Frida

Bild zum Thema Abhängigkeit

von  Muuuzi

Die Frau um die Sechzig kam jeden Morgen in die Kaffeestube, um ein ausgiebiges Frühstück einzunehmen. Am liebsten waren ihr die ofenwarmen Croissants, die sie mit einer Tasse Kaffee genoss. Ihr Mops namens Hannibal begleitete sie jedes Mal auf einer dieser Besuche.  Oft versuchte er, eine kleine Scheibe Salami zu ergattern. Sie hielt ihn aber mit einer eleganten Zurückweisung davon fern. Stattdessen bekam er eine schön verzierte Schüssel Wasser.
Die Frau war noch schön. Sie hielt viel auf ihr Äußeres. Ihre blonden Haare waren modern geschnitten. Auch ihr Kleidungsstil ließ darauf schließen, dass sie zwar edel, nicht jedoch alt geworden war. 
Ihre Augen musterten den jungen Kellner, der sie höflich anlächelte und fähig war, ihr stets neue Wünsche von den Augen ablesen zu können. Er redete ihre Sprache nicht sehr gut, da er aus dem weiten Süden herkam, doch verstand er sie auch ohne diese. Oft brachte er ihr neue Variationen verschiedener Brötchen, die er am frühen Morgen nur für sie belegt hatte. Kaviar, Oliven, eingelegte Tomaten oder Weichkäse aus Frankreich kostete sie am liebsten.
Sie biss nur sehr vorsichtig in diese Brötchen, um den dezenten Lippenstift nicht zu verwischen, den sie an den Morgenstunden zu tragen bevorzugte.
Hannibal mochte den Kellner nicht, da er niemals in den Genuss dieser Brötchen kam.
Der Mops winselte und jaulte, doch blieb er von den beiden stets unbemerkt.
Hannibal war schon ein alter, bereits etwas dicklich gewordener Hund, der den Großteil seines Lebens bei ihr verbracht hatte. Die Frau holte ihn nach dem Tod ihres Mannes.
Dieser starb vor zehn Jahren an einem selbstverschuldeten Erhängen. Sie hatte ihn damals in ihren gemeinsamen Schlafzimmer gefunden. Sie verzieh es ihm nicht, dass er sich keinen neutraleren Ort für seinen Suizid ausgesucht hatte. Sie konnte es bis heute nicht verstehen.
Seitdem sieht sie ihn jede Nacht vor sich am Strick taumeln, wenn sie sich in ihr schmales Bett gelegt hatte.
Am nächsten Morgen ist er jedes Mal wieder ganz verschwunden.
Er war kein frommer Mann. Er liebte seine Frau, doch konnte er sein eigenes Wesen nur sehr schwer ertragen. Er sprach kaum und arbeitete bloß. Freunde hatte er nur wenige. Die Menschen erkannten in ihm einen Sturen, der sich für sie niemals zu interessieren schien. Heinrich hinterließ seiner Frau keine Schulden, nur einen kleinen Brief mit aussagelosen Abschiedsworten, die sie nur ein einziges Mal gelesen hatte. Seitdem liegen die geschriebenen Zeilen in ihrem Nachtkästchen, die niemals wieder von einem Menschen gelesen wurden.
Die Frau hatte keine Kinder oder andere Verwandte, die sie gerne besuchen konnte. Auch waren ihre Freundinnen längst zu langweilig, sodass sie mit ihnen kaum noch etwas gemeinsam hatte und nur sehr selten besuchte. Sie sprachen alles Gesagte ein zweites oder gar ein drittes Mal zueinander. Alle Worte, Sätze oder Aussagen waren schon zu oft erwähnt. Sie kannten ihr Verhalten und wussten, wie die Gegenübersitzende reagieren würde.  Also schwiegen sie bei solchen Teekränzchen und lächelten dumm, wenn sich ihre Blicke trafen.
Es machte ihr nichts aus, dass sich ihr Leben in einem Brei dahinzog, den sie nicht bestimmen konnte. Sie ertrug es, dass sie kein Ziel verfolgen musste. Es war für sie sogar eine Leichtigkeit, auf keinen höheren Sinn angewiesen zu sein. Die täglich immer wiederkehrende Ordnung in ihrem Leben machte sie zufrieden. Sie wollte nichts mehr von der Welt sehen, auch wenn ihr die Stadt, in der sie schon 40 Jahre lang lebte, überdrüssig geworden war. Weggehen wollte sie dennoch nicht.
Auf die liebevoll hergerichteten Brötchen würde sie niemals wieder verzichten wollen.

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