Aus meinem Leben. Der Schläger

Erzählung zum Thema Schule/ Studium

von  EkkehartMittelberg

Im Frühjahr 1949 wurde ich auf dem humanistischen Gymnasium eingeschult. Selbstverständlich waren dessen Schüler schulleistungsfähiger als auf der Grundschule und es wurde durch harte Notengebung ein großer Konkurrenzdruck aufgebaut, sodass mir aus dieser Zeit nichts in Erinnerung ist, weshalb die Schule das Attribut humanistisch verdient gehabt hätte. Im Gegenteil, ein Teil des vom Zweiten Weltkrieg frustrierten Kollegiums wusste sich nur durch harte Strafen und Schlagen Respekt zu verschaffen und schaffte es, dass an manchen Tagen die Angst wie eine riesige Spinne über uns schwebte.

Zu Ehren der Schule muss ich jedoch sagen, dass sich das auf der Oberstufe total änderte.

Einer der Lehrer auf der Mittelstufe schlug nicht aus gelegentlichem Zorn, sondern prinzipiell. Er war ein guter Vermittler des Lernstoffs und hätte es nicht nötig gehabt, seine Autorität durch Ohrfeigen zu stabilisieren.

Der erste Eindruck, den ich von diesem Menschen hatte, jagte mir tiefe Furcht ein. Er zeigte uns seine großen Hände und donnerte los: “Ich habe Hände wie Abortdeckel. Wo die hinhauen, da wächst kein Gras mehr.“

Der Mann war promoviert. Wenn man ihn zum Beispiel ohne seinen Doktortitel anredete, war das Grund für ihn zu schlagen.

Wir waren gegen das Prügeln nicht übermäßig sensibilisiert, denn die meisten von uns kannten es aufgrund ihrer häuslichen Erziehung in den Fünfziger Jahren. Es gab aber Situationen, in denen die "Handgreiflichkeiten" dieses Lehrers als ungerecht erschienen. Bei einem Landschulaufenthalt war es auf den Zimmern nach 22 Uhr natürlich nicht sofort ruhig. Im Bett über mir lag ein Klassenkamerad, der mich hänselte, indem er mir einen Schal übers Gesicht zog. Gerade wollte ich mich wehren, als der "Vollstrecker" das Zimmer betrat und ohne nach dem Grund unseres Streits zu fragen uns beide schlug.

Solche unschönen Vorfälle gab es wahrscheinlich damals an mehreren Schulen.                                                                                                               Aber dann passierte etwas, das mich zutiefst verstörte. Wir hatten einen Klassenkameraden, den wir wegen einer etwas seltsamen Frisur Pers, abgeleitet von Perser mit üppiger Haarpracht, nannten. Die hinter ihm Sitzenden machten sich einen Spaß daraus, dem hilflosen Jungen seinen Haarschopf von hinten her ins Gesicht zu werfen. Der so Malträtierte drehte sich zornig um und verbat sich das. Er war zu seinem Unglück ein schlechter Schüler. Sofort war der Prügler zur Stelle, warf dem armen Kerl sein "Spatzenhirn" vor und ohrfeigte ihn.

Ich könnte jetzt meinen Bericht abschließen und diesen Lehrer auf Sadismus reduzieren. Doch ganz so einfach war die Sache nicht,  denn er bewies zuweilen Humor und war ein guter Musiklehrer. Noch heute erinnere ich mich gerne an Lieder, die er uns beibrachte.

Im vorausgegangenen Mathematikunterricht hatte er wieder zugeschlagen und ich war sehr betrübt. Dann vermittelte er uns das Lied „Die güldne Sonne“ von Paul Gerhardt mit der ersten Strophe:


Die güldne Sonne
voll Freud und Wonne
bringt unsern Grenzen
mit ihrem Glänzen
ein herzerquickendes, liebliches Licht.
Mein Haupt und Glieder,
die lagen darnieder;
aber nun steh ich,
bin munter und fröhlich,
schaue den Himmel mit meinem Gesicht.


So geschah das Seltsame, dass derselbe Lehrer, der mich ängstigte, mich mit diesen wunderschönen Versen wieder aufrichtete. Ich bezweifle freilich, dass er auf das Schlagen verzichtet hätte, wenn ihm jemand diese Widersprüchlichkeit verdeutlicht hätte.


Anmerkung. Es handelt sich um eine Umarbeitung meiner Erzählung "Schulgeschichten. Die güldne Sonne" vom März 2014




Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Taina (39)
(24.04.22, 07:36)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.04.22 um 08:59:
Merci, Taina, ja, sie sind gefährlicher als einfach geschnitzte Schläger, weil sie weniger berechenbar sind.
LG
Ekki
Taina (39) antwortete darauf am 24.04.22 um 09:58:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 plotzn (24.04.22, 09:54)
Servus Ekki,

zum Glück ist dieser "Erziehungsstil" (zumindest in den Schulen) inzwischen fast ausgestorben.
Es hat sich fast ein wenig umgedreht, wenn Lehrern wegen Bagatellen mit dem Anwalt gedroht wird.

Liebe Grüße
Stefan

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 24.04.22 um 11:08:
Gracias, Stefan, ich kannte Gymnasiallehrer, die Juristen aus der Elternschaft ihrer Schule fürchteten. Der Schläger, von dem ich berichte, hatte damals nichts zu befürchten. Heute undenkbar: Der Junge mit dem Haarschopf, den er schlug und dem er ein Spatzenhirn attestierte, hatte einen jüdischen Vater, der nichts dagegen unternahm.
Jo-W. (83)
(24.04.22, 09:57)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 24.04.22 um 11:15:
Gracias, Jo, ich wundere mich heute noch, mit welcher Zurückhaltung (Feigheit?) vor allem die Eltern der geschlagenen Schüler diese Ausfälle, die zum Teil sogar ungerecht waren, hinnahmen.LG
Ekki

 loslosch ergänzte dazu am 24.04.22 um 11:44:
oft genug keine feigheit! in der grundschule lobte meine mutter die lehrerin für ihre stockschläge. hintergrund: sie war selbst eine schlagende!

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.04.22 um 16:00:
Daran habe ich jetzt nicht gedacht. Schlagende waren tatsächlich Komplizen.

 loslosch (24.04.22, 10:04)
Pehl, genannt juppa (für josef), war 61 und später noch mit 68 aktiv und unterrichtete uns sextaner. beim singen filterte er einen brummer heraus, indem er von schüler zu schüler eilte und horchte. kuchinke "sang" nicht! der musste zum einzelgesang antreten und versagte völlig. der offensichtlich unmusikalische wurde dann öffentlich geohrfeigt.

vllt. waren diese typen ordentliche wk2-krieger.

ich selbst bekam zunächst ein befriedigend als erstnote. als juppa herausfand, dass ich do-re-mi-fa-so kannte und fast frei vom blatt singen konnte, war die eins gesichert.


anm.: das paul-gerhard-lied ließ juppa, orientiert am schulbuch, in einer anderen version singen. nur mal die 1. strophe:

Die güldene Sonne
bringt Leben und Wonne,
die Finsternis weicht.
Der Morgen sich zeiget,
die Röte aufsteiget,
der Monde verbleicht.    lo

edit: korrigiertes alter.

Kommentar geändert am 24.04.2022 um 10:06 Uhr

Kommentar geändert am 24.04.2022 um 11:37 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.04.22 um 11:36:
Merci Lothar,
wer von diesem martialischen Verhalten betroffen ist, neigt dazu, es für einmalig zu halten. Dein Beispiel zeigt jedoch, dass es weiter verbreitet war als man denkt.
Ich wusste nicht, dass es von der güldenen Sonne eine andere Version gibt.

 Tula (24.04.22, 12:10)
Hallo Ekki
Irgendwie fällt es dem Menschen stets schwer, eine gesunde Balance zu finden. Nicht mehr lange (und es gibt solche Fälle) und die Kinder verprügeln in der Schule die Lehrer  :(

LG
Tula

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.04.22 um 18:15:
Vielen Dank, Tula, ich verstehe dich so, dass die Balance jedes Schlagen ausschließt.

LG
Ekki

 TassoTuwas (24.04.22, 13:41)
Hallo Ekki,
viele der Lehrer waren aus dem Krieg gekommen, als Betrogene Versager, Verlierer!
Nach heutiger Beurteilung hätte jeder zweite eine Therapie benötigt, aber so weit war die Zeit nicht.
Der Weg zurück in die Normalität blieb Privatsache. Trotzdem, das Verhalten gegenüber Schwächeren bzw. Abhängigen ist immer auch eine Frage des Anstandes!
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.04.22 um 16:05:
Merci,Tasso. so sehe ich es auch. Der Krieg kann das Schlagen von Kindern erklären, aber nicht entschuldigen.
Herzliche Grüße
Ekki

 AZU20 (24.04.22, 16:55)
Ich nehme gerne weiter Anteil an Deinen Schulgeschichten. Geprügelt haben viele Lehrer und auch Lehrerinnen damals. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.04.22 um 17:01:
Gracias, Armin, das stimmt. Besonders wurde der Fall freilich, wenn sich der Eindruck aufdrängte, dass jemand Gefallen daran fand.
LG
Ekki

 Graeculus (24.04.22, 16:59)
Das waren die vom pädagogischen Standpunkt aus irritierendsten Lehrer: die brutal, geradezu sadistisch und dennoch "irgendwie" gut waren; sei es, daß sie - wie hier - einen Sinn für das Schöne hatten, sei es, daß sie klar verständlich erklären konnten, so daß man bei ihnen mehr lernte als bei so manchem gutmütigen Wirrkopf. (Von der letztgenannten Sorte habe ich einen erlebt & erlitten.)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.04.22 um 17:16:
Gracias, Graeculus,
wie fast immer hast du das Problem genau auf den Punkt gebracht.: ein irritierender schlagender Ästhet.

 GastIltis (25.04.22, 17:02)
Hallo Ekki,
zum Schlagen in den Schulen hatte ich mich ja schon geäußert.
Was ich mochte, waren strenge Lehrer. Streng in dem Sinn, dass man zur Aufmerksamkeit gezwungen wurde. Ich kann mich an einige erinnern, z.B. an einen Russischlehrer, (wir hatten Russisch von Klasse fünf bis acht), dem nichts entging und der auch nichts durchgehen ließ. Wer ihm (geistig) nicht folgte, war selbst schuld. Im Grunde hat es Freude gemacht, weil er im Vermitteln seines Stoffes Erfolg hatte. Und: Es hat über Jahre hinweg vorgehalten!
Sei herzlich gegrüßt von Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.04.22 um 18:17:
Gracias Gil,
man hört immer wieder von der Hochachtung, die strengen, korrekten Lehrern entgegengebracht wurde. Sie hatten es nicht nötig zu schlagen. Wir hatten auf der Oberstufe zwei Lehrer, die nicht einmal die Stimme erheben mussten, um sich in kritischen Situationen Respekt zu verschaffen.
Herzliche Grüße
Ekki

 RainerMScholz (26.04.22, 21:09)
Mein Vater erzählte, dass er - die Lehre begann mit 12 Jahren- seinen Meister zu Boden schlug und ihm empfahl, besser nicht aufzustehen, nachdem er ebenfalls mehrfach ertüchtigt wurde. Er hat nie in seinem Beruf gearbeitet.
Grüße,
R.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.04.22 um 21:22:
Donnerwetter, Rainer, das ist wirklich ungewöhnlich. Ich vermute, dass dein Vater aus Notwehr schlagen musste.
LG
Ekki
Agnete (66)
(05.05.22, 11:00)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 05.05.22 um 18:15:
Grazie für deinen klugen Kommentar, Agnete, dem ich in jeder Hinsicht zustimme.
Wichtig ist vor allem die Erkenntnis, dass so ein Schläger ohne die Gesellschaft, die ihm insgeheim zustimmt, nicht möglich wäre.
LG
Ekki
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram