Der Discomörder - Teil 10
Roman zum Thema Mord/Mörder
von NormanM.
Wirklich berührt war Maurice nicht, als er erfuhr, dass Jan Schulz ein Alibi hatte. Er musste sich selbst gegenüber zugeben, dass er ihm auch nicht wirklich den Mord zugetraut hätte. Zwar glaubte er schon, dass er insgeheim doch auf seine nur „beste“ Freundin stand, aber nicht dass er deshalb jemand umbringen würde. Außerdem hielt er ihn dafür auch absolut inkompetent, dieser Jan Schulz war für ihn nichts weiter als ein Schwächling. Als könnte Burscheidt seine Gedanken lesen, meinte er:
„Du hast ihn doch auch nicht wirklich verdächtigt?“
„Nein, hab ich nicht. Ich gebe auch zu, dass ich ihn nicht mag und an ihm meine Laune ausgelassen habe. Ich weiß, es war nicht professionell, sorry.“
„Immerhin bist du einsichtig.“
„Ja und keine Sorge, ich werde gleich nicht wieder aus der Reihe tanzen.“
„Das ist ja mal beruhigend.“
Sie erreichten die Adresse von Hendrik Becher. Er wohnte auf der Lueg-Allee in Oberkassel, einer der teuersten Gegenden Düsseldorfs. Aber für einen Einkäufer in einer gehobenen Position, der auch noch der beste Freund des Personalchefs war und dadurch wahrscheinlich noch ein, zwei Gehaltsklassen höher lag, war es sicherlich kein Problem, sich dort eine Wohnung leisten zu können. Maurice gefiel die Gegend zwar, sie hatte ein gewisses französisches Flair, besonders am Belsenplatz, man war sehr schnell am Rhein und im Stadtzentrum, es gab dort schöne Cafés, aber er konnte sich nicht vorstellen, dort zu wohnen. Die Mieten in Düsseldorf gehörten ohnehin schon zu den höchsten Mieten in Deutschland, dann musste es nicht auch noch der teuerste Stadtteil sein. Außerdem galt Oberkassel als spießig und versnobt und dafür war ihm das Geld erst recht zu schade. In Unterbilk, wo er wohnte, fühlte er sich viel wohler. Zwar war die Gegend ziemlich grau, dafür gab es aber mehr Einkaufsmöglichkeiten, so dass er seine Einkäufe zu Fuß erledigen konnte, eine größere Auswahl an Gastronomie und mindestens genauso gute Bahnverbindungen. Auch wenn er ein Auto hatte, war er trotzdem manchmal auf die Bahn angewiesen, gerade an den Wochenenden, wenn er ausging und Alkohol trank. Und zur Not konnte er auch zu Fuß das Stadtzentrum erreichen.
Maurice war gespannt, wie dieser Hendrik Becher wohl aussah, was das für ein Typ war. Der Wohngegend und seinem Beruf entsprechend stellte er sich einen von sich einen oberflächlichen Schickimicki vor. Allerdings ging jemand von dieser Sorte nicht unbedingt ins Zakk, dessen Zielgruppe eher das alternative und kulturelle Publikum war.
Burscheidt klingelte. Maurice erwartete, dass gleich ein „Ja bitte?“ durch die Sprechanlage ertönen würde, doch stattdessen erklang nach wenigen Sekunden das Summen des Türöffners, als erwarte derjenige Besuch.
„Oh, das ging aber schnell“, meinte Burscheidt und drückte die Tür auf. „Entweder hat er schon mit uns gerechnet oder er hat jemand anderen erwartet.“
Maurice nickte zustimmend. „Gleich wissen wir es.“
Im Hausflur befand sich ein Fahrstuhl, aber da die Namenschilder so angebracht waren, dass nicht genau zu erkennen war, auf welcher Etage die jeweiligen Bewohner wohnten, nahmen sie die Treppe. Es handelte sich um einen Altbau mit ca. vier Meter hohen Decken, dementsprechend waren die Treppen hoch und recht steil. Obwohl Maurice ziemlich sportlich war, hätte er keine Lust darauf, in so einem Haus freiwillig die Treppen hochzusteigen. Auf Dauer könnte das ziemlich anstrengend sein, es war ja schon wie eine Bergwanderung. Als sie den zweiten Stock erreichten, stand ein Mann an einer geöffneten Wohnungstür, bei dem es sich offensichtlich um Hendrik Becher handelte. Er war etwa 35, wirkte sportlich, trug eine dunkelblaue Jeans und einen schwarzen Pullover. Seine braunen Haare trug er leicht gegelt mit Seitenscheitel und einer Tolle. Ein typischer BWLer, dachte Maurice. So ähnlich hatte er ihn sich vorgestellt.
„Oh, entschuldigen Sie, ich hätte Ihnen durch die Sprechanlage die Etagennummer sagen sollen. Dann hätten sie den Fahrstuhl nehmen können. Da habe ich nicht richtig nachgedacht. Tut mir leid“, sprach der Mann schuldbewusst auf sie ein. Maurice fand diese Rechtfertigung überflüssig und schleimerisch, erwiderte aber nichts darauf, sondern überließ das Wort Burscheidt.
„Kein Problem“, entgegnete Burscheidt. „Sind Sie Hendrik Becher?“
„Ja, richtig.“
„Guten Tag, mein Name ist Manfred Burscheidt von der Kriminalpolizei. Das ist mein Assistent Maurice Stemmer.“ Burscheidt hielt ihm seine Dienstmarke hin.
„Guten Tag“, meinte Maurice nur.
„Ja, ich habe mit Ihnen schon gerechnet, ich habe erfahren, was passiert ist“, antwortete Becher weinerlich. „Aber kommen Sie doch rein.“
Burscheidt bedankte sich und folgte in die Wohnung, Maurice tat es ihm nach. Becher führte sie ins Wohnzimmer und bat Platz zu nehmen.
„Verzeihen Sie, ich frühstücke gerade, möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?“, bot er höflich an.
„Nein, für mich nicht, danke“, erwiderte Burscheidt.
„Für mich auch nicht“, lehnte Maurice ebenfalls ab.
„Kann ich Ihnen vielleicht sonst irgendetwas anbieten? Einen Tee oder etwas Kaltes? Eine Cola, einen Saft?“
„Nein, nein, sehr freundlich, aber nicht nötig“, bedankte Burscheidt sich. Maurice machte nur eine verneinende Geste. Ihm ging diese aufgesetzte Höflichkeit auf die Nerven.
„Aber wenn Sie ihre Meinung ändern sollten, melden Sie sich einfach“, Becher wieder.
„Das werden wir“, sprach Maurice. Er warf Burscheidt einen Blick zu und verdrehte die Augen dabei, als Becher gerade nicht hinsah. Der Typ geht mir auf den Geist sollte das bedeuten. Burscheidt schien zwar, als er den Blick erwiderte, keine Mimik zu zeigen, aber Maurice kannte ihn gut genug, um zu erkennen, dass er Ähnliches dachte.
„Nun, Herr Becher“, kam Burscheidt schließlich zur Sache. „Wie wir erfahren haben, waren Sie gestern mit Jens Heinemann in der Discothek Zakk.“
„Ja, das ist richtig, wir waren zusammen dort. Ich habe von Frau Heinemann erfahren, was passiert ist. Ich kann gar nicht glauben, was passiert ist. Wer konnte so etwas nur tun.“ Bechers Ton wurde, während er sprach, sehr weinerlich.
„Das versuchen wir herauszufinden. Sie waren befreundet und Arbeitskollegen?
„Ja, er war mein bester Freund. Wir haben uns vor über zehn Jahren in der Universität kennen gelernt. Direkte Arbeitskollegen sind wir nicht, wir arbeiten zwar in derselben Firma, aber in verschiedenen Abteilungen. Jens war der Personalleiter und ich bin Einkäufer, dienstlich hatten wir nichts miteinander zu tun.“
„Aber Ihren Posten haben Sie ihm zu verdanken?“, schaltete Maurice sich ein.
„Ja, er hat mir, als er Personalchef wurde, angeboten, mich einzustellen. Vorher hatte ich in einer anderen Firma gearbeitet. Durch Jens´ Hilfe konnte ich dort direkt einen höheren Posten bekommen als den ich in meiner alten Firma hatte und mehr Geld. Ich weiß, es ist nicht die sportliche Art, ungerecht gegenüber anderen Bewerbern, aber so läuft es nun einmal. Connections bedeuten alles, verstehen Sie?“
„Schon klar. Und auf welcher hierarchischen Ebene befinden Sie sich?“
„Ich bin quasi ein gehobener Sachbearbeiter. Ich kann selbständig Entscheidungen treffen und habe auch meinen eigenen Arbeitsbereich.“
„Warum hat ihr Freund Ihnen nicht gleich einen Managementposten besorgt? Immerhin sind Sie ja durch Ihr Studium dafür qualifiziert und als Personalleiter hätte er doch genug Einfluss darauf.“
„Das schon, aber so einfach geht das leider auch nicht. Wäre ein entsprechender Posten frei gewesen, sicherlich, aber das ist momentan nicht der Fall. Aber ich bin in meiner Position auch glücklich und auch mit dem Gehalt bin ich sehr zufrieden. Und ich will ehrlich sein…“, er zögerte einen Moment lang und sah schuldbewusst zu Boden, bevor er fortfuhr. „Es ist zwar unfair gegenüber anderen Mitarbeitern, aber ich habe, da ich Jens Freund bin, ein höheres Gehalt bekommen als andere für diese Position bekommen hätten.“
„Das habe ich mir wohl gedacht. Dann ist es auch nichts Besonderes sich eine Wohnung wie diese in einem der teuersten Stadtviertel in einer der teuersten Städte Deutschlands zu leisten“, erwiderte Maurice vorwurfsvoll, während er sich mit einem beeindruckten Nicken umsah. Gerne hätte er noch die eine oder andere Bemerkung gemacht, aber beschloss, sich – erstmal – zurückzuhalten. „Wie ist ihr Freund eigentlich an seinen Posten gekommen?“
„Er hatte dort während seines Studiums ein Praktikum geleistet. Nach dem Studium hatte er sich dort beworben und direkt in der Personalabteilung anfangen. Personalmanagement war eines seiner Schwerpunkte, darin hatte er sich auch in seiner Diplom-Arbeit beschäftigt. Als unser alter Personalleiter in den Ruhestand ging, wurde ihm die Stelle angeboten.“
„Also muss er einiges drauf gehabt haben, denn offensichtlich hat er es ohne Hilfe so weit gebracht. Waren Sie eigentlich neidisch, dass ihr Freund weiter gekommen war als Sie? Als Personalleiter war er ja quasi ihr Arbeitgeber und stand über Ihnen. Er hatte es nicht nur weiter gebracht als sie, er hatte auch Einfluss auf ihre Karriere. Genauso wie er Ihnen mehr gezahlt hatte, hätte er Ihnen auch das Gehalt kürzen können. Vielleicht gab es ja mal den einen oder anderen Streit zwischen Ihnen?“
Hendrik Becher zuckte zusammen. „Wie? Sie glauben, dass ich Jens umgebracht habe?“
„Herr Becher“, übernahm Burscheidt wieder das Wort. „Noch kann es jeder gewesen sein. Und bis dahin müssen wir jeden, der mit Herrn Heinemann in Verbindung stand, befragen und um Mithilfe bitten. Sie waren zusammen mit ihm im Zakk. Wo waren sie gegen 23 Uhr?“
„Da bin ich gerade nach Hause gekommen. Ich bin, wie Sie wahrscheinlich schon erfahren haben, eher gegangen, da ich Kopfschmerzen hatte.“
„Und die haben Sie ganz plötzlich bekommen?“, harkte Maurice nach. „So dass sie kurz nachdem Sie angekommen sind, schon wieder abgehauen sind?“
„Ich hatte abends schon leichte Kopfschmerzen, wollte aber nicht absagen. Kurz, bevor wir ankamen, habe ich auch eine Tablette genommen und ging davon aus, dass sie davon weggehen. Aber durch die laute Musik sind sie dann schlimmer geworden, so dass ich dann wieder gegangen bin.“
„Irgendein Nachbar, der mitbekommen hat, wann Sie nach Hause gekommen sind?“
„Nein, leider nicht.“
„Tja, in der Disco hat auch niemand gesehen, dass Sie gegangen sind. Irgendjemand, dem Sie auf dem Rückweg begegnet sind?
„Nein, auch nicht.“
„Wann sind Sie gegangen?“
„Um halb elf.“
„Wie sind Sie nach Hause gekommen?“
„Mit der U-Bahn. Ich habe die U75 um 22:41 Uhr genommen, die direkt bis hierhin durchfuhr. Gegen 23 Uhr kam ich an.“
„Sie fahren U-Bahn? Sie wirken eher wie jemand, der mit dem Taxi fährt.“
„Wäre ich normalerweise auch, aber es war keins frei.“
„Das glaube ich Ihnen sogar. Ich habe gestern auch kein Taxi bekommen, als ich von der Fete, auf der ich gestern war, zum Tatort gerufen wurde. Aber das ist natürlich schade für Sie, dass Sie keins bekommen haben, denn dann könnte der Taxifahrer Ihr Alibi bestätigen.“
Burscheidt warf Maurice einen strengen Blick zu, was bedeuten sollte, dass er seine Bemerkungen unterlassen sollte. Maurice erwiderte den Blick mit einem Nicken, dass er verstanden habe.
„Ich habe ihn nicht umgebracht“, beteuerte Hendrik Becher. „Er war mein bester Freund. Weder gab es Streit zwischen uns, noch war ich neidisch auf ihn.“
„Wissen Sie, ob ihr Freund Streit mit jemand auf der Arbeit hatte oder in seinem Bekanntenkreis?“, fragte Burscheidt.
„Nein, davon ist mir nichts bekannt. Ich arbeite zwar nicht in seiner Abteilung, sah ihn auch so gut wie nie auf der Arbeit, aber er hätte es mir gesagt.“
„Wussten Sie, dass er seine Frau betrogen hat?“
„Ja, schon. Gut fand ich es natürlich nicht, aber er war nun einmal mein Freund, der mir vertraute, und da konnte ich ihn auch nicht einfach verraten und seiner Frau alles erzählen. Aber ich habe ihm mehrmals gesagt, dass es nicht in Ordnung ist. Er wusste selbst, dass es nicht richtig ist, bereute es auch immer wieder, aber er konnte einfach nicht anders. Ich weiß, das ist natürlich auch keine Entschuldigung für alles.“
Maurice ging dieses Theaterspiel auf die Nerven, aber er hielt sich zurück.
„Nicht wirklich, da haben Sie recht“, fand Burscheidt. „Aber könnten Sie sich vorstellen, dass von den Frauen, mit denen er seine Frau betrog, die eine oder andere selbst einen Partner hatte, der dahinter gekommen war?“
Becher sah eine Weile an die Decke, während der überlegte. „Nun ja, theoretisch schon. Einige, mit denen er fremdging, waren auch in einer Beziehung, aber ob die Partner etwas mitbekommen hatten, weiß ich nicht. Meist waren es auch nur Onenightstands, die er hatte.“ Plötzlich hielt er inne, als sei ihm etwas eingefallen. „Doch, da war etwas. Das dürfte aber schon zwei Jahre her sein. Mit einer Frau hatte er eine längere Affaire, Jens hatte sich zu der Zeit öfter mal meine Wohnung ausgeliehen, weil sie sich nicht bei ihm oder bei ihr treffen konnten. Ich weiß, ich hätte das nicht unterstützen dürfen, aber…“
„Aber er war ihr Freund“, unterbrach ihn Maurice, um den Satz für ihn zu beenden.
„Ja, genau.“
„Und wie ging es weiter?“, fragte Burscheidt.
„Sie musste die Affaire allerdings beenden, da ihr Freund misstrauisch geworden war. Herausgefunden hatte er aber wohl nichts und es ist jetzt, wie gesagt, schon zwei Jahre her. Also wahrscheinlich für Sie nicht wirklich hilfreich.“
„Trotzdem ist es schon einmal ein Hinweis, dem wir nachgehen werden“, bemerkte Burscheidt. „Können Sie uns den Namen der Frau geben und sagen, wo sie wohnt?“
„Sie hieß Kirsten Heikinnen, ein finnischer Nachname, daher habe ich ihn mir gemerkt. Sie war Halbfinnin. Eine Adresse von ihr habe ich nicht, ich habe sie auch nur zwei Mal gesehen, ich weiß nur, dass sie aus Pempelfort kam. Ob sie da noch lebt, weiß ich nicht. “
„Den Namen dürfte es nicht so oft in Düsseldorf geben, so dass wir sie schnell finden dürften. Damit haben Sie uns schon mal weiter geholfen. Von unserer Seite aus, war es das schon einmal. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie uns an.“ Burscheidt gab ihm eine Karte.
„Ja, das mache ich natürlich.“
Hendrik Becher begleitete die beiden zur Tür und gab beiden zum Abschied die Hand. Maurice hatte eigentlich keine Lust, ihm die Hand zu reichen, ließ sich allerdings nicht anmerken und gab ihm ebenfalls die Hand.
„Was hältst du von ihm?“, fragte Burscheidt, als sie das Haus verlassen hatten.
„Ich mag ihn nicht. Ein typischer BWLer, der meint er sei was Besseres. Schon, wie er versucht hat, sich bei uns einzuschleimen. Dass er es war, glaube ich allerdings nicht. Dazu hätte er nicht den Mut. Er hat höchstens jemand engagiert.“
„Ja, er meinte es schon ein wenig zu gut. Ich glaube zwar auch nicht, dass er es war, aber ich glaube nicht, dass er uns alles gesagt hat. Ich glaube, er weiß mehr.“
„An was genau denkst du da?“
„Tja, das weiß ich selbst noch nicht. Aber wir werden es herausfinden. Aber lasst uns zunächst mal diese Frau Heikinnen finden und sie aufsuchen. Ich glaube zwar nicht, dass dabei etwas herauskommen wird, aber ein Versuch kann ja nicht schaden.“
„Du hast ihn doch auch nicht wirklich verdächtigt?“
„Nein, hab ich nicht. Ich gebe auch zu, dass ich ihn nicht mag und an ihm meine Laune ausgelassen habe. Ich weiß, es war nicht professionell, sorry.“
„Immerhin bist du einsichtig.“
„Ja und keine Sorge, ich werde gleich nicht wieder aus der Reihe tanzen.“
„Das ist ja mal beruhigend.“
Sie erreichten die Adresse von Hendrik Becher. Er wohnte auf der Lueg-Allee in Oberkassel, einer der teuersten Gegenden Düsseldorfs. Aber für einen Einkäufer in einer gehobenen Position, der auch noch der beste Freund des Personalchefs war und dadurch wahrscheinlich noch ein, zwei Gehaltsklassen höher lag, war es sicherlich kein Problem, sich dort eine Wohnung leisten zu können. Maurice gefiel die Gegend zwar, sie hatte ein gewisses französisches Flair, besonders am Belsenplatz, man war sehr schnell am Rhein und im Stadtzentrum, es gab dort schöne Cafés, aber er konnte sich nicht vorstellen, dort zu wohnen. Die Mieten in Düsseldorf gehörten ohnehin schon zu den höchsten Mieten in Deutschland, dann musste es nicht auch noch der teuerste Stadtteil sein. Außerdem galt Oberkassel als spießig und versnobt und dafür war ihm das Geld erst recht zu schade. In Unterbilk, wo er wohnte, fühlte er sich viel wohler. Zwar war die Gegend ziemlich grau, dafür gab es aber mehr Einkaufsmöglichkeiten, so dass er seine Einkäufe zu Fuß erledigen konnte, eine größere Auswahl an Gastronomie und mindestens genauso gute Bahnverbindungen. Auch wenn er ein Auto hatte, war er trotzdem manchmal auf die Bahn angewiesen, gerade an den Wochenenden, wenn er ausging und Alkohol trank. Und zur Not konnte er auch zu Fuß das Stadtzentrum erreichen.
Maurice war gespannt, wie dieser Hendrik Becher wohl aussah, was das für ein Typ war. Der Wohngegend und seinem Beruf entsprechend stellte er sich einen von sich einen oberflächlichen Schickimicki vor. Allerdings ging jemand von dieser Sorte nicht unbedingt ins Zakk, dessen Zielgruppe eher das alternative und kulturelle Publikum war.
Burscheidt klingelte. Maurice erwartete, dass gleich ein „Ja bitte?“ durch die Sprechanlage ertönen würde, doch stattdessen erklang nach wenigen Sekunden das Summen des Türöffners, als erwarte derjenige Besuch.
„Oh, das ging aber schnell“, meinte Burscheidt und drückte die Tür auf. „Entweder hat er schon mit uns gerechnet oder er hat jemand anderen erwartet.“
Maurice nickte zustimmend. „Gleich wissen wir es.“
Im Hausflur befand sich ein Fahrstuhl, aber da die Namenschilder so angebracht waren, dass nicht genau zu erkennen war, auf welcher Etage die jeweiligen Bewohner wohnten, nahmen sie die Treppe. Es handelte sich um einen Altbau mit ca. vier Meter hohen Decken, dementsprechend waren die Treppen hoch und recht steil. Obwohl Maurice ziemlich sportlich war, hätte er keine Lust darauf, in so einem Haus freiwillig die Treppen hochzusteigen. Auf Dauer könnte das ziemlich anstrengend sein, es war ja schon wie eine Bergwanderung. Als sie den zweiten Stock erreichten, stand ein Mann an einer geöffneten Wohnungstür, bei dem es sich offensichtlich um Hendrik Becher handelte. Er war etwa 35, wirkte sportlich, trug eine dunkelblaue Jeans und einen schwarzen Pullover. Seine braunen Haare trug er leicht gegelt mit Seitenscheitel und einer Tolle. Ein typischer BWLer, dachte Maurice. So ähnlich hatte er ihn sich vorgestellt.
„Oh, entschuldigen Sie, ich hätte Ihnen durch die Sprechanlage die Etagennummer sagen sollen. Dann hätten sie den Fahrstuhl nehmen können. Da habe ich nicht richtig nachgedacht. Tut mir leid“, sprach der Mann schuldbewusst auf sie ein. Maurice fand diese Rechtfertigung überflüssig und schleimerisch, erwiderte aber nichts darauf, sondern überließ das Wort Burscheidt.
„Kein Problem“, entgegnete Burscheidt. „Sind Sie Hendrik Becher?“
„Ja, richtig.“
„Guten Tag, mein Name ist Manfred Burscheidt von der Kriminalpolizei. Das ist mein Assistent Maurice Stemmer.“ Burscheidt hielt ihm seine Dienstmarke hin.
„Guten Tag“, meinte Maurice nur.
„Ja, ich habe mit Ihnen schon gerechnet, ich habe erfahren, was passiert ist“, antwortete Becher weinerlich. „Aber kommen Sie doch rein.“
Burscheidt bedankte sich und folgte in die Wohnung, Maurice tat es ihm nach. Becher führte sie ins Wohnzimmer und bat Platz zu nehmen.
„Verzeihen Sie, ich frühstücke gerade, möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?“, bot er höflich an.
„Nein, für mich nicht, danke“, erwiderte Burscheidt.
„Für mich auch nicht“, lehnte Maurice ebenfalls ab.
„Kann ich Ihnen vielleicht sonst irgendetwas anbieten? Einen Tee oder etwas Kaltes? Eine Cola, einen Saft?“
„Nein, nein, sehr freundlich, aber nicht nötig“, bedankte Burscheidt sich. Maurice machte nur eine verneinende Geste. Ihm ging diese aufgesetzte Höflichkeit auf die Nerven.
„Aber wenn Sie ihre Meinung ändern sollten, melden Sie sich einfach“, Becher wieder.
„Das werden wir“, sprach Maurice. Er warf Burscheidt einen Blick zu und verdrehte die Augen dabei, als Becher gerade nicht hinsah. Der Typ geht mir auf den Geist sollte das bedeuten. Burscheidt schien zwar, als er den Blick erwiderte, keine Mimik zu zeigen, aber Maurice kannte ihn gut genug, um zu erkennen, dass er Ähnliches dachte.
„Nun, Herr Becher“, kam Burscheidt schließlich zur Sache. „Wie wir erfahren haben, waren Sie gestern mit Jens Heinemann in der Discothek Zakk.“
„Ja, das ist richtig, wir waren zusammen dort. Ich habe von Frau Heinemann erfahren, was passiert ist. Ich kann gar nicht glauben, was passiert ist. Wer konnte so etwas nur tun.“ Bechers Ton wurde, während er sprach, sehr weinerlich.
„Das versuchen wir herauszufinden. Sie waren befreundet und Arbeitskollegen?
„Ja, er war mein bester Freund. Wir haben uns vor über zehn Jahren in der Universität kennen gelernt. Direkte Arbeitskollegen sind wir nicht, wir arbeiten zwar in derselben Firma, aber in verschiedenen Abteilungen. Jens war der Personalleiter und ich bin Einkäufer, dienstlich hatten wir nichts miteinander zu tun.“
„Aber Ihren Posten haben Sie ihm zu verdanken?“, schaltete Maurice sich ein.
„Ja, er hat mir, als er Personalchef wurde, angeboten, mich einzustellen. Vorher hatte ich in einer anderen Firma gearbeitet. Durch Jens´ Hilfe konnte ich dort direkt einen höheren Posten bekommen als den ich in meiner alten Firma hatte und mehr Geld. Ich weiß, es ist nicht die sportliche Art, ungerecht gegenüber anderen Bewerbern, aber so läuft es nun einmal. Connections bedeuten alles, verstehen Sie?“
„Schon klar. Und auf welcher hierarchischen Ebene befinden Sie sich?“
„Ich bin quasi ein gehobener Sachbearbeiter. Ich kann selbständig Entscheidungen treffen und habe auch meinen eigenen Arbeitsbereich.“
„Warum hat ihr Freund Ihnen nicht gleich einen Managementposten besorgt? Immerhin sind Sie ja durch Ihr Studium dafür qualifiziert und als Personalleiter hätte er doch genug Einfluss darauf.“
„Das schon, aber so einfach geht das leider auch nicht. Wäre ein entsprechender Posten frei gewesen, sicherlich, aber das ist momentan nicht der Fall. Aber ich bin in meiner Position auch glücklich und auch mit dem Gehalt bin ich sehr zufrieden. Und ich will ehrlich sein…“, er zögerte einen Moment lang und sah schuldbewusst zu Boden, bevor er fortfuhr. „Es ist zwar unfair gegenüber anderen Mitarbeitern, aber ich habe, da ich Jens Freund bin, ein höheres Gehalt bekommen als andere für diese Position bekommen hätten.“
„Das habe ich mir wohl gedacht. Dann ist es auch nichts Besonderes sich eine Wohnung wie diese in einem der teuersten Stadtviertel in einer der teuersten Städte Deutschlands zu leisten“, erwiderte Maurice vorwurfsvoll, während er sich mit einem beeindruckten Nicken umsah. Gerne hätte er noch die eine oder andere Bemerkung gemacht, aber beschloss, sich – erstmal – zurückzuhalten. „Wie ist ihr Freund eigentlich an seinen Posten gekommen?“
„Er hatte dort während seines Studiums ein Praktikum geleistet. Nach dem Studium hatte er sich dort beworben und direkt in der Personalabteilung anfangen. Personalmanagement war eines seiner Schwerpunkte, darin hatte er sich auch in seiner Diplom-Arbeit beschäftigt. Als unser alter Personalleiter in den Ruhestand ging, wurde ihm die Stelle angeboten.“
„Also muss er einiges drauf gehabt haben, denn offensichtlich hat er es ohne Hilfe so weit gebracht. Waren Sie eigentlich neidisch, dass ihr Freund weiter gekommen war als Sie? Als Personalleiter war er ja quasi ihr Arbeitgeber und stand über Ihnen. Er hatte es nicht nur weiter gebracht als sie, er hatte auch Einfluss auf ihre Karriere. Genauso wie er Ihnen mehr gezahlt hatte, hätte er Ihnen auch das Gehalt kürzen können. Vielleicht gab es ja mal den einen oder anderen Streit zwischen Ihnen?“
Hendrik Becher zuckte zusammen. „Wie? Sie glauben, dass ich Jens umgebracht habe?“
„Herr Becher“, übernahm Burscheidt wieder das Wort. „Noch kann es jeder gewesen sein. Und bis dahin müssen wir jeden, der mit Herrn Heinemann in Verbindung stand, befragen und um Mithilfe bitten. Sie waren zusammen mit ihm im Zakk. Wo waren sie gegen 23 Uhr?“
„Da bin ich gerade nach Hause gekommen. Ich bin, wie Sie wahrscheinlich schon erfahren haben, eher gegangen, da ich Kopfschmerzen hatte.“
„Und die haben Sie ganz plötzlich bekommen?“, harkte Maurice nach. „So dass sie kurz nachdem Sie angekommen sind, schon wieder abgehauen sind?“
„Ich hatte abends schon leichte Kopfschmerzen, wollte aber nicht absagen. Kurz, bevor wir ankamen, habe ich auch eine Tablette genommen und ging davon aus, dass sie davon weggehen. Aber durch die laute Musik sind sie dann schlimmer geworden, so dass ich dann wieder gegangen bin.“
„Irgendein Nachbar, der mitbekommen hat, wann Sie nach Hause gekommen sind?“
„Nein, leider nicht.“
„Tja, in der Disco hat auch niemand gesehen, dass Sie gegangen sind. Irgendjemand, dem Sie auf dem Rückweg begegnet sind?
„Nein, auch nicht.“
„Wann sind Sie gegangen?“
„Um halb elf.“
„Wie sind Sie nach Hause gekommen?“
„Mit der U-Bahn. Ich habe die U75 um 22:41 Uhr genommen, die direkt bis hierhin durchfuhr. Gegen 23 Uhr kam ich an.“
„Sie fahren U-Bahn? Sie wirken eher wie jemand, der mit dem Taxi fährt.“
„Wäre ich normalerweise auch, aber es war keins frei.“
„Das glaube ich Ihnen sogar. Ich habe gestern auch kein Taxi bekommen, als ich von der Fete, auf der ich gestern war, zum Tatort gerufen wurde. Aber das ist natürlich schade für Sie, dass Sie keins bekommen haben, denn dann könnte der Taxifahrer Ihr Alibi bestätigen.“
Burscheidt warf Maurice einen strengen Blick zu, was bedeuten sollte, dass er seine Bemerkungen unterlassen sollte. Maurice erwiderte den Blick mit einem Nicken, dass er verstanden habe.
„Ich habe ihn nicht umgebracht“, beteuerte Hendrik Becher. „Er war mein bester Freund. Weder gab es Streit zwischen uns, noch war ich neidisch auf ihn.“
„Wissen Sie, ob ihr Freund Streit mit jemand auf der Arbeit hatte oder in seinem Bekanntenkreis?“, fragte Burscheidt.
„Nein, davon ist mir nichts bekannt. Ich arbeite zwar nicht in seiner Abteilung, sah ihn auch so gut wie nie auf der Arbeit, aber er hätte es mir gesagt.“
„Wussten Sie, dass er seine Frau betrogen hat?“
„Ja, schon. Gut fand ich es natürlich nicht, aber er war nun einmal mein Freund, der mir vertraute, und da konnte ich ihn auch nicht einfach verraten und seiner Frau alles erzählen. Aber ich habe ihm mehrmals gesagt, dass es nicht in Ordnung ist. Er wusste selbst, dass es nicht richtig ist, bereute es auch immer wieder, aber er konnte einfach nicht anders. Ich weiß, das ist natürlich auch keine Entschuldigung für alles.“
Maurice ging dieses Theaterspiel auf die Nerven, aber er hielt sich zurück.
„Nicht wirklich, da haben Sie recht“, fand Burscheidt. „Aber könnten Sie sich vorstellen, dass von den Frauen, mit denen er seine Frau betrog, die eine oder andere selbst einen Partner hatte, der dahinter gekommen war?“
Becher sah eine Weile an die Decke, während der überlegte. „Nun ja, theoretisch schon. Einige, mit denen er fremdging, waren auch in einer Beziehung, aber ob die Partner etwas mitbekommen hatten, weiß ich nicht. Meist waren es auch nur Onenightstands, die er hatte.“ Plötzlich hielt er inne, als sei ihm etwas eingefallen. „Doch, da war etwas. Das dürfte aber schon zwei Jahre her sein. Mit einer Frau hatte er eine längere Affaire, Jens hatte sich zu der Zeit öfter mal meine Wohnung ausgeliehen, weil sie sich nicht bei ihm oder bei ihr treffen konnten. Ich weiß, ich hätte das nicht unterstützen dürfen, aber…“
„Aber er war ihr Freund“, unterbrach ihn Maurice, um den Satz für ihn zu beenden.
„Ja, genau.“
„Und wie ging es weiter?“, fragte Burscheidt.
„Sie musste die Affaire allerdings beenden, da ihr Freund misstrauisch geworden war. Herausgefunden hatte er aber wohl nichts und es ist jetzt, wie gesagt, schon zwei Jahre her. Also wahrscheinlich für Sie nicht wirklich hilfreich.“
„Trotzdem ist es schon einmal ein Hinweis, dem wir nachgehen werden“, bemerkte Burscheidt. „Können Sie uns den Namen der Frau geben und sagen, wo sie wohnt?“
„Sie hieß Kirsten Heikinnen, ein finnischer Nachname, daher habe ich ihn mir gemerkt. Sie war Halbfinnin. Eine Adresse von ihr habe ich nicht, ich habe sie auch nur zwei Mal gesehen, ich weiß nur, dass sie aus Pempelfort kam. Ob sie da noch lebt, weiß ich nicht. “
„Den Namen dürfte es nicht so oft in Düsseldorf geben, so dass wir sie schnell finden dürften. Damit haben Sie uns schon mal weiter geholfen. Von unserer Seite aus, war es das schon einmal. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie uns an.“ Burscheidt gab ihm eine Karte.
„Ja, das mache ich natürlich.“
Hendrik Becher begleitete die beiden zur Tür und gab beiden zum Abschied die Hand. Maurice hatte eigentlich keine Lust, ihm die Hand zu reichen, ließ sich allerdings nicht anmerken und gab ihm ebenfalls die Hand.
„Was hältst du von ihm?“, fragte Burscheidt, als sie das Haus verlassen hatten.
„Ich mag ihn nicht. Ein typischer BWLer, der meint er sei was Besseres. Schon, wie er versucht hat, sich bei uns einzuschleimen. Dass er es war, glaube ich allerdings nicht. Dazu hätte er nicht den Mut. Er hat höchstens jemand engagiert.“
„Ja, er meinte es schon ein wenig zu gut. Ich glaube zwar auch nicht, dass er es war, aber ich glaube nicht, dass er uns alles gesagt hat. Ich glaube, er weiß mehr.“
„An was genau denkst du da?“
„Tja, das weiß ich selbst noch nicht. Aber wir werden es herausfinden. Aber lasst uns zunächst mal diese Frau Heikinnen finden und sie aufsuchen. Ich glaube zwar nicht, dass dabei etwas herauskommen wird, aber ein Versuch kann ja nicht schaden.“