Meeting der Gekreuzigten

Groteske zum Thema Emanzipation

von  Sanchina

Meine Zeitung hat mich als Berichterstatterin zu der Versammlung der Gekreuzigten entsandt. Wir hatten eine Einladung bekommen – ohne Ortsangabe, ohne Datum -, die mir der Chefredakteur auf den Schreibtisch schob mit der lapidaren Bemerkung: „saug' dir dazu mal was aus den Fingern. Es wäre eine Katastrophe, wenn die Konkurrenz etwas bringt und wir haben nichts.“

Die Gekreuzigten interessierten mich brennend und ich begann sofort, an meinen Fingern zu saugen und schrieb: „Der christlichen Kirche ist es gelungen, den Eindruck entstehen zu lassen, es habe nur drei Gekreuzigte gegeben und nur ein Kind Gottes, nämlich einen Sohn.“

Und dann war es mit dem Berichten auch schon aus und vorbei, denn ich ging hin.

Wohin?

Ich ging nirgendwo hin, sondern ich blieb, wo ich war, und schaute mich um. Golgatha ist überall. Es erstreckt sich weithin über Zeit und Raum und kennt keine Grenzen.

Natürlich war mir klar gewesen, dass ich es mit Toten zu tun haben würde. Gelächter lag in der Luft. Die Gemarterten erfreuten sich ihres Todes mehr als ihres Lebens je zuvor. Ich gesellte mich zu einer Gruppe von Frauen, die besonders laut lachten.

„Hast du vielleicht geglaubt, an den Kreuzen hingen nur Männer?“ fragten sie mich. „Dachtest du etwa, sie hätten die Frauen verschont?“

Das Gegenteil sei der Fall gewesen! Die Frauen waren doch die erbittertsten Gegnerinnnen der römischen Herrschaft gewesen, erfuhr ich. Vor der Zeit der Eroberung drehte sich doch alles um die weibliche Seite des Lebens. Die Gebärerin garantierte den Fortbestand von Mensch und Welt. Die Frau war Mutter, Tochter, Tote und Göttin zugleich, überall, bei allen Völkern der Erde. Jede Frau war ein Ausdruck der Gottheit, aber nirgendwo war sie Herrscherin.

Herrschaft ist eine späte Erfindung, Kopfgeburt des Patriarchats und Legitimation für brutale Gewalt. Und nur mit brutaler Gewalt waren die Frauenreiche zu besiegen, denn sie waren stabil, weil sie auf Respekt beruhten. Dies war durchaus nicht ihr Geheimnis, sondern ihre Selbstverständlichkeit.

Durch die Kreuzigungen der Mütter wurde diese Selbstverständlichkeit erschüttert und jeglicher Respekt gebrochen. Wer hat denn noch Respekt vor einer Jammergestalt, die am Kreuz hängt und den Martertod stirbt? Da empfindet man Mitleid und Grauen, auch Angst, aber keinen Respekt mehr.

Eine Gekreuzigte zog mich beiseite und fragte mich, wie die Welt sich denn weiter entwickelt habe, nachdem die Göttin besiegt worden war. Ich erzählte ihr von den nie endenden, immer grausamer werdenden Kriegen, von rücksichtsloser Machtausbreitung, von Auschwitz und Völkermord. Sie meinte gelassen: „genau so haben wir uns das vorgestellt.“

Dann entdeckte sie mein goldenes Kreuz, das ich an einem Kettchen am Hals trug. Neugierig befingerte sie meinen Schmuck und bemerkte: „das sieht ja fast wie so ein römischer Galgen aus.“

„Das ist so ein Galgen,“ bestätigte ich. Ich könnte mich heute noch dafür ohrfeigen, dass ich es nicht abgenommen hatte. Ich kam mir vor, als wäre ich mit einem Hakenkreuz am Hals zu einer Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus erschienen. Genau diesen Gedanken hatte auch die Gekreuzigte: „Häng dir doch den Spruch 'Arbeit macht frei' auf die Brust, das wäre zeitgemäß. Auschwitz ist euer Golgatha!“

Ich lief feuerrot an und musste mich setzen. Die Gekreuzigte ließ sich neben mir nieder und nahm meine Hand. „Du musst das vernichten,“ verlangte sie in aller Ruhe. Ich griff nach dem Kreuzchen und riss es mir mit einem Ruck vom Hals. Und dann spürte ich die Berührung der fleischlosen Finger. Nie war mir wärmer als in dem Moment, als ich die Hand der Toten hielt.

„Erklärst du mir bitte, warum du das trägst,“ bat sie mich. Ich erzählte von Jesus Christus, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist.

„Bei der Göttin, so ein Blödsinn!“ flüsterte die Tote und strich sich mit der Hand über die Stirn, als wollte sie sich Schweiß von ihrem Schädel wischen. Dann drehte sie sich halb zu den anderen um und rief ihnen zu: „Könnt ihr mal Joschua holen?“

Joschua kam und erfuhr nun von mir, wie berühmt er geworden war. Ich sah zu ihm hoch. Er musste ein großer, kräftiger Mann gewesen sein, denn er war immer noch ein stattliches Skelett.

„Herr, wir beten zu dir,“ erzählte ich ihm. Das verbat er sich energisch. „Nenn' mich nicht Herr! Ich war nie ein Herr und wollte nie einer sein. Ich heiße Joschua, ganz einfach Joschua.“

Die Bezeichnung „Herr“ war für die unterjochten Völker ein Schimpfwort.

„Aber du hast doch den Glauben an Gott, den HERRN, begründet,“ hielt ich ihm vor.

„Nein, das hast du völlig missverstanden,“ korrigierte er ruhig. „Ich habe immer gesagt, dass es nur eine Gottheit geben kann und nicht einen Gott oder eine Göttin, denn das wäre ja eine halbe oder eine doppelte Gottheit. Ein männlicher Gott ist ein halber Gott, also kein Gott. Dasselbe trifft auf eine Göttin zu. Nur zusammen können Gott und Göttin die Gottheit bilden. Das ist doch eine Binsenweisheit.“

Nun erschien mir die Lehre von Vater, Sohn und dem angeblich heiligen Geist suspekter denn je. Joschua konnte anscheinend meine Gedanken lesen, denn er fragte mich: „bist du zwei, nur weil du einen Geist hast, der dich befähigt, zu denken?“

Die Gekreuzigten lachten. Ich lachte mit. Es war so befreiend, unter ihnen zu sein. Am liebsten wäre ich gleich bei ihnen geblieben.

„Warum habt ihr zu diesem Meeting geladen?“ wollte ich nun doch noch wissen, denn ich merkte, dass sie nicht mehr litten. Sie waren tot, fröhlich und frei. Die Welt der Lebenden interessierte sie nicht mehr sehr.

Eine der Frauen antwortete mir. Sie musste ein hohes Alter erreicht haben, denn sie war ziemlich morsch. Als ich ihr tief in die Augenhöhlen blickte, bemerkte ich darin Risse und Löcher. „Wir möchten, dass du die Kunde verbreitest, dass der Martertod uns nicht besiegt hat; dies ist unser Auftrag an dich,“ sprach sie zu mir.


Der Chefredakteur zerriss meinen Artikel freihändig in der Luft und schrie wütend: „Das ist Häresie! Wir legen uns doch nicht mit den Kirchen an!“ Dann schrieb er den Vierzeiler, der in der Wochenendausgabe erschien, von eigener Hand. Die Luft war vom Gelächter der Toten erfüllt.

Ich fühlte mich mit den Gekreuzigten einig. Golgatha ist überall.

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Kommentare zu diesem Text


 toltec-head (12.03.13)
Eine würdige Fortsetzung der Erzählung über den Großinquisitor aus Dostojewskis Brüdern Karamasov.

Durchweg gelungen.

 Sanchina meinte dazu am 14.03.13:
Ich danke dir! Das ist ja ein großes Kompliment. Gruß, Barbara

 kirchheimrunner (29.04.13)
Gelungen, wirklich gut gelungen.
Auch wenn ich in Vielem ganz anderer Ansicht/Meinung/Lebenshaltung bin, als die Botschaft des Textes..

Du hast Phantasie und eine Message. Was du sagst muss ja auch einmal so gesagt werden. Da sind so viele Akzente dabei, die auch einen Andersdenkenden (also mich) zum Nachdenken bringen.

Manches mal geht dir die Empathie durch... aber das soll ja so sein, bei engagiert geschriebenen Texten..

Also, der Text ist wirklich eine Empfehlung wert.

(P.S. schau doch mal nach, einmal... hast du Gotheit, statt Gottheit geschrieben...)

L.G. Hans

 Sanchina antwortete darauf am 29.04.13:
danke! Ich bin selbst ja auch ganz anderer Meinung ....
Gruß, Barbara

 EkkehartMittelberg (21.08.13)
Ein aufrüttelnder emanzipatorischer Text, den ich leider jetzt erst entdeckt habe.
LG
Ekki
hugoedgar (71) schrieb daraufhin am 14.12.13:
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Abulie (45)
(26.12.13)
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 franky (27.12.13)
Hi lieber Sonnenschein,

Ein Text von dir ist interessanter und spannender als der andere.
Die Stelle mit „Joshua“ hat mich besonders beeindruckt. Das sind Gedankengänge wie sie auch ich verfolge.

Herzliche Grüße

Von Franky
Dieter Wal (58)
(30.01.14)
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 Ganna (02.02.14)
...dieser Text sagt mir, auch ich werde einst zu den Gekreuzigten gehören...und das ist gut so...wirklich gelungen!

...ich lache mit...
LG Ganna

 Dieter_Rotmund (17.03.14)
Nicht schlecht, hat aber stellenweise was von polemischer Brandrede, z.B. "Herrschaft ist eine späte Erfindung, Kopfgeburt des Patriarchats und Legitimation für brutale Gewalt", das ist doch etwas arg einfach, oder?
Etwas schade finde ich auch, dass für die Protagonistin Kreuzigung allein in einem christlichen Kontext besteht - als hätte die Christen quasi ein Kreuzigungsmonopol... Wennschondennschon: Ich würde dann noch einfügen, dass es kurz vor Ostern ist und der Artikel an Karfreitag erscheinen soll.
Der "journalistische" Teil ist gut gelungen, finde ich.

 Dieter_Rotmund (10.08.14)
Geschichte über eine Redaktionspraktikantin, die bei einem Auftrag die journalistische Distanz verliert... Gerne gelesen, auch wenn ich den Haupt-Mittelteil etwas zu lang und als leicht fahrig empfinde.
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