Ein bewundernswerter Autodidakt

Erzählung zum Thema Lernen

von  EkkehartMittelberg

Im Sommersemester 1962 studierte ich in Tübingen. Walter Jens, der damals in Hochform war, hatte mich dorthin gezogen. Ansonsten wusste ich nicht, was mich erwartete; denn ich hatte unsere Bude, die ich mit einem Studienfreund teilen wollte, aus der Ferne gebucht.

Wie erstaunt waren wir dann bei unserer Ankunft. Die preiswerte Bude – tatsächlich war es eher ein Appartement – lag nur wenige Gehminuten vom germanistischen Seminar entfernt auf einer noch fast unbebauten blumigen Wiese und ein Kirschbaum streckte seine blühenden Zweige auf den Balkon.

Wir hatten vor, uns in diesem Semester intensiv mit Lyrik zu beschäftigen, kannten aber noch niemanden in Tübingen, der uns hätte anregen können. Wir hielten also in den Seminaren Ausschau nach interessanten Typen und luden ein paar von ihnen für Samstagabende in unser „Appartement“ ein, um gemeinsam epochentypische Gedichte zu interpretieren.

Wir waren gerade bei der Romantik, genauer bei Eichendorffs „Mondnacht“ (Erstdruck 1837) mit der letzten Strophe

Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.

Wir diskutierten, was es mit diesem Konjunktiv „flöge“ auf sich habe, als es leise an die Tür klopfte. Es wurde niemand mehr erwartet, und alle schauten neugierig hin, wer da wohl erscheinen würde. Es war unser Hauswirt, ein zurückhaltender Mann, von dem wir wussten, dass er als Buchsetzer arbeitete. Er hatte wohl auf dem Flur die lebhafte Diskussion gehört und fragte bescheiden, ob er als Freund von Dichtung ein wenig zuhören dürfe.

Er lauschte schweigend unseren Ausführungen, bis wir diskutierten, welches für die Romantik typische Gedicht wir als nächstes auswählen wollten. Wir tasteten unsicher auf wenig bekanntem Terrain, als er sich mit etwa diesen Worten einschaltete:
Wer die Romantik verstehen will, kommt an ihrem Leitmotiv 'Sehnsucht' nicht vorbei und daran, dass die Romantiker Raumtiefe schaffen mussten für die Gestaltung der Sehnsucht, und er muss verstehen, wie sie ihre fiktive Welt zum Klingen brachten und mit der Gestaltung von Licht und Dunkel umgingen, denn darin waren sie Meister. Er empfahl uns als nächstes noch ein anderes Gedicht von Eichendorff. Hier ist es:

Joseph von Eichendorff
Sehnsucht
Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leib entbrennte,
Da hab ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!
Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.
Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht. -

Sie werden selbst erkennen, welche Rolle hier die Sehnsucht, die Weite des Raums, die Sprachmelodie und die Lichtverhältnisse spielen.

Unser Vermieter hielt sich bei der Deutung von „Sehnsucht“ sehr zurück. Aber er hatte sich allein schon durch die Empfehlung dieses Gedichts unsere Achtung erworben, sodass wir seinem nächsten Hinweis auf ein Gedicht von Friedrich von Hardenberg (Novalis) gerne folgten. Er machte es uns mit ungefähr diesen Worten schmackhaft: Sie müssen sehen , dass sich programmatische Gedichte der Romantik  von der rationalistischen Erfassung der Natur durch die Aufklärung abgrenzen.
Es geht um die romantische Universalpoesie, die sich in verschlossene Geheimnisse aller Dinge einzufühlen versucht, die sich von rationalen Messungen der Natur distanziert, die zurück will zum paradiesischen Zustand der Natur, die das wahre Erkennen auch im Dunkeln und in der Nacht sucht, in Märchen, Mythen und Gedichten, die glaubt, dass in geheimen mystischen Worten mehr Erhellung steckt als in vordergründigen Erkenntnissen der Naturwissenschaften. Danach lasen wir von Novalis

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
(Erstdruck 1802)

Zu der epochentypischen Lyrik der Romantik, die uns der Autodidakt ans Herz legte, gehörte noch von Ludwig Tieck „Wunder der Liebe“ (1804), bekannt durch die ersten
vierVerse
Mondbeglänzte Zaubernacht,
die den Sinn gefangen hält,
wundervolle Märchenwelt,
steig auf in der alten Pracht!
Auf unsere Frage, ob nach seiner Ansicht auch Hölderlin ein typischer Romantiker sei, meinte er, dieser großartige Dichter sei so einzigartig, dass er ihn keiner Epoche zuweisen könne. Wir sollten aber auf keinen Fall versäumen, ihn zu lesen.
Später vertraute mir unser Hauswirt in einem persönlichen Gespräch an, dass er „nur“ einen Realschulabschluss habe und dass er alles, was er über Literatur wisse, selbst herausgefunden habe.
Wir schieden nach dem herrlichen Sommer in Tübingen, zu dem er so viel beigetragen hatte, mit Wehmut voneinander.

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (10.11.14)
Ich kann dir da nur eine - wenn auch andere, dann doch ähnliche - Erfahrung aus meiner Studienzeit berichten, auch wenn ihr der persönliche Bezug fehlt. Bücher von Nichthistorikern zu historischen Themen sind sehr oft leider absoluter Müll - zumeist weil sie die Forschung anderer zu dem gewählten Thema völlig unberücksichtigt lassen -, aber manchmal ein wahres Gedicht -' tschuldigung für das Wortspiel, musste aber sein -, eine echte Offenbarung, die die Forschung oft eine großes Stück weiterbringen.

Zum Thema Romantik versus rationalistische Erfassung der Natur:
Zumindest ich habe an Tolkien ('Herr der Ringe', 'Der Hobbit') noch sehr viel mehr Freude, seit dem ich mich mit den Hintergründen - Tolkien war ein hoch angesehener Sprachwissenschaftler - beschäftige. So versteht man das Geschriebene noch mehr und besser. Von Tolkiens wunderbaren Sprache mal ganz zu schweigen.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.11.14:
Danke, Trekan, nach deiner anregenden Empfehlung kann ich nicht mehr umhin. Ich werde bald Tolkien lesen.

 TrekanBelluvitsh antwortete darauf am 10.11.14:
Ich habe das bestimmt schon einmal geschrieben: Wenn du das machst, fange mit dem 'Hobbit' an. Ist nicht nur kürzer, ist als Märchen zugänglicher. (Danach weißt du dann, ob dir Tolkien gefällt oder nicht.) Noch wichtig: Im Deutschen unbedingt zu der neueren Übersetzung von Wolfgang Krege greifen. In der Älteren sind die Lieder gekürzt und - vor allem - die Sprache ist zu kindlich.
Graeculus (69)
(10.11.14)
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 10.11.14:
Merci, Graeculus. Dieser tübinger Hauswirt ist nicht der einzige beeindruckende Autodidakt, der mir begegnete.

 niemand äußerte darauf am 10.11.14:
Den besten Autodidakten habe ich zu Hause. Der nagelt so manchen an die Wand im Bezug auf Philosophie, Kunst und Musik. Alles hat es sich selber mit großem Hunger danach quasi "einverleibt". Er hatte mal ein wenig Violin- und Klavierunterricht. Heute spielt er Bratsche und Cello, wobei die klassische Musik schon immer seine Leidenschaft war, besonders die Oper. Und alles ohne Abitur. Im Osten wäre mein Mann "ein Vorzeige-Kulturellnik" wie ich ihn immer scherzhaft nenne. Tja, und das Ganze auch noch als Spross einer bitterarmen Arbeiterfamilie, ohne Hintergrund
eines begüterten Herrn Papa mit Vitamin B.
Mit herzlichen Grüßen, Irene

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 10.11.14:
Wer mit Hintergrund aufwuchs, weiß kaum einzuschätzen, wie schwierig es ist, sich einen zu schaffen, Irene.
Gerhard-W. (78)
(10.11.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.11.14:
Wie dieses Beispiel zeigt, können die Grenzen zwischen den Textsorten aufgehoben werden. Danke dafür, Gerhard, dass du dich eingelassen hast.

LG
Ekki

 TassoTuwas (10.11.14)
Hallo Ekki,
beim Lesen dieser Erzählung beschlich mich ein Gefühl, dass man mit drei Worten beschrieben, so nennen könnte "Gute alte Zeit".
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.11.14:
Merci, Tasso, ich denke, dass es heute nicht weniger Autodidakten gibt, aber mir scheint, man tut sich schwerer, aufeinander zuzugehen.

Herzliche Grüße
Ekki

 AZU20 (10.11.14)
Eine großartige Begegnung inmitten schöner Gedichte. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.11.14:
Danke, Armin. Autodidakten sind oft gute Lehrer, weil sie genau wissen, wo die Schwierigkeiten liegen.

 Dieter Wal (10.11.14)
Die beiden Nicht-Interpretationsnachsätze halte ich für entbehrlich. (Erzähler interpretieren gewöhnlich keine Gedichte) Ansonsten eine mich sehr berührende Anekdote deiner Studentenzeit.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.11.14:
Merci, Dieter. Sie sind entbehrlich, ich habe sie gestrichen.
LottaManguetti (59)
(10.11.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.11.14:
Grazie, Lotta, das stimmt, denn es konnte sie keiner verbiegen.
9miles (49) meinte dazu am 10.11.14:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.11.14:
Danke, wenn du richtig liest, siehst du, dass der Autodidakt dem Elfenbeinturm entflohen ist.
wa Bash (47)
(10.11.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.11.14:
Ich sehe ihr Schwinden mit gemischten Gefühlen. Einerseits bin ich froh, dass es die Internetkommunikation gibt, andererseits war das gemeinsame Lernen in der Erzählung persönlicher. Merci, wa Bash.

 tulpenrot (11.11.14)
Lieber Ekki,

als Neutübingenerin und Seniorenstudentin kann ich mir ungefähr vorstellen, wo deine lyrikbegeisterten Treffen stattfanden. Ob es diesen Autodidakten noch gibt? Den Beruf des Buchsetzers gibt es ja wohl nicht mehr...
Ich selber wuselte zu deiner Zeit aber mehr im naturwissenschaftlichen Unterholz in einer anderen Universitätsstadt herum. Sehr unlyrisch. Mein autodidaktischer Umschwung kam erst vor etwa 10 Jahren - obwohl ich vor 3 Semestern mal bei den Germanisten hier reingeschnuppert habe.

Deinen Text habe ich mit Interesse und Vergnügen gelesen.

Liebe Grüße
Angelika

P.S. Was ich noch anmerken wollte: Bist du sicher, dass es das gemeinsame Lernen nicht mehr gibt? Wenn ich ins Theo komme oder in der UB bin, sind alle Tische voll mit Leuten, die etwas gemeinsam erarbeiten. Von den Prof's kommt regelmäßig die Ermunterung, sich mit anderen zusammen zu tun und sich z.B. auch auf die Prüfungen vorzubereiten. Und obendrein haben wir doch unsere Schüler zur Gruppenarbeit erzogen, zum Arbeiten im Team - ganz anders als die Lehrer früher zu meiner Schulzeit.
(Kommentar korrigiert am 11.11.2014)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.11.14:
Grazie, Angelika, leider führen mich meine Resen in den Süden immer an Tübingen vorbei. Aber das soll sich bald ändern.
Mir scheint jetzt auch, dass ich hinsichtlich des gemeinsamen Lernens zu skeptisch gewesen bin.
Ich freue mich, dir mit meinem Text ein wenig Vergnügen bereitet zu haben.

Liebe Grüße
Ekki
(Antwort korrigiert am 11.11.2014)

 monalisa (12.11.14)
Es wurde ja schon sehr viel, vor allem inhaltlich zu deiner erzählung gesagt. Vielleicht könnte man noch erwähnen, welch schöne Symbiose hier Sprache und Inhalt hier eingehen. Die unaufgeregte, schlichte (im besten Sinn des Wortes) Erzählweise passt hervorragend zum titelgebenden autodidaktischen Lyrikliebhaber, der seine Hinweise und Tipps durch dich als Erzähler einem noch breiteren Publikum Lernwilliger zukommen lässt. Ekki, man merkt, dass du durch und durch Pädagoge bist - anhand deiner Erzählung, die auf Lerninhalte so beiläufig neugierig macht, lernt es sich gleich viel leichter und lustvoller :).

Liebe Grüße,
mona

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 12.11.14:
Ich fühle mich durch deinen Kommentar angenehm erkannt und verstanden, Mona. Grazie.

Liebe Grüße
Ekki

 SapphoSonne (22.11.14)
Ich lese deine Erzählungen immer sehr gerne. Sie sind zum einen unterhaltsam, zum anderen auch lehrreich und anregend ohne mit dem erhobenen Zeigefinger einher zu gehen. Manchmal hat mal Glück und trifft genau die Menschen, die einen wieder einen Schritt weiterführen im Leben.
LG Sappho

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.11.14:
Merci, Sappho, deiner Bemerkung zum Glück kann ich nur zustimmen.

Liebe Grüße
Ekki
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