Kartographieren
Mein Winkelmesser bietet gerade Linien, und mein Zirkel zieht klare präzise Kreise.
Unregelmäßigkeiten kann ich nicht zulassen.
Als ich heute morgen ein schönes, ebenmäßiges Grundstück einzeichnen will, fällt mir auf, dass mein Herz rast, während ich den Zirkel auf das Karopapier setze.
Heute Nachmittag um 15 Uhr finde ich nach meinem klar umrissenen Plan Zeit, den Kardiologen aufzusuchen, der mir das EKG mit lauter Sinuskurven zeigt. Sie gefallen mir nicht, weil sie keine regelmäßigen Kreise darstellen. Doch der Arzt ist eher beunruhigt, weil die Kurven unregelmäßig verlaufen. ,,Starke Herzrhythmusstörungen!", konstatiert er und will mich sofort in die Klinik überweisen. Ich lehne ab, bitte aber um einen Ausdruck der Sonographie: ein Herzbild, und nehme außerdem graue kreisrunde Tabletten in Empfang. Der Ausdruck zeigt mir einen unregelmäßigen Gegenstand, und ich lege daher zuhause, am Schreibtisch, den Winkelmesser auf das Bild, um aus dem Herz einen exakten Kreis zu machen. Ich setze den Zirkel auf die Mitte des Wulstes, um einem Kreis das Herz einzuverleiben. Schließlich richte ich auch noch die Zirkelspitze auf mein pochendes Herz und drehe in der Luft einen Kreis. Es tropft ein wenig Blut herab.
Mein Herz holpert zunehmend. Ich muss ohnmächtig geworden sein. Als ich aufblicke, sehe ich einen Monitor, auf dem ich eine absolute Nulllinie erkenne. Ich lache. Der Assistent des Notarztes schreibt in das Protokoll: Exitus. Besonderheiten: Außergewöhnlich friedliches Lächeln.
Schemenhafte Gestalten kommen mir entgegen. Mein Vater steht vor mir und spricht mich an. Ich antworte nicht. Er verschwindet. Dann will meine Mutter mich umarmen. Ich weiche zurück und drehe mich um. Ordnung muss sein. Ein Fenster wird geöffnet. Ich fliege hinaus und erhebe mich über Häuser, Bäume und Grundstücke hinweg. Da vorn liegt das Grundstück, das ich heute morgen vermessen habe. Die Eiche hinten links müsste man fällen: sie stört die Symmetrie. Ein paar Vögeln reihen mich in ihren Vogelzug in Richtung Südamerika ein. Sie schwatzen von einem Aufenthalt in Guatemala. Mit einer durchschnittlichen Jahrestemperatur von 14° Grad ist es hier doch wohl warm genug. Dann werde ich höher gehoben. Ein paar Hubschrauber - darunter ein Rettungshubschrauber- fliegen ihre Route. Weiter oben schießt an mir ein Düsenjet vorbei. Der Lärm stört mich nicht, dabei muss ich doch sonst nachts Ohrenschützer tragen, um dem Verkehrslärm zu entgehen. Ich fliege weiter und höher durch Schichten leuchtenden Blaus. Als ich mir meine Finger vor Augen halte, erkenne ich Flaum. Plötzlich höre ich ein Rauschen, das stärker wird, je höher ich fliege. Riesige Flügel breiten sich aus und fügen sich zu einem Dach über mir zusammen. Auch der Boden, der sich unter mir bildet, besteht aus einem Zusammenhalt von Flügeln. Ein Gesang erhebt sich. Ob sich die Töne in Dezibel messen lassen? Und die trigonometrische Darstellung ? ,,Willkommen im Cielo, Luciano! Wir erwarten Dich. Waren es nicht ein paar Schnitte zuviel in Deinem Leben?“, ruft eine glockenreine Stimme über mir.
,,Wie spät ist es?", frage ich. ,,Es ist 17.00 Uhr in der Zeit der Welt!" antwortet die Stimme. ,,Bei uns sind alle Lebenssekunden in diesem Kubus gefangen." Ein Stab zeigt auf einen Würfel vor meinen Füßen. ,,Jede wird gewichtet, keine verrinnt." Ich drücke meinen Rücken durch und gehe auf den Würfel zu. Er verschwindet. Ich bleibe stehen. Der Boden und das Dach sind wie aus Glas. Meine Flügel zittern. Ich bin allein.
Eine Weile halte ich mich nun schon hier oben auf. Aus der Vogelperspektive sehe ich eine Auffächerung vieler unregelmäßiger Felder, und ich habe weder Zirkel noch Lineal. Ich höre auch kein regelmäßiges Pochen mehr, nur sphärische Klänge. Für mich wurde eine angemessene Arbeit gefunden. In meinem neuen Aufgabenfeld glätte ich seit gestern Abend, 19.00 Uhr, Lebenswege.