Die gefesselte Fantasie

Erzählung zum Thema Fantasie(n)

von  EkkehartMittelberg

Die Fantasie fühlte sich schon seit langem ermattet und fand sich eines Morgens mehrfach gefesselt wieder. Sie glaubte zu träumen, und als sie sich bei dem Versuch, die Fesseln zu betasten, nicht regen konnte, musste sie sich eingestehen, dass ihr Zustand bittere Wirklichkeit war.
Sie überlegte fieberhaft, wer ihr das angetan hatte, aber es fiel ihr kein Feind ein, der dazu fähig gewesen wäre.

Nachdem sie lange erfolglos gegrübelt hatte, kam sie endlich auf die Idee, sich zu fragen, ob sie sich vielleicht in eigene Fehler verstrickt hatte.
Und sie kam als erstes auf die Bequemlichkeit. Ja, der Erfolg hatte sie verwöhnt. Früher hatte sie ihre Entwürfe geschliffen, bis sie sie für gut genug hielt, sie freizusetzen. Aber nachdem man ihr immer wieder Nachlässigkeiten verziehen hatte – schließlich war sie ja die Fantasie – wurde sie immer leichtfertiger und selbstzufrieden. Gerade hatte sie sich das eingestanden, als mit einem Klicken eine der Fesseln aus dem Schloss sprang.

Jetzt kannte sie den Weg der Befreiung und setzte die Selbstkritik konsequent fort. Es dauerte auch nicht lange, bis sie wusste, dass ihre zweite Fessel Anpassung hieß.Sie hatte einige Geschwister, die Genialität und die Originalität zum Beispiel, aber eine jede konnte nur frei sein, wenn sie auf dem Weg blieb, der zu ihrem Wesen passte. Natürlich orientierten sie sich aneinander, um Fehler zu vermeiden, doch sie alle wussten, dass sie sterben würden, wenn sie nicht eigenständig und unverwechselbar blieben. Als die Fantasie sich daran erinnerte, öffnete sich eine zweite Fessel.

Ja, die Geschwister mussten einander beobachten, um voneinander zu lernen, ihren eigenen Weg zu gehen. Sie freuten sich wechselseitig über ihre Erfolge. Doch das war nicht immer so. Wenn die Resonanz ausblieb, schlich sich manchmal Missgunst ein. Wenn dies passierte, wurden ihre Schwingen lahm und ihre vergiftete Seele zog sie schwer wie Blei hinunter.

In ihren besten Tagen hatte die Fantasie heitere Träume, von denen sie sich wie von leichten Lüften tragen ließ. Aber sie hatte sich von denen korrumpieren lassen, die Träume als Schäume deklarierten und seitdem starrte sie nur auf die Fakten, die unbeweglich und unveränderbar zurückblickten. Sie begriff jetzt, dass sie sich wieder ihren Träumen anvertrauen musste. Sie waren der Stoff, aus dem sich neue Visionen formen ließen. Es klickte wieder befreiend, doch zwei Bindungen hielten die Fantasie noch fest.

Da kam ihr wieder der Schmerz über den Verlust zu Bewusstsein, den sie sprachlos und verbittert in sich hineingefressen hatte. Auch jetzt drohte er sie wieder zu ersticken, doch sie musste Trauerarbeit leisten und ihm mit Worten Gestalt geben, um ihn begreifen zu können. Als die diesen Vorsatz gefasst hatte, war sie fast frei.

Doch das Schloss der schwersten Fessel war noch nicht gesprengt, und noch immer lag die Fantasie angeschmiedet darnieder. Sie blickte betrübt auf ihre Flügel, die verstaubt an der Wand hingen und dachte darüber nach, wann sie mit diesen ihren höchsten und schönsten Flug gemacht hatte. Und da wusste sie es. Sie war grenzenlos verliebt. Als die Liebe scheiterte, war ihre Enttäuschung so groß, dass sie beschloss, sie nicht mehr an sich heranzulassen. Sie musst ihr wieder ein Chance geben und durfte sich nicht mehr einmauern. Mit dieser Erkenntnis fiel die letzte Fessel von ihr ab.

Sie erhob sich mit Schwung und begann sogleich ihre verklebten Flügel zu säubern.  Als diese endlich wieder in alten Glanz erstrahlten, trat sie mit ihnen heiter und zuversichtlich vor die Tür. Es wehte ein frischer Frühlingswind.

© Ekkehart Mittelberg, Juli 2014

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (19.07.14)
Kann es sein, dass du - man macht das ja öfters so - die zwei schwarzen Schafe der Geschwisterschar verschwiegen hast? Die Struktur und die Arbeit! Denn eigentlich ist es doch so, dass jeder der Geschwister auf Dauer langweilig, ja, belanglos ist. Zusammen können sie jedoch großes schaffen - auch wenn sie sehr verschieden sind... und ich weiß: Geschwister hassen gerne einander...

P.S.: [x]fantasievoll heißt hier "voll Fantasie"!
(Kommentar korrigiert am 19.07.2014)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.07.14:
Merci Trekan, offen gestanden sind mir die Struktur und die Arbeit nicht in den Sinn gekommen
Dein Hinweis, dass die Geschwister zusammen Großes schaffen können, ist auf jeden Fall richtig.
Raven (42)
(19.07.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 19.07.14:
Vielen Dank, Raven. Der, an den die Fantasie erinnert, muss ein interessanter Mensch sein.

LG
Ekki
Graeculus (69) schrieb daraufhin am 19.07.14:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
B-Site (30)
(19.07.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 19.07.14:
Merci B-Site, so sehe ich es auch.

 unangepasste (19.07.14)
Je älter man wird, desto mehr Fessel schnüren sich um die Fantasie - leider. Um sie zu lösen, muss man es schaffen, den bewertend dazwischen greifenden Verstand auf später zu vertrösten. Zwar können beide erst zusammen viel leisten, aber ihre Arbeit muss meiner Erfahrung nach getrennt stattfinden.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 19.07.14:
Grazie für diese scharfsinnige Beobachtung, die auf mich voll zutrifft.
LG
Ekki
BellisParennis (49)
(19.07.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.07.14:
Danke, Carsten, das freut mich natürlich sehr.
Ich sende dir einen kühlenden Wind ins heiße Wochenende.
chichi† (80)
(19.07.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Fabi (50) meinte dazu am 19.07.14:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.07.14:
Vielen Dank, Gerda und Fabi.
Beste Grüße
Ekki

 Regina (19.07.14)
Happy end für die Fantasie und die Liebe!

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.07.14:
Danke, Regina, du hebst das happy end zu Recht hervor. Die Fantasie fliegt ja nicht nur über blumige Gefilde und ihre Tätigkeit kann auch böse enden.
wa Bash (47)
(19.07.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.07.14:
Danke, wa Bash, das freut mich.
Pocahontas (54)
(19.07.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.07.14:
Grazie, Sigi, ja, Fantasie kann sich erst dann voll entfalten, wenn sie im Einklang mit sich selbst ist.

Herzliche Grüße
Ekki
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram