Barfuß

Bild zum Thema Ansichtssache

von  Muuuzi

Eigentlich hatte ich einen so schmalen Kopf noch niemals gesehen. Er sah aus wie ein zu dünnes Ei, das sich vergeblich in eine Klopapierrolle zwängen wollte, und versehentlich stecken blieb und deshalb seine eigentümliche Form behielt.

„Alles ist gut, ich werde dann einfach die losen Blätter der Bäume in den Ofen stecken, die brennen am besten!“, sagte er zu sich selbst und steckte das Geäst liebevoll in den brennenden Ofen, wenn es draußen kalt war. Er mochte den Duft des Feuers. Es roch nach Fantasie und dessen Erbe.

Er war noch nicht alt und dennoch hatte er eine Rundkopfglatze, die von langen, grauen und unzähmbaren Haaren umzingelt war. Wie kleine Schwerter verteidigten sie sich vor dem kahlen Nichts im Mittelpunkt seines Scheitels. Ich mochte sein Lachen, auch wenn seine Zähne nicht zahnradartig angeordnet waren und sich um die vordersten Reihen stritten. Er sprach kaum, da er ein stiller Nichtsprecher war, der die Anwesenheit anderer Leute zwar schätzte und auch ihren Problemen lauschte, aber nicht unbedingt brauchte. Er hatte nicht viele Menschen, denen er ein guter Zuhörer sein konnte. Er war ein Einsiedler, ein sich selbst ins Abseits Gestoßener. Oft ließ er den Eierkopf einfach nicken oder starrte einfach auf seine nackten Füße. Er wohnte in einem blauen Haus und verbrachte dort sein breiartiges Leben. War das der Grund, warum man ihn Brian nannte? Brian, wie Brei? Womöglich. Wer weiß das schon? Die Leute redeten viel.

„Warum hast du keine Schuhe an?“, fragen ihn die Kinder aus dem Dorf.

„Ich brauche sie nicht!“, erwidert er ihnen ruhig.

„Warum bist du so groß?“, fragen sie wieder.

„Weil ich so gewachsen bin!“, sagt er in verständnisaufbringenden Ton.

Dann gaben sie für eine Zeit lang Ruhe und verschwanden. Doch die Kinder fanden ihn, Brian, zu interessant, um ihn in Frieden lassen zu können und warteten geduldig hinter seinem Gartenzaun, in der Hoffnung, ihn zu entdecken. Er war anders, als die Männer im Dorf. Brian war nichts Besonderes, und doch trug er etwas davon auf seinem Ich. Seine Augen trugen blauumrandete Farbspiele und tanzten vergnügt mit den Perlen, die darin zu liegen schienen und doch kümmerten sie sich nicht um die Außenwelt.

Er wusste, dass sich die Kinder gerne auf seinem Grundstück aufhielten und auf ihn warteten.
Er beachtete sie nicht, die närrisch waren und sich nicht die Mühe machten, sich ordentlich zu verstecken. Laut lauerten sie auf ihn und starrten auf seine gewaltlose Größe. Er sah sie nicht an, denn er wollte sie nicht sehen. Ruhig ging er seinen Pflichten nach, die draußen getan werden musste und stellte sich den Kindern notgedrungen zur Schau. In seinem Inneren fühlte er sich zutiefst unbehaglich und trug sogar eine umhüllende Angst in seinen Gliedern, ausgelacht zu werden, auch wenn es ihm nicht allzu wichtig erschien. Die Tage trabten vorbei und er fing an, sich immer weniger an den Kindern zu stören, die dieses Versteckspiel bald zu ihren Alltag machten.

„Wenn sie gerne wollen und nichts Besseres zu tun haben, als einen alten Mann anzustarren, sollen sie es nur tun!“, sagte er zu sich.
Er rechte gerade das trockene, tote Laub, das müde von den Bäumen fiel und mähte anschließend den Rasen, denn dieser hatte einen Kurzgrasschnitt nötig. Manchmal gähnte er herzhaft und setzte anschließend seine Arbeit weiter fort.

Ab und zu traf er eine Frau, die von exotischer Herkunft zu sein schien. Sie war klein, bunt und trug fernöstliche Augenformen. Sie brachte ihm Milch und Fleisch und blieb für einige Zeit. Er zog die Vorhänge zu, damit man sie nicht stören würde. Dann wurde es den Kindern meist zu langweilig, da mehrere Stunden dabei vergingen und sie kehrten seinem Haus bald den Rücken, als sie fortgingen.
Irgendwann steigerte sich ihre Neugierde und wurde zur regelrechten Besessenheit. Auch ihr Ton verwandelte sich in unbehaglichen, siegessicheren und frechen Übermut. Respekt und Toleranz hatten sie sich von Tag zu Tag gründlicher von ihren Schultern gefegt.

„Warum bist du so groß, du hässliche Krähe?“, fragten sie unter Gelächter. „Antworte doch!“

Der Mann schwieg für einen Moment, ehe er antwortete.

„Weil mich Gott so gemacht hat!“, antwortete er schlicht. Er kannte ihre Fragen, da sie diese beinahe jeden Tag stellten. Den Sinn dafür hatte er nie erfahren.

„Zieh doch Schuhe an, du Idiot oder merkst du nicht, wie kalt es inzwischen geworden  ist?“,
schrien sie mit hohem Hohn.

„Ich brauche sie nicht. Auch nicht im Winter. Mir ist nicht kalt!“, erwiderte er ruhevoll und ausdauernd.

Dann lachten sie und fragten sich, ob er nicht ganz richtig im Kopf wäre. Sie gingen plappernd und grinsend davon.

Er konnte ihre Worte hören, doch das machte ihm nichts. Schließlich war es die Wahrheit, die er ihnen preisgab. Er brauchte sich für seine Art nicht zu schämen, da er so war, wie er wirklich war und noch immer ist. Für viele Menschen war das nicht so einfach, da die Gesellschaft, in der sie sich aufhielten sie zu langweiligen Normalen formte, die ihren Widerstand und Eigensinn längst verloren hatten. Die Jungen lachten noch lange, doch in seinem Inneren wusste der Mann, dass sie es waren, die Mitleid brauchten, nicht er. Er ging ins Haus zurück und ging früh zu Bett. Er dachte noch lange über die Kinder nach, doch bald wurde er zu müde und schlief ein.

Eines Tages geschah ein blutiger Unfall. Einer der Jungen, der mit Spott auf den hageren Mann blickte, lag blindgeworden in seinem Krankenbett. Er jammerte und weinte mitleiderregend. Brian besuchte ihn und antwortete ihm mit ruhiger Stimme: „Bleibe tapfer, mein Junge. Nicht zu sehen, heißt nicht, nichts zu sehen. Auch ich bin blind. Ich trage keine Schuhe, da ich ohne sie die Welt fühlen kann.“

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Kommentare zu diesem Text


 franky (19.11.13)
Hi liebe Steffi,

Deine Geschichte läuft so leichtfüßig, ob wohl ganz tiefe Gedanken versponnen werden.
Mein blinder Betreuer für PC hat neuartige Schuhe, mit ganz dünner sohle, damit kann er besser die Markierungen auf Straßen und Bahnhöfen erfühlen.

War gerne bei dir zu Gast.

Herzliche Grüße

Von Franky

 Lluviagata (19.11.13)
Ein gut zu lesender Text, der mir ob seines verblüffenden Endes sehr sehr gut gefällt. Und weil er eine unaufdringliche Moral vermittelt, die mehr als liebenswert ist.

Darf ich dir ein paar kleine Sachen zeigen, die mir aufgefallen sind?

- [Oft ließ er den Eierkopf einfach nicken oder starrte einfach auf seine nackten Füße.] Hier hast du zwei Mal "einfach" geschrieben.

- [Ab und zu traf er eine Frau, die von exotischer Herkunft zu sein schien. Sie war klein, bunt und trug fernöstliche Augenformen.] "Augenformen tragen" ist ein mir fremder Begriff. Und klingt gestelzt. Entweder man hat diese Augenform von Geburt an oder sie schmücken einen.

- [Einer der Jungen, der mit Spott auf den hageren Mann blickte, lag blindgeworden in seinem Krankenbett.] Hier würde ich den Spott in die Vergangenheit versetzen. [Einer der Jungen, der einst/noch gerstern mit Spott auf den hageren Mann blickte/geblickt hatte, lag blind "erblindet" geworden in seinem Krankenbett.]

Liebe Grüße
Llu ♥

 AZU20 (19.11.13)
Der Text hats in sich. LG
Scrag (28)
(19.11.13)
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 Dieter_Rotmund (18.09.18)
Ist mir an vielen Stellen zu kitschig-rosarot, so vom Geist getragen des naiven "Kindermund-tut-Wahrheit-kund". Die Hauptfigur ist zu sympathisch gezeichnet, als schrullig-liebenswerter Dorfältester, achso weise. Einzig die "Frau, die von exotischer Herkunft" verspricht Brechung, innere Konflikte etc., aber dieser Handlungsstrang wird abgewürgt.
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