II.
 Inhalt 
IV. 

III.

Erzählung zum Thema Erziehung

von  Lala

Am nächsten Tag fasste ich einen heimlichen Entschluss: Von nun an wollte ich alles mit links machen. Nach nur wenigen Wochen stellte ich fest, welche Fortschritte ich gemacht hatte. Meine Schrift entwickelte und verbesserte sich. Mit jeder Zeile, die ich mit links schrieb, stieg mein Selbstbewusstsein. Jede Zeile, die ich schrieb, veränderte, ja befreite mich. Es ging wie von selbst, dass die Menschen mir auf einmal näher waren als je zuvor. Ich konnte mit ihnen über alles Mögliche reden und in einer Diskussion, die ich früher nur über Dinge, aber nie über Menschen geführt habe, verzichtete ich freiwillig auf das letzte Wort. Der Witz war, dass Anne überhaupt nicht mitbekam, dass ich dabei war meine Händigkeit wieder zurückzustellen. Natürlich lag es auch daran, dass ich wenige Monate nach meinem Entschluss, einen Studienplatz erhalten hatte und in eine WG in einer anderen Stadt gezogen war. So besuchte ich sie nur noch hin und wieder. Sie war aber glücklich, dass ich endlich aus mir herausgefunden hatte. Warum das so war, wollte sie nicht erkennen. Allerdings schockte ich sie noch einmal, als ich kurz darauf auch aus der Kirche austrat. Sie hielt es einen Monat lang durch, mich zu verstoßen, danach nahm sie den Hörer ab und redete mit mir und ich durfte sie auch wieder besuchen.

Ich studierte zu dieser Zeit Architektur. Das Fach erschien mir damals goldrichtig zu sein. Es erforderte Pedanterie, Perfektionismus im Detail und war mathematisch anspruchvoll. Ich liebte den Bauhausstil und seinen Funktionalismus. Alles Überflüssige war dort gestrichen. Je mehr ich aber meinem neuen Steckenpferd – dem linken Leben – frönte, desto häufiger langweilte mich auch das Alte. Neugierig betrat ich neue Welten und war offener, etwas auszuprobieren.

So nahm mich eines Tages ein Kommilitone zu einem Zeichenkursus der Volkshochschule mit, der neben Zeichenübungen auch Selbsterkenntnis versprach. Natürlich hatte ich in meiner Vergangenheit schon gemalt und gezeichnet. Recht passabel sogar, wobei ich mich ausschließlich auf das Abzeichnen konzentriert und mich für perspektivische Raffinessen interessiert hatte.
Zwar hatte ich eigentlich komplett auf links umgestellt, aber bei den Zeichnungen in den Seminaren und Übungen für das Architekturstudium vertraute ich – weil es um Exaktheit ging - weiterhin der rechten. Der Volkshochschulkurs schien mir eine gute Gelegenheit zu sein, meine linke Hand weiter zu trainieren, um sie bald auch an der Uni einsetzen zu können.


„Schließt bitte die Augen. Versucht alles um Euch herum zu vergessen. Macht Euren Kopf leer. Lasst Euch fallen. Leere ist der Beginn allen Schaffens. Wir wollen einen leeren Kopf, ein leeres Blatt.“ Immer monotoner werdend sprach die Lehrerin des Kurses weiter und ich ließ mich auf dieses Spiel ein.

„Provoziert keinen Eindruck, provoziert keine Erinnerung. Sucht nichts. Lasst das Bild Euch finden.“

In diesem Moment hörte ich den Klang von Dads Spieluhr und ich sah die fiedelnde Fee und wie sie sich im Kreis drehte. Ja, ich sah sogar ihr Gesicht. Es war meinem eigenen ganz nah, so als würde sie mich betrachten und ich stünde auf dem sich drehenden Karussell.

Darauf hatte es die Kunsterzieherin und Meisterin irgendeiner fernöstlichen spirituellen Yoga-Tantra-Vertiefungslehre abgesehen - ein kräftiger Eindruck, ein Gedankenflash aus dem Nichts. Diesen Eindruck, sofern erfahren, sollten wir erst mit dem Herzen festhalten und ihn dann aufs Papier bannen.

Meine linke Hand zeichnete das Gesicht der Fee. Meine linke Hand wusste, dass sie nicht links oben, in der Ecke anfangen musste, um zu zeichnen, so wie es die meisten Rechtshänder tun; stattdessen eroberte sie das Gesicht der Fee von der Mitte aus und malte wie in Trance.

„Wow. Wer ist das denn?“
Ich bekam erst gar nicht mit, dass Eric mit mir über mein werdendes Bild sprach.
„Na sag schon. Ist das deine Freundin? Nee, dazu ist das Mädel auch zu jung. Warum hast Du eigentlich keine Freundin?“
„Halt die Klappe, stell Dir nicht irgendwelche Fragen und mach mal einen Punkt! Ich weiß nicht, wer das ist. Das Gesicht war auf einmal da. Es war das Gesicht einer Fee.“

Eric sagte nichts mehr und sah mich mit großen Augen an. Langsam wurde mir bewusst, was er da wahrscheinlich missverstand und ich entschloss mich, ihm die Geschichte von der Spieluhr zu erzählen. Aber irgendwie wollte er nicht verstehen.

„Du erzählst mir, Dein Vater hat gerne mit einer Spieluhr gespielt? Und das Gesicht hier, ist das Gesicht einer Figur von der Spieluhr? Was für Drogen nimmst Du?“
„Du hast doch echt keine Ahnung. Das ist es, woran ich mich erinnere und nun ist Feierabend. Schnauze voll!“
Madame Yoga rauschte herbei und bat uns, doch nicht so aggressiv zu sein; wir würden die anderen stören.
„Kein Problem, ich wollte sowieso gerade gehen.“, murmelte ich. Kurz entschlossen raffte ich mein Zeug zusammen, rollte das Bild ein und verließ die Szenerie.

Schlechtgelaunt verbarrikadierte ich mich in meinem Zimmer in der WG. Nein, ich wollte nichts essen und ja, ich werde meinen Putzdienst morgen antreten. Ich war von den anderen so genervt wie damals, als mir jede Begegnung mit einem Menschen wie eine Prüfung erschienen war, wo ich mich immer zusammenreißen musste, um zu funktionieren. Ich atmete tief durch. Warum, zum Teufel, hatte ich mich so über Eric geärgert? Nebenbei holte ich das Bild aus der Tasche, rollte es auf, sah es an und wusste, dass Eric Recht und ich mich kindisch benommen hatte. Das Gesicht einer Puppe, einer Figur, sieht anders aus. Aber wer war sie?

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