saß er wieder in seinem Kabinenroller und fuhr zu Mariannens Wohnung. Er hatte einen Termin mit dem Hauswart gemacht, der ihm für ein wenig Schmalz – „Für fünf Minuten und keene Sekunde länger, Meister“ - die Wohnung öffnen wollte.

Ohne den Trubel der Beamten war wieder Stille in das Wohnhaus eingekehrt. Schon das Knarren der Stiegen im Treppenhaus und das Aufschließen der Wohnung kamen einem Erdbeben gleich. „Aber fix jetzt“, beeilte sich der Hauswart noch zu sagen, als er sich die Scheine in seine Gesäßtasche schob und die Tür für ihn aufschloss. Der Reporter bat ihn, durch eindeutige Zeichen, ab jetzt doch bitte den Mund zu halten.

Im Flur hörte er es noch nicht. Aber als er die Stube betrat und von hundert toten Augenpaaren begrüßt wurde, da hörte er es wieder: ein Ticken, ein Klicken, ein Wispern.
Während er die Puppen inspizierte, fiel ihm auf – er war sich nicht sicher – dass alle Puppen leichte Macken hatten und er wettete, dass die bunten, hübschen Sachen, die sie trugen, wahrscheinlich von Marianne alle selbst genäht worden waren. Vermutlich hatte sie sich auf den zahlreichen, hiesigen Trödelmärkten mit diesen Geschöpfen versorgt. Kleine Buben und Mädchen, das war ihr Hauptsteckenpferd.
Er ging ins Schlafzimmer. Hier das gleiche Bild: Buben- und Mädchenpuppen dicht an dicht. Sie schauten alle aufs Bett, das fast ganz an der Wand stand. Aber es blieb noch so viel Platz zwischen Bett und Wand, dass an der Kopfseite, wo ein Nachtisch hätte stehen können, ein schöner Holzstuhl mit Korblehne stand auf dem ein Clown saß. Ein stattlicher Bursche mit einer knallbunten Mütze, der mindestens dreiviertel Meter maß, wenn man ihn aufrichtete.

Das Geräusch war im Schlafzimmer lauter geworden und als er auf die rechte Seite des Bettes ging, da spürte er an einer seiner Hände einen leichten, leisen Luftzug. Er hatte das Gefühl die Wand spräche zu ihm. Er bewegte sich noch mehr in die Richtung des Clowns und als er zufällig am Mund der Puppe vorbei strich, da war ihm als hätte ihn der Clown selbst angehaucht, wenn nicht gar gesprochen.
Ausgerechnet jetzt musste sich der Hausmeister melden und mit säuerlichem Hüsteln und Geraunze auf sich und den überfälligen Abmarsch aufmerksam machen. Er wies - mit unmissverständlicher Gestik - den unmöglichen Mann wieder an, absolute Ruhe einzuhalten.

Als er das Geräusch wieder hörte, zog er schnell seinen Schellackaufnahmeapparillo heraus und hielt etwas tattrig den Lauschtrichter direkt vor den Mund des Clowns und betete, dass der Wart sich noch ein paar Augenblicke gedulden würde. Er bemerkte dabei, dass auch der Clown eine kleine Macke in Form eines Loches hatte.

„So, nun reicht ditt aber. Schluss der Vorstellung. Ick komm in Teufels Küche, wenn ditt einer rauskriegt.“
Er nickte, fügte sich und hoffte, dass er das Geräusch auf der Schellackplatte hatte.


Es war schwer, sehr schwer, überhaupt etwas zu hören. Verschwitzt saß er im trüben Licht der Schreibtischlampe vor einem großen Schallundfrequenzverstärker und trug die besten Kopfhörerpinnorecks. Aber es war nur ein Rauschen und ein Knacken zu hören. Welche Frequenz? Welche Abspielgeschwindigkeit wählen? Die Apparillos taugten doch alle nichts. Seine Kollegen hatten schon die Segel gestrichen und waren sicherlich längst zu Hause oder noch auf einen Drink in der Pressebar. Vielleicht sogar mit Zindy? Er wusste aber, wenn er etwas hören würde, dann wäre er auf Seite eins und könnte locker die Zeppelinfahrt mit Zindy berappen. Da war er sich ganz sicher und wollte sich auch schon wieder ärgern, dass er sich durch solcherlei Träumereien hat ablenken lassen, da hörte er plötzlich eine Stimme ganz leise sprechen:

„dubistverrücktmeinkinddubistverrücktmeinkinddubistverrücktmeinkind“

Er riss sich den Hörer vom Kopf. Verstört sah er auf den Verstärker. Er hatte die Lautstärke nicht verändert gehabt und trotzdem war der Satz in seinem Kopf immer lauter geworden.
Er schüttelte sich, stand auf und stemmte seine Hände in die Hüften. Was war geschehen? Wie war es möglich? Er fand nur eine Lösung:
Der Luftzug hatte den Clown zum Sprechen gebracht. Vermutlich war es nur ein dämlicher Leitungsriss, der für den Luftzug verantwortlich gewesen war. Überall waren hinter den Wänden Rohre für Heizung und Rohrpost verlegt worden. Ein kleiner Bruch oder ein kleines Leck ist schnell entstanden. So konnte die Luft durch die dünnen Wände zum Clown und durch die Macke in dessen Kopf einströmen und beim Austritt den Clown zum Sprechen bringen. Das war es. Anders konnte es nicht sein.

Beflügelt, das Rätsel gelöst und eine Geschichte zu haben, setzte er sich wieder ans Pult und fing an alles aufzuschreiben. Mittendrin überlegte er wie er die Fotos arrangieren könnte und da fiel ihm auf, dass er immer noch kein Bild dieses Clowns gemacht hatte - mit seinen weißen Handschuhen, seinen großen Latschen und seiner bunten Mütze. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und schimpfte über seine Dämlichkeit. Aber es half alles nichts: er musste noch mal raus. Wenigstens für ein Foto vom Clown.

Der Hausmeister war gar nicht amüsiert und verlangte eine noch unverschämtere Prämie. Doch wer mit Zindy in den Zeppelin will, muss Einsatz zeigen, sagte er sich und setzte alles auf diese Karte.

Spät in der Nacht schloss ihm der Hauswart - „Aber nur für ein Foto, Meister.“ - die Wohnung wieder auf und zum dritten Mal betrat er sie.
Hastig stürmte er ins Schlafzimmer und bremste dort jäh ab. Der Clown war weg. Verschwunden. Nicht mehr da. Er war verzweifelt.
„Wo ist der verdammte Clown? Was haben Sie mit ihm gemacht?“, fuhr er den Mann wütend an.
„Nana, Jungchen. Mach mal halblang. Wattn fürn Clown? Ick seh hier nur eenen Clown und ditt bist Du. Und Du machst jetzt nen Abgang aber pronto, sonst setzt es was.“


Zurück auf der Straße, bei sternenklarer Nacht, setzte er sich frustriert vor Mariannens Wohnhaus auf den Bordstein. Die Story war hin, das war nun klar. Er hatte seinen Hut abgenommen und drehte ihn missmutig zwischen den Händen. Er schaute verzweifelt zum Himmel, und sah in diesem Moment den Schatten eines Zeppelins, der am Mond vorüber fuhr. Auf seine Fahrt mit Zindy, in diesem oder einem anderen Zeppelin, musste er noch warten.

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Kommentare zu diesem Text


 Isaban (30.05.12)
Eine leise Story, eine, die sich nicht aufdrängt, die es nicht spektakulär krachen lässt und dennoch Eindruck zu hinterlassen vermag, auch nach mehreren Jahren immer noch eine meiner Lieblingsgeschichten von dir. Sehr frech, für das, was die Fabrik, in der sie arbeitet herstellt den Ausdruck "Pinorek" zu verwenden, das polnische Wort für Penis. Marianne lebt also in einer von Penes bestimmten Welt.

Ich hab mal in Klammern zu den einzelnen Textstellen geschrieben, was mir ins Auge stach. Die vielen Satzanfangswiederholungen empfinde ich als gelungenes Stilmittel, um das Immergleiche, die ewige Monotonie im Leben der Wannseeprinzessin (im Titel fehlt ein "n") darzustellen. Ebenso spannend finde ich das Bojenbild, dieses Auf- und Abtauchen des kleinen bunten Punktes, ein Bild, das sich auch in der Erzählform wiederspiegelt - der Teil nach dem "Verlöschen des Punktes", also nach Mariannens Tod, ist nur unwesentlich kürzer als ihre hier dargestellte Lebensfrist, im Grunde ist sie (lebend) nicht einmal Mittelpunkt ihrer eigenen Geschichte. Es ist, als finge mit ihrem Tod einfach eine neue an, bei der sie ebenso stille Statistin ist, wie in der davor.

Liebe Grüße,

Sabine


Wan(n)seeprinzessin

Es war einmal eine kleine, unscheinbare Frau. Sie trug immer nur braun in braun (Braun in Braun) und ein Hütchen auf dem Kopf. Ihr Gesicht war schmal und verträumt(,) aber auch ein wenig verbittert. Verbittert, weil ihr das Leben nicht immer gut mitgespielt hatte. Sie lebte allein, aber (doch – sonst Wortwiederholung, siehe vorangehende Zeile) das war nicht immer so (gewesen = weglassen). Ihren Mann, das war schon lange her, den hatte sie schnell (verloren= ans Ende des Satzes stellen) an eine Andere(andere), die hübscher war als sie. Aus ihren wasserblauen Augen schaute sie mal kalt, mal traumverloren auf die sie alleingelassene (alleinlassende) Welt. So machte man das, als kleine unscheinbare Frau.

Marianne, hieß sie, und lebte in einer kleinen Wohnung in Berlin. Gleich neben den S-Bahn Bögen (S-Bahnbögen), gleich neben dem Schinkelstuck, gleich neben dir und mir, wenn du auch in der Stadt von Marianne (in Mariannes Stadt/ihrer Stadt) lebst.

Marianne, in ihrem braunen Kostüm, ging jeden Morgen zur gleichen Zeit aus dem Haus. Denn auch ihr Bus kam pünktlich wie ein Uhrwerk. Und da sie beide stets pünktlich erschienen, verpassten sie sich nie: der große gelbe Bus und die kleine, braune Frau. Dann stieg sie ein und auf der vorletzten Bank nahm sie Platz, starrte hinaus und fuhr zur Anlegestelle ihrer Fähre.


Wenn du in Berlin nach der Wannseeprinzessin fragst, dann werden dir viele sagen, das sei eines der Fährschiffe zwischen Kladow und Zehlendorf, dass (das) manchmal auch als Ausflugsschiff am Wochenende eingesetzt wird. Aber fragst du die Fährmänner von der Stern- und Kreisschiff(3 f)ahrt, dann nicken sie bedächtig, streichen, wenn möglich, ihren Bart und wiederholen deine Frage: Wer die Wannseeprinzessin ist? Und dann erzählen sie dir, das sei eine kleine, stets gleichgekleidete Frau mit Hut, die jeden morgen (Morgen)zur gleichen Zeit am Kladower Steg auf die Fähre wartete und sich – mochten es auch dreißig und noch mehr Grad seien - ins Unterdeck(,) in die vorletzte Reihe setzte und wie gebannt aufs Wasser schaute. Nie sagte sie ein Wort, nie rührte sie sich und wenn dann nur, um den Sitz ihres Hutes zu korrigieren. Aber ansonsten saß sie nur da und schaute aufs Wasser.

Fährmann Rollo Brandt, so hieß er wohl, soll ihr an dem Tag den Namen verpasst haben, als auch auf dem kleinen Wannsee die Wellen windgepeitscht umherwogten, prasselnder Regen aufs Deck und auf die Scheiben ging, Rollo das Ruder mit fester Hand halten musste und die kleine Fähre durch die schweren Wellen stampfte.
Sie aber hätte dagesessen(,) als sei das alles nichts. Vielleicht einmal mehr als sonst mit dem Zeigefinger den Sitz des Hutes korrigiert, aber weder sei sie grün angelaufen noch irgendwie sich hätte anmerken lassen, dass der Seegang ihr zu viel geworden wäre. Die anderen Passagiere hätten alle die Luft angehalten, so mulmig sei denen geworden. Da hätte sie der Käpt`n auf den Namen getauft, den ihr nun alle kennt: die Wannseeprinzessin.


Wie jeden Tag stand Marianne am Steg und wartete. Eine bunte Schlange Mensch drängte sich von links kommend an ihr vorüber, die von rechts kommenden schoben sich in ihrem Rücken an ihr vorbei. Sie aber schaute hinaus auf den See. Direkt auf die Bugspitze der Fähre und vielleicht sah sie mit ihren blauen Augen Rollo mitten ins Gesicht. Der (,) falls, (Komma weg) er es bemerkt haben sollte, hätte sich wahrscheinlich seltsam durchschaut gefühlt. Aber Rollo nahm sie nur in Gänze und nicht ihren Blick im Besonderen wahr. Er lächelte und war sich sicher, dass diese Frau eine ganz besonders tapfere, kleine Frau sein müsse(musste).

Mit einem großen Sprung von der Brücke ans Deck, schnell die Seile an die Tampen, das Brett zum Einstieg an den Steg gelegt und fast hätte er sogar salutiert, als Marianne(, ohne ihn zu beachten,= weglassen, widerspricht dem Vorangestellten) an Deck schritt.
Später fragte ihn der Maat, warum er so hastig herbeigeeilt (gewesen sei = wäre) und so dienstbeflissen ausgeschaut hätte? Da sah ihn der alte Rollo aus Augen an, deren Irisglanz hinter etlichen Ringen so verborgen war (Komma)wie der Wasserspiegel bei einem tiefen Brunnenschacht (Komma) und erwiderte ernst:
„Wenn eine Prinzessin an Bord kommt, dann hat der Kapitän als Erster ihr Respekt zu zollen. Vergiss das nicht.“
Dann streute er sich Schnupftabak auf seine Hand, schniefte ihn vernehmlich ein und wiederholte fast im Kasernenton:
„Vergessen Sie das nicht!“

Marianne bekam von alledem nichts mit. Sie stand zur rechten Zeit bereit, als das Schiff ihr Ziel erreichte. Nicht links, nicht rechts schauend, stieg sie aus und ging die letzten paar hundert Meter zur Arbeit. Vorbei an den lockenden Geschäften, den Fressbuden und Straßenmusikanten, bog sie am Ende dieses Jahrmarktes in eine Sackgasse ein an deren Kehrplatz die Fabrik stand.

Immer schon arbeitete Marianne in der Fabrik, die eine hundertprozentige Tochtergesellschaft eines Industriekonsortiums aus Nordrheinwestfalen war, und die sich darauf spezialisiert hatte, einfarbige Pinnorecks (Pinoreks) herzustellen, die in jedem Apparillo gebraucht wurden.
Ihre Aufgabe war es die Produktionsbahnen zu überprüfen und an einer überdimensionalen Schiefertafel, die an der Stirnseite der großen Fabrikhalle angebracht war, auszurechnen wie hoch der Ausschuss pro Bahn ist.
Auf einem Leiterwagen (falscher Ausdruck, vielleicht lieber „Hebebühne“?) stehend, der sie vollhydraulisch an der Tafel hoch und runter und links und rechts bewegte, rechnete sie bewehrt mit einer großen Kreide den prozentualen Ausschuss aus. Grundlage ihrer Rechnungen waren die steten Ausrufe.
Der Ausrufer saß in einer kleinen Kabine und bekam per Rohrpost ständig die Parameterzahlen der Produktionsbahnen. Er durfte nicht nuscheln, sondern musste klar verständlich die Zahlen durchs Flüsterrohr in die Halle rufen und Marianne errechnete sofort die neuen Schwellenwerte.
Nur wenn ein Wert, so als hätte man Fieber, im kritischen oder roten Bereich lag, musste Marianne den Justierer per Zugseil, wie bei einer Notbremse, herbeiholen, damit der die fehlgeleitete Bahn neu einstellte.

Nur einmal, und das war lange her, hatte es Marianne gewagt, den Müller nach einem besseren Gehalt anzugehen. Aber der Müller, der ihr Chef war und den auch kein anderer der Kollegen Herr Müller nannte, war schwerer zu packen, als ein glitschiger Fisch.
Er schätze zwar ihre Arbeit und gerne baue er ihr Schlösser, aber – ach – am Pinnoreck (Pinorek) verdient (verdiene) es sich schlecht(. = lieber Komma setzen) So schlecht, dass der Taler nur Kleckerweise (kleckerweise) in die Firmenschatulle falle. Er hätte, so beschloss er seine und ihre Klage, doch besser Apparillos bauen sollen, als diese monotonen Pinnorecks (Pinoreks).


Auch dieser Tag verging an der Tafel wie jeder andere Tag. Am Ende der Schicht wurde sie herabgelassen und verließ den Leiterwagen. Sie zog ihren weißen Kittel aus, den sie immer trug, wenn sie arbeitete, legte ihr braunes Kostüm an (man ist unterm Kittel nicht nackt oder in Unterwäsche, sie hat höchstens die Kostümjacke angelegt, bevor sie den Kittel anzog. Grauer Kittel wäre übrigens noch bildlicher unscheinbar, weiß ist so unschuldig, sauber und leuchtend), setzte ihr Hütchen auf, korrigierte mit dem Zeigefinger seinen Sitz und verließ die Fabrik.

Es war zwar Sommer, aber am Himmel bauschten sich die Wolken. Bleischwarz und stahlblau stießen (sie) sich am Firmament wie zwei Armeen bereit zur Schlacht. (Aber= weglassen, der Text ist ein bissl zu aber-lastig) noch war in den Straßen der Jubel größer und das Lachen breiter, als die Furcht vor dem Gewitter. Marianne schritt in zirkelgleichen Schritten aus ihrer Sackgasse in die breite Straßenflucht. Sie selbst nahm den Trubel gar nicht wahr, sondern fixierte (sich) wie stets und so auch jetzt, gleich einer Seiltänzerin, den fernsten Punkt auf ihrem Weg. Mittendrin, in dieser Abfolge monotoner Tritte, schlug mit einem Male eine freche Hand ihr den Hut von ihrem Kopf. Und laut lachend stob auch schon ein halbstarkes Kind mit ihrer Kopfbedeckung auf und davon. Marianne war wie erstarrt und konnte sich nicht rühren oder schreien. Gebannt verfolgte sie wie das Kind mit ihrer Bedeckung enteilte. Es kam aber nicht weit.

Auf einmal, wie aus dem Nichts, kreuzte ein großer Latsch den Weg des Diebs (Diebes). Der krachte, (Komma weglassen)nicht übel, (Komma weglassen)auf sein blödes Grinsen und schlug sich dergestalt (in dieser Gestalt? Nee, dergestalt ist der falsche Ausdruck, vielleicht „auf diese Weise“ oder schlicht weglassen)so manche Schramme. Verdutzt, den Schmerz noch nicht begreifend, blieb er mit großen Augen liegen, und ließ vor Schreck die Beute fallen. Die rollte, trudelte, sehr unglücklich in die schmutzigste der Rinnsteinecken.

Mit spitzen Fingern in weißen Handschuhen, pickte der Retter ihren Hut aus dem Dreck heraus. Rieb, mit einem langen, bunten Lappen, den er zu diesem Zwecke aus seinem Revers gezogen hatte, hier und da am Hut herum. Beäugte ihn dann kritisch und rieb dann umso heftiger. Den Dreck aber nur umso mehr auf dem guten Filz verreibend. Nicht lange, und bald schon schaute er weit unglücklicher drein als zu Beginn. So schämte er sich sehr, als er Mariannen ihren Hut zurückbrachte.

Marianne aber war hingerissen: ein Mann auf großem Fuß, der sich nach ihren Sachen bückte. Lächelnd nahm sie ihm den Hut aus seiner Hand. Aber wie und wie sie ihn sich jetzt auch aufsetzte, er saß nicht gut und wollte ihr nicht passen.
Er sah ihr halb beschämt, halb leidend, bei ihren Mühen zu, bis er schließlich und blitzschnell mit einem leichten Fingertick den Hut in seine ideale Position brachte.
Sie wollte ihn für diese Tat schon küssen, da wand er sich wieder traurig ab und holte stattdessen einen großen Schminkspiegel aus seinen viel zu weiten Taschen und hielt ihn vor ihr Gesicht.

Marianne lachte, als sie sich im Spiegel sah. Der Hut, so gut er jetzt auch sitzen mochte, er war nicht nur hinüber sondern auch ganz und gar lächerlich. Ihr Galan, durch ihr Gelächter wieder voller Lebensmut, bat sie noch einmal um das Stück. Ohne Scheu gab sie ihn her und ohne viel Tamtam zog er Spraydose um Spraydose aus seinem breiten Sakko und sprühte dicke Regenbogenfarben drauf. Fette, farbige Kleckse prangten auf dem braunen Filz und er sprühte immer weiter bis kein Braun mehr zu erkennen war. Als das erreicht war, schaute er sie aus seinen großen Augen an und bat mit langem Finger vor seinem roten Mund um Ruhe. Dann blinzelte er kurz zu ihr und sie verstand und machte einen Knicks vor ihm. Mit beiden Händen hielt er die regenbogenbunte Krone und setzte ihr sie feierlich aufs Haupt.


Rollo stand auf der Brücke seines Schiffes. Das Wetter sah bedrohlich aus. Bedrohlicher als an jenem Tage wo er die Wannseeprinzessin das erstemal (zum ersten Male oder das erste Mal)wahrgenommen hatte. Obendrein war sie heute auch noch überfällig. Obwohl schon lange angelegt und nur noch wenige Minuten blieben bis zur Weiterfahrt war von ihr noch immer nichts zu sehen..(ein Punkt)
Rollo blieb auf der Brücke. Die Fähre schaukelte schon arg am Steg und der bleischwarze Himmel gewann die Überhand. Regentropfen, dick und schwer, klatschten auf das Deck. Den genervten Blick des Maates, der schon längst die Seile einholen wollte, ignorierend, schaute Rollo stur auf das hektischer als sonst, (Komma weg) links und rechts und hin und her eilende Volk. Aber was war das? Rollo rieb sich die Augen. Irgendetwas hatte ihn irritiert. Er rieb sie sich noch mal und dann sah er einen bunten Punkt aus der Gischt der bleiernen Menschenmassen auftauchen, verschwinden(untergehen?) und wieder auftauchen, als beobachte er eine Boje bei heftigem Wellengang. Das war seine Prinzessin und sie war es auch nicht. Zu spät und zu keck sprang sie an Bord mit ihrem bunten Hut. Rollo rümpfte seine Nase und gab dem Maat wütend Zeichen, die Leinen los zu machen.

So schwer wie der Wellengang, so hart war es auf Kurs zu bleiben. Der Wind war für den Sommer zu kalt und blies der Fähre stramm entgegen und immer mehr Schleusen öffneten sich am Himmel. Der Kapitän war so beschäftigt, dass er erst spät wahrnahm, dass in seinem Rücken auf dem Oberdeck Marianne stand, die Arme mal weit gespreizt, mal eng um sich geschlungen. Sie tanzte im Regen und wedelte mit ihrem bunten Hut und schien Rollo wie von Sinnen zu sein. Marianne aber war glücklich. Sie spürte nicht den Regen und nicht den empfindlich kalten Wind. So übermütig war sie, dass sie ihre Pumps ausgezogen und mit einem lauten Lachen in den See geworfen hatte.

„Hol mir das Weib sofort darunter!“ schnaubte Brandt und war nicht mehr nur auf Marianne sauer, sondern jetzt noch mehr auf seinen Maat. Rollo wagte nicht daran zu denken, was passiert wäre, wenn sie über Deck gegangen wäre?
Mit halbem Auge nahm er wahr, wie der Maat Marianne mit beiden Armen packte und in Sicherheit ziehen wollte. Denn freiwillig ging sie nicht, stemmte sich sogar entgegen und lachte immer noch, als wolle ausgerechnet sie, gleich beide – Neptun und Thor - herausfordern.

Rollo blieb auf der Brücke, als sie sein Schiff wieder verließ. Traurig blickte er der Gestalt hinterher, die einstmals seine Prinzessin gewesen war. Jetzt schien sie ihm nur – Rollo war schon zu alt für Ausflüchte - eine dumme Gans zu sein. Aber es zerriss ihm das Herz und er fragte sich was ihr widerfahren sein mochte, dass sie sich so hat gehen lassen?


Spät, sehr spät kam Marianne erst nach Hause. Sie war noch immer barfuss (barfuß) und noch immer selig. Zwar fror sie wie ein Schneider und schüttelte sich, als hätte sie hohes Fieber, aber es kümmerte sie nicht mehr. Sie drehte alle Heizkörper auf, kochte sich eine heiße Milch mit Honig und mummelte sich in ihr Bett.

In der Nacht wurde sie öfters wach, weil sie immer noch fror und ihr Hals rau (war) und das Schlucken immer schwerer fiel. Aber mit mehr Decken und einer weiteren Portion Milch, versuchte sie die Symptome abzumildern und wenn (als) sie sich dann (wieder= Wortwiederholung, weglassen oder) unterm Deckenberg zur Seite wälzte, fing sie gleich wieder (alternativ: hier „erneut“ schreiben) zu strahlen an.

Marianne verschlief den nächsten Vor- und Nachmittag und überhörte das ständige Läuten ihres Telefons. Wahrscheinlich war es die Pinnoreck Fabrik (Pinorek-Fabrik), die verzweifelt versuchte, Marianne wieder in den Leiterwagen zu bekommen. Aber am Nachmittag verstummte das Läuten und kehrte auch nicht mehr zurück. Marianne fühlte, als sie ihre Augenlider schmerzhaft auseinanderbekommen hatte und trotz des schalen Lichtes sie lieber wieder geschlossen hätte, dass es ihrem Körper sehr schlecht ging. Aber ihr Geist war immer noch euphorisch, denn ihre Einsamkeit war endgültig vorüber. Spät, sehr spät, in der letzten Nacht hatte sie ihn wiedererkannt: ihren Helden, der ihr den Hut und manches andere gereicht hatte. Sie musste sich nur zur Seite drehen, um ihn anzusehen.

Das Fieber stieg am Nachmittag und stieg auch noch am Abend. Mariannes Haare waren strähnig, ihre Wangen schmal und ihr Mund schnappte schon (lieber hektisch, verzweifelt oder krampfhaft?) nach Luft. Als Marianne endlich Wasser aus der Küche holen wollte, Eimerweise(eimerweise), Bergeweise (bergeweise) Wasser, denn das Verlangen danach brannte in ihrem Körper, da geriet ihr schon das Anwinkeln der Beine – der Knochen – wie sie meinte, denn das Frösteln ging ihr durchs Mark und Bein – zu einer solchen Pein, dass sie beschloss, besser liegen (lieber liegen zu bleiben) zu bleiben, besser sich (sich lieber) gar nicht mehr zu rühren und nur so liegen bleiben, dass (damit) sie ihn weiter ansehen konnte. So blieb sie - trotz ihres jämmerlichen Zustands - glücklich.

Die Gewitter über der Stadt tobten ohne Unterlass und ließen Blitze und Donner krachen, so das (dass) die Wolkendecke nicht mehr aufgerissen war(Komma) seit dem Tag, als Marianne ihren Hut verloren hatte. Als die zweite Fiebernacht hereinbrach, (da= weglassen) spendete kein Stern, kein Mond ein Licht. Auch das Licht der Elektrik aus Wohnungen, von (den) Laternen oder flackernden Werbetafeln war so schmallippig wie Mariannes Mund in jener Nacht. Es reichte nicht weit und verblasste alsbald. Und so starb Marianne in sackschwarzer Nacht. Sie sah (es = weglassen) nicht mehr, wie gegen Morgen, (kein Komma) die Wolken aufbrachen und das himmelblaue Heer,(Komma weg) die bleischwarzen Wolken endlich vertrieben(vertrieb).




Es lag gerade nichts besseres (Besseres) an, als ihn die Marconinachricht (Marconi-Nachricht) seines Kumpels bei der Polizei durch den Äther erreichte. Er war grade mitten in einem der vielen Kreisverkehre dieser Stadt und wollte in eine Ausfallstraße scheren, als der Marconiapparillo (Marconi-Apparillo) ihm die Nachricht überspielte. Waghalsig steuerte er wieder in das Zentrum des Kreises und drehte monoton ein paar Runden um die Mitte, während er zuhörte.
„ Frauenleiche in guter Wohnlage, vier bis fünf Wochen tot, gerade aufgefunden worden. Die Mieter hätten (hatten) sich wegen des Gestanks beschwert.“

Na ja, dachte er, das war immerhin besser als gar nichts, aber auch noch nicht genug für einen smarten Reporter der Berliner Boulevard Zeitung. Er schnippte seine filterlose Zigarette aus seinem karbidgetriebenen Kabinenroller, karriolte, als ob er die Schwerkraft nutzen wollte, noch ein zweimal um das Zentrum des Kreisverkehrs herum, kreuzte wieder auf die Außenbahnen und bretterte schließlich über eine der großen, drei- und vierspurigen, die Stadt von Ost nach West, Süd nach Nord wie Torten durchschneidenden Traversen, zum Tatort.

Der Geruch in der Wohnung war erbärmlich und stand in krassem Widerspruch zu der peniblen Sauberkeit, die hier geherrscht haben musste. Routiniert lud er immer wieder mit schnellen Drehungen an der Kamerakurbel das Blitzlicht auf.
Die Wohnung war nicht groß. Altbau. Bloß zwei Zimmer. Schiffbauerparkett. Viele Vitrinen, vollgestopft mit Puppen. Auch eine Eierbechersammlung fand sich in der Küche. Alles sehr gepflegt, sehr schön. Von jedem Zimmer machte er mit großem Zisch vom Blitzlicht eine Aufnahme.

Er musste sich durch die Zimmer regelrecht schlängeln, denn immer standen, kamen oder gingen Polizeibeamte durch die Wohnung.
„Tut mir leid(Komma) alter Freund, aber das ist eine natürliche Sache. Kein Fremdverschulden. Habe es auch erst gerade gehört.“, mit diesen Worten legte sein Freund (ihm) eine Hand auf seine Schultern (Schulter, sonst haut das mit einer Hand nicht hin. ;) ) und begrüßte ihn.
„Wie könnt ihr das so schnell wissen? Die Puppen hier in den Regalen, Vitrinen und, und, und sind vielleicht eine Menge wert? Das ist doch ein Motiv?“
„Motiv?“, wiederholte sein Polizistenfreund leicht spöttisch. „Statt eines Motivs bräuchte ich erst mal einen Anhaltspunkt. Aber sieh dich doch selbst um; das ist alles so?(lieber drei Punkte anstelle des Fragezeichens)“, und er stockte kurz, „Das ist alles so bescheiden kitschig. Die Kleine hat die Welt“, (lieber Gedankenstrich als Komma) und dabei wischte er eine beschlagene Fensterscheibe ab, in dem er den Ärmel seines Mantels hochzog und mit dem Stoff das Glas frei rieb, (Gedankenstrich anstelle des Kommas) „als großen Feind erlebt und sich hier verbarrikadiert. Ein Berliner dreieinhalb Millionen Schicksal (ein Dreieinhalbmillionen-Schicksal in Berlin), wenn Du mich fragst.“ Dann drehte sich der Ermittler wieder um und fragte aufrichtig: „Currywurst?“

Statt einer Antwort kam das laute Pfeifen und folgende Zischen des Kamerablitzes. Damit war auch der Kommissar auf Platte gebannt. Dieser winkte aber nur kurz ab und konstatierte: “Mach Du hier Fotos, ich geh jetzt was essen. Willst Du nicht doch mitkommen?“ Er schüttelte den Kopf und drehte wieder an der Blitzlichtkurbel. Er brauchte noch ein paar Fotos, denn er traute der Friedlichkeit der Wohnung nicht und hatte, wenn es ausnahmsweise mal still war, ständig so ein störendes Geräusch im Ohr.


Sein Chef war über seinen Artikel nicht begeistert. Das sei bestenfalls ein Absatz, eine Fußnote aber auf gar keinen Fall mehr. Eigentlich sei es gar nichts. Dergleichen mehr vorbringend, wanderte der Chef durch sein Büro und beendete das Gespräch dann mit „Ach, alles dummes Zeug“, spannte seine Hosenträger und ließ sie mit ordentlichem Schmackes auf seinen runden Leib zurückschnalzen. Dabei grinste er noch feist.

Die kleine Story über die Tote ohne Hintergrund und Freunde, die jahrelang in einer Firma gearbeitet hatte, die selbst aber nur einen Vormittag brauchte um sie zu vergessen – denn das hatte der junge Mann alles fix recherchiert gehabt – war eigentlich schon für die Tonne produziert, als es sich ergab, dass doch ein Plätzchen frei geblieben war, weil eine Anzeige leider nicht geschaltet werden konnte. So rutschte Marianne doch noch auf Seite Sechs.

Wenig später, gleich am Morgen, kaum das (dass) er das Redaktionsbüro betreten hatte, tippelte ihm auch schon auf hohen Absätzen die Poststellenassistentin Zindy (Cindy?) hinterher, um ihm einen ganz frisch per Rohrpost eingetroffenen Leserbrief von Kapitän Rollo Brandt zu überreichen. Er schob lässig seinen breitkrempigen Hut aus der Stirn, lächelte sie an und bedankte sich etwas zu charmant. Zindy mit der Zahnspange, zog zu stark die Luft durch das Metall im Mund, verdrehte ihre Augen leicht und schaute dann verlegen zu Boden.
Mit einem „Man sieht sich, man liest sich“ gingen beide auseinander und während er seinen Trenchcoat an den Haken warf, träumte er noch ein wenig von einer Luftfahrt im Zeppelin mit Zindymaus.

Der Brief des Kapitäns Brandt enthielt die genaue Schilderung der Vorkommnisse auf Mariannens letzter Fahrt. Er war so gebannt von dem was er las, dass er die dissonanten Anschläge der zahlreichen Schreibmaschinen, die Ätherdurchsagen, das permanente Gequatsche seiner Kollegen und das regelmäßige „Fump-Geräusch“ (Anführungszeichen weglassen) der Rohrpost vollkommen vergaß. Denn der Kapitän lieferte ihm den Anhaltspunkt (Komma) den er brauchte für eine gute Story (den er für eine gute Story brauchte). Irgendetwas musste Marianne widerfahren sein.
Er nahm sich die Fotos der Wohnung noch einmal vor. Vor allen Dingen waren darauf Puppen, Figuren und Porzellangesichter. Und alle schauten wie Gespenster in die Kamera (Komma) mit starrem, totem Blick.
Das Schlafzimmer – wo man Marianne unter einem Berg von Decken gefunden hatte – war ein Puppenmausoleum. Ihm fiel auf, dass er ausgerechnet das (dieses) Zimmer nicht gut getroffen hatte. Er hatte auf den Bildern immer das Kopfteil des Bettes abgeschnitten. Und da erinnerte er sich auch wieder an dieses Geräusch, dass er, wenn es still geworden war, sofort im Ohr gehabt hatte. Er musste noch mal an den Ort des Geschehens, das war ihm jetzt klar. Wenn, so glaubte er, war dort der Schlüssel ihres Todes zu suchen.


Kurz darauf saß er wieder in seinem Kabinenroller und fuhr zu Mariannens Wohnung. Er hatte einen Termin mit dem Hauswart gemacht, der ihm für ein wenig Schmalz – „Für fünf Minuten und keene Sekunde länger, Meister“ - die Wohnung öffnen wollte.

Ohne den Trubel der Beamten war wieder Stille in das Wohnhaus eingekehrt. Schon das Knarren der Stiegen im Treppenhaus und das Aufschließen der Wohnung kam (kamen) schon einem Erdbeben gleich. „Aber fix jetzt“, beeilte sich der Hauswart noch zu sagen, als er sich den Schmalz (die Knete? Vermeidung der Wortwiederholung) in seine Gesäßtasche steckte und die Tür für ihn aufschob. Der Reporter bat ihn, durch eindeutige Zeichen (Komma) ab jetzt doch bitte den Mund zu halten.

Im Flur hörte er es noch nicht. Aber als er die Stube betrat und von hundert toten Augenpaaren begrüßt wurde, da hörte er es wieder: ein Ticken, ein Klicken, ein Wispern.
Während er die Puppen inspizierte, fiel ihm auf – er war sich nicht sicher – dass alle Puppen leichte Macken hatten und er wettete, dass die bunten, hübschen Sachen, die sie trugen, wahrscheinlich von Marianne alle selbst genäht worden waren. Vermutlich hatte sie sich auf den zahlreichen, hiesigen Trödelmärkten mit diesen Geschöpfen versorgt. Kleine Buben und Mädchen, das war ihr Hauptsteckenpferd.
Er ging ins Schlafzimmer. Hier das gleiche Bild: Buben- und Mädchenpuppen dicht an dicht. Sie schauten alle aufs Bett, das fast ganz an der Wand stand. Aber es blieb noch soviel (so viel) Platz zwischen Bett und Wand, dass an der Kopfseite, wo ein Nachtisch hätte stehen können, ein schöner Holzstuhl mit Korblehne stand auf dem ein Clown saß. Ein stattlicher Bursche mit einer knallbunten Mütze, der mindestens dreiviertel Meter maß, wenn man ihn aufrichtete.

Das Geräusch war im Schlafzimmer lauter geworden und als er auf die rechte Seite des Bettes ging, da spürte er an einer seiner Hände einen leichten, leisen Luftzug. Er hatte das Gefühl die Wand spräche zu ihm. Er bewegte sich noch mehr in die Richtung des Clowns und als er zufällig am Mund der Puppe vorbei strich, da war ihm als hätte ihn der Clown selbst angehaucht, wenn nicht gar gesprochen.
Ausgerechnet jetzt musste sich der Hausmeister melden und mit säuerlichem Hüsteln und Geraunze auf sich und den überfälligen Abmarsch aufmerksam machen. Er wies - mit unmissverständlicher Gestik - den unmöglichen Mann wieder an, absolute Ruhe einzuhalten.

Als er das Geräusch wieder hörte, zog er schnell seinen Schellackaufnahmeapparillo heraus und hielt etwas tattrig den Lauschtrichter direkt vor den Mund des Clowns und betete, dass der Wart sich noch ein paar Augenblicke gedulden würde. Er bemerkte dabei, dass auch der Clown eine kleine Macke in Form eines Loches hatte.

„So, nun reicht ditt aber. Schluss der Vorstellung. Ick komm in Teufels Küche, wenn ditt einer rauskriegt.“
Er nickte, fügte sich und hoffte, dass er das Geräusch auf der Schellackplatte hatte.


Es war schwer, sehr schwer, überhaupt etwas zu hören. Verschwitzt saß er im trüben Licht der Schreibtischlampe vor einem großen Schallundfrequenzverstärker und trug die besten Kopfhörerpinnorecks (Kopfhörer-Pinoreks). Aber es war nur ein Rauschen und ein Knacken zu hören. Welche Frequenz? Welche Abspielgeschwindigkeit wählen? Die Apparillos taugten doch alle nichts. Seine Kollegen hatten schon die Segel gestrichen und waren sicherlich längst zu Hause oder noch auf einen Drink in der Pressebar. Vielleicht sogar mit Zindy? Er wusste aber, dass(dass= weglassen) wenn er etwas hören würde, dann wäre er auf Seite eins und könnte locker die Zeppelinfahrt mit Zindy berappen. Da war er sich ganz sicher und wollte sich auch schon wieder ärgern, dass er sich durch solcherlei Träumereien hat ablenken lassen, da hörte er plötzlich eine Stimme ganz leise sprechen:

„dubistverrücktmeinkinddubistverrücktmeinkinddubistverrücktmeinkind“

Er riss sich den Hörer vom Kopf. Verstört sah er auf den Verstärker. Er hatte die Lautstärke nicht verändert gehabt und trotzdem war der Satz in seinem Kopf immer lauter geworden.
Er schüttelte sich, stand auf und stemmte seine Hände in die Hüften. Was war geschehen? Wie war es möglich? Er fand nur eine Lösung:
Der Luftzug hatte den Clown zum Sprechen gebracht. Vermutlich war es nur ein dämlicher Leitungsriss, der für den Luftzug verantwortlich gewesen war. Überall waren hinter den Wänden Rohre für Heizung und Rohrpost verlegt worden . (Leertaste vor dem Punkt bereinigen)Ein kleiner Bruch oder ein kleines Leck ist schnell entstanden. So konnte die Luft durch die dünnen Wände zum Clown und durch die Macke in dessen Kopf einströmen und beim Austritt den Clown zum sprechen (Sprechen) bringen. Das war es. Anders konnte es nicht sein.

Beflügelt (Komma) das Rätsel gelöst und eine Geschichte zu haben, setzte er sich wieder ans Pult und fing an alles aufzuschreiben. Mittendrin überlegte er wie er die Fotos arrangieren könnte und da fiel ihm auf, dass er immer noch kein Bild dieses Clowns gemacht hatte - mit seinen weißen Handschuhen, seinen großen Latschen und seiner bunten Mütze. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und schimpfte über seine Dämlichkeit. Aber es half alles nichts: er musste noch mal raus. Wenigstens für ein Foto vom Clown.

Der Hausmeister war gar nicht amüsiert und verlangte eine noch unverschämtere Prämie. Doch wer mit Zindy in den Zeppelin will, muss Einsatz zeigen, sagte er sich und setzte alles auf diese Karte.

Spät in der Nacht schloss ihm der Hauswart - „Aber nur für ein Foto, Meister.“ - die Wohnung wieder auf und zum dritten mal (dritten Mal) betrat er sie.
Hastig stürmte er ins Schlafzimmer und bremste dort jäh ab. Der Clown war weg. Verschwunden. Nicht mehr da. Er war verzweifelt.
„Wo ist der verdammte Clown? Was haben Sie mit ihm gemacht?“, fuhr er den Mann wütend an.
„Nana, Jungchen. Mach mal halblang. Watt denn für ’nen Clown? Ick seh hier nur einen Clown und ditt bist Du. Und Du machst jetzt nen Abgang aber pronto, sonst setzt es was.“


Zurück auf der Straße, bei sternenklarer Nacht, setzte er sich frustriert vor Mariannens Wohnhaus auf den Bordstein. Die Story war hin, das war nun klar. Er hatte seinen Hut abgenommen und drehte ihn missmutig zwischen den Händen. Er schaute verzweifelt zum Himmel, und sah in diesem Moment den Schatten eines Zeppelins, der am Mond vorüber fuhr. Auf seine Fahrt mit Zindy, in diesem oder einem anderen Zeppelin, musste er noch warten.

 Lala meinte dazu am 05.06.12:
Hallo Isaban,

so, endlich, endlich bin ich dazu gekommen Deine Vorschläge und Verbesserungen, Dein gelungenes Lektoriat einzuarbeiten. Aber nicht nur der Pinnoreck blieb denn ich orientierte mich hieran: http://www.ruhrgebietssprache.de/lexikon/pinnoreck.html. Der Leiterwagen aber verschwand natürlich. Ja, es soolte eine leisere Geschichte sein und trotzdem märchenhaft, verzaubert. Daher muss das Weiß bleiben. Sie ist schließlich eine Prinzessin und möglicherweise, ist sie unter dem Kittel doch nackt? Ich weiß es nicht.

Danke für Dein Kompliment und die Überarbeitungen. Jetzt habe ich noch eine lange PN vor mir,welche sich auch ausgiebig mit dem Text beschäftigt hat. D.h. es kann sich noch mal was ändern.

Gruß

Lala

 Dieter_Rotmund (30.05.12)
Hat was von Siegfried Lenz, erreicht aber nicht ganz dessen Klasse...

 Lala antwortete darauf am 05.06.12:
Ein großes Lob! Danke Dir.
gaby.merci (61)
(02.10.12)
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