Biestdorf
Kurzgeschichte zum Thema Jugend
von RainerMScholz
Grünglimmende Nachtlichter in Bodenhöhe erhellen des nachts den mehrfach belegten Schlafraum, ein diffuses Wabern um die eisernen Bettgestelle herum, das den Platz unter den Liegen und hinter den Holzschränken, in den Ecken und Winkeln noch mehr verfinstert. Ich bin ganz allein und höre die Schlafgeräuche der anderen vier, das leise Atmen, das Stocken und gurrende Röcheln, wie der tiefe letzte Schlaf, bevor es graut morgen früh und zurückgeht an die Front. Ich drehe mich von dem ewigen Nachtlicht neben der Tür weg und schließe die Augen. Alles ist neu und ungewohnt, und ich habe das Gefühl, die Augen weit aufzureißen, obschon ich vermutlich längst eingeschlafen bin.
Ein schriller Weckton, der durch das gesamte Gebäude jagt, schreckt alle aus ihren Betten. Schnell und funktionell wird sich angezogen. Alle hasten unter Schubsen und Drängeln in die Waschräume. Zähneputzen, Kämmen, zurück aufs Zimmer und die Sachen gepackt für den Tag. Dann runter zum Essenfassen. Morgengebet. Der Herr behüte uns. Draußen zieht ein Gewitter auf. Wie ferner Donner hallt es in meinen Ohren. Amen. Immer wieder Amen. Morgens, mittags und abends bis zum Erbrechen. Bis das Gebet einem gleichgültigen Singsang ähnelt, einem Geräusch, bis die Zeremonie zur Farce verkommt, gesteigert zur absoluten Unglaubwürdigkeit. Oder zur völligen Ergebenheit.
Nach den ersten Tagen ist schon klar, wie das hier läuft. Die Höherstufigen, die Offiziere malträtieren die Jüngerstufigen, die wiederum eine Stufe tiefer kommen, um ihrerseits zu quälen, zu treten, zu schlagen und zu spucken. Die Jüngsten sind die, die erst nur lernen sollen und den Platz untereinander behaupten. Hier herrscht das System der Gewalt. Und dann wieder zum Tagesgebet in die Kapelle, die eigentlich eine Kirche ist. Es riecht nach Weihrauch und ungewaschener Wäsche. Alle undeklarierten Antichristen, Ungläubigen und stillen Gottesleugner singen ein Halleluja-Amen. Ellbogen werden in Rippen gepufft, die Knie blutig, Kopfnussalarm. Der Pater dreht sich vom Altar weg und hält die Monstranz in die Höhe. Alle schauen zu Boden. Jemand lacht hämisch hinter vorgehaltener Hand. Der Pater im Ornat guckt böse. Das bedeutet Nachsitzen in der Messe. Bis wir wie die Lämmer sind. Nur stiller. Einmal in der Woche ist Beichte. Wir beichten denen, die uns vertrauensvoll zu guten Christenmenschen erziehen, zu Soldaten Christi im Namen der Missionare von der Heiligen Familie, ein Schweizer Orden (die Pest über ihn). Ich hab´ gestohlen, ich hab´ gelogen, ich hab´ die Katz´ am Schwanz gezogen. Humor wie ich ihn kannte wird hier klein geschrieben: Es kostet mich zehn Vaterunser auf Knien auf der Vorderkante der Stufen zum Altar vor aller Augen. Demut schaumlöffelsweise. Hinterhältige, kriecherische Demut. Und eine Woche Küchendienst. Die Älteren werden mich zusätzlich drangsalieren; aber ich weiß mich zu rächen – ein Stockwerk tiefer. Ich bin schon 374 Tage hier.
Zuhause kennt mich niemand mehr. Alle gehen ihren gewohnten Tätigkeiten nach. Manche meiner Freunde sprechen nicht mehr mit mir, weil sie denken, ich hielte mich für etwas Besseres jetzt. Die anderen werden mich vergessen. So wie der Rest der Welt mich vergessen zu haben scheint, hier in dieser Abgeschiedenheit, hinter den Bergen, bei den sieben Zwergen, den 77 Patres, den 777 Höherstufigen, den 7777 Gleichen unter Gleichen.
Nachts liegt Oliver Klemm auf mir, um mir und den anderen auf obszöne Art klar zu machen, wer hier auf seiner Stube das Sagen hat. Er pumpt auf und ab. Er will, dass ich ihm ins Gesicht sehe und sage, dass er hier der Boss ist. Ich sage es. Draußen auf dem Gang gibt es ein Geräusch. Kichernd steigt er von mir herunter. Alles ist still. Wir geben uns der vorgetäuschten Massenmasturbation unter unseren Bettdecken hin. Hellraider.
Mannschaften aus der Umgebung meiden uns. Auf dem Feld lassen wir all unserem Hass freien Lauf. Wir haben Eisen unter unseren Stiefeln und Schlagringe, die wir aus grünlackierten Abwasserdrehknäufen zurechtfeilten, in den Taschen. Das Feld ist ein Acker und ich bin der Letzte Mann. Egon sagt: Lass niemanden durch. Egon vertraut mir. Er ist blond und dürr und ist im Sturm die Spitze. Er grinst. Ich lasse niemanden durch. Das fällt mir leicht, denn ich brauche nur auf meinen Hass zu rekurieren und darauf, dass ich meinen Körper nahezu zu verlassen vermag, ich vergesse einfach, dass ich Ich bin, die Schmerzen, die Gefahr und das Risiko. Als sei ich allein für diese Aufgabe auf der Welt, die Verhinderung eines Durchbruchs, koste es, was es wolle. Von mir hängt das Wohl der Truppe ab. Mit mir steht und fällt die Verteidigung. Ich habe Eisen unter den Sohlen und die Fäuste geballt. Ich bin von Stolz erfüllt, nachdem wir den Acker verlassen. Das Feld gehörte uns, unabhängig von Sieg oder Niederlage. Auch wegen mir.
Am Samstag tauchen wir in dem kleinen chlorverseuchten Bassin, das unser Schwimmbad ist, nach Geldstücken, die Pater Stefan ins Wasser wirft. Wir lernen schwimmen.
Thomas, Georg und Joachim haben mich gegen Dennis aufgestachelt, ein schwächerer Kamerad mit geringem Ansehen. Ich provoziere ihn, verulke ihn, mache ihn lächerlich. Unerwartet schlägt er zu mit dem Furor der Verzweiflung und der Erniedrigung. Ich wache im Krankenlager auf. In Zukunft muss ich zwei Stockwerke tiefer gehen. Es sind jetzt 481 Tage. Ich habe schnell gelernt.
Pater Johann hat ein Loch in der Stirn. Aus Stalingrad, wie kolportiert wird. Bei großer Hitze dehnt sich das verbliebene Metall in seinem Schädel aus und er schreit und weint und ist orientierungslos. Ich kann Pater Johann gut leiden. Dann wird er pensioniert. Ich trauere um Pater Johann. Er war wie ein Vorbild für mich.
Am Wochenende war ich bei meiner Großmutter. Fronturlaub. Wir haben uns nichts zu sagen, nur, dass sie dauernd weint, und wie leid es ihr täte. Sie versucht auch mit ihrem verschrumpelten Mund mich zu küssen. Angewidert stoße ich sie von mir. An meinen Handflächen spüre ich ihre leeren Brüste unter ihrer Kittelschürze. Ich sehne mich nach der Rückkehr in meinen Krieg. Ich will zurück. Zurück in meine Welt. Mein Onkel fährt mich zum Bus. Ich sehe, dass ihm das nicht leicht fällt. Doch eigentlich ist er es, den ich bedauere. Die Deckenlichter im Bus sind milchiggrün. Ich sehe nur Kameraden, die mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt sind. Wir fahren schweigend los. Draußen ist es Nacht.
Ich rieche. Pater Dietrich hat mich darauf aufmerksam gemacht: Georg wird dafür Sorge tragen, dass du dich regelmäßig wäschst. Georg bewohnt mit Klemm die Stube, auf der ich liege. Doch ich habe Angst vor den Gemeinschaftsduschen. Die Seife auf dem Boden. Ich nicke. Ich gehe in die Duschräume. Aber ich dusche nicht. Oliver Klemm ist immer noch mein Boss.
Christian Illi, ein Freund von Zuhause, etwas dicklich, mit einem dunklen Teint, ist nun auch hier. Seine Eltern haben eine Kneipe, der Küster trinkt da seinen Frühschoppen, und unser Grundschullehrer, Herr Winziers, wird auch empfohlen haben. Ich freue mich und weiß doch gleichzeitig, dass diese Freude mich verletzlich machen wird. Also gehe ich zwei Stockwerke tiefer, begrüße ihn und schlage ihn zusammen. Er lächelt mich dabei dauernd an, verständnislos, ahnungslos, roboterhaft. Er wird schon lernen. Es ist der 793. Tag.
Früher habe ich noch telefoniert, habe mich in die Schlange vor dem öffentlichen Münzfernsprecher gestellt. Heute weiß ich nicht mehr, wen ich anrufen soll. Und auch nicht, ob ich früher trauriger war, als ich es noch wusste, oder jetzt, wo es mir egal ist.
Meine mir fremde Mutter will die Ferien mit mir verbringen. Sie quasselt an einem Stück. Ich weiß nicht, was ich mit ihr anfangen soll und sie nicht mit mir. Wir kennen uns nicht. Früher hatte sie mir einmal, bei einem ihrer wenigen Besuche, ein Maniküreetui geschenkt, mit dem ich mir sogleich die halbe Fingerkuppe des linken Zeigefingers abschnitt. Sie hat mich erschreckt und konsterniert angeblickt und ist dann wieder gefahren. Daran kann ich mich noch erinnern.
Ich weiß jetzt, dass meine Zeit hier bald endet. Mit Christian Illi gehe ich durch die Stadt. Heimaturlaub. Ganz zufällig treffen wir einen ehemaligen Lehrer. Triumphierend schreie ich ihm ins Gesicht, dass es bald aus sei. Ich habe schwere schwarze Stiefel an. Christian hält mich am Arm fest. Leute drehen ihre Köpfe nach uns. Ich sehe seine abgeknabberten, verkrüppelten Fingernägelstümpfe und denke: was soll`s schon. Christian und ich gehen weiter. Der Mann lächelt zu Boden. Immer noch verlegen. Er steckt seinen Daumen in den Mund.
Und jetzt bin ich hier. Bei euch. Ihr wollt mir zeigen, wie die richtige Welt funktioniert. Zurück aus meinem Krieg, real und im Kopf. Alles sehr mondän hier und schick, ich weiß nicht, was es soll. Ich kenne eine Methode, um nicht zu Schaden zu kommen. Kennt ihr die auch? Seid ihr da besser als ich? Ich habe Eisenstollen unter den Sohlen und einen Schlagring in der Tasche. Und was habt ihr?!
© Rainer M. Scholz
Ein schriller Weckton, der durch das gesamte Gebäude jagt, schreckt alle aus ihren Betten. Schnell und funktionell wird sich angezogen. Alle hasten unter Schubsen und Drängeln in die Waschräume. Zähneputzen, Kämmen, zurück aufs Zimmer und die Sachen gepackt für den Tag. Dann runter zum Essenfassen. Morgengebet. Der Herr behüte uns. Draußen zieht ein Gewitter auf. Wie ferner Donner hallt es in meinen Ohren. Amen. Immer wieder Amen. Morgens, mittags und abends bis zum Erbrechen. Bis das Gebet einem gleichgültigen Singsang ähnelt, einem Geräusch, bis die Zeremonie zur Farce verkommt, gesteigert zur absoluten Unglaubwürdigkeit. Oder zur völligen Ergebenheit.
Nach den ersten Tagen ist schon klar, wie das hier läuft. Die Höherstufigen, die Offiziere malträtieren die Jüngerstufigen, die wiederum eine Stufe tiefer kommen, um ihrerseits zu quälen, zu treten, zu schlagen und zu spucken. Die Jüngsten sind die, die erst nur lernen sollen und den Platz untereinander behaupten. Hier herrscht das System der Gewalt. Und dann wieder zum Tagesgebet in die Kapelle, die eigentlich eine Kirche ist. Es riecht nach Weihrauch und ungewaschener Wäsche. Alle undeklarierten Antichristen, Ungläubigen und stillen Gottesleugner singen ein Halleluja-Amen. Ellbogen werden in Rippen gepufft, die Knie blutig, Kopfnussalarm. Der Pater dreht sich vom Altar weg und hält die Monstranz in die Höhe. Alle schauen zu Boden. Jemand lacht hämisch hinter vorgehaltener Hand. Der Pater im Ornat guckt böse. Das bedeutet Nachsitzen in der Messe. Bis wir wie die Lämmer sind. Nur stiller. Einmal in der Woche ist Beichte. Wir beichten denen, die uns vertrauensvoll zu guten Christenmenschen erziehen, zu Soldaten Christi im Namen der Missionare von der Heiligen Familie, ein Schweizer Orden (die Pest über ihn). Ich hab´ gestohlen, ich hab´ gelogen, ich hab´ die Katz´ am Schwanz gezogen. Humor wie ich ihn kannte wird hier klein geschrieben: Es kostet mich zehn Vaterunser auf Knien auf der Vorderkante der Stufen zum Altar vor aller Augen. Demut schaumlöffelsweise. Hinterhältige, kriecherische Demut. Und eine Woche Küchendienst. Die Älteren werden mich zusätzlich drangsalieren; aber ich weiß mich zu rächen – ein Stockwerk tiefer. Ich bin schon 374 Tage hier.
Zuhause kennt mich niemand mehr. Alle gehen ihren gewohnten Tätigkeiten nach. Manche meiner Freunde sprechen nicht mehr mit mir, weil sie denken, ich hielte mich für etwas Besseres jetzt. Die anderen werden mich vergessen. So wie der Rest der Welt mich vergessen zu haben scheint, hier in dieser Abgeschiedenheit, hinter den Bergen, bei den sieben Zwergen, den 77 Patres, den 777 Höherstufigen, den 7777 Gleichen unter Gleichen.
Nachts liegt Oliver Klemm auf mir, um mir und den anderen auf obszöne Art klar zu machen, wer hier auf seiner Stube das Sagen hat. Er pumpt auf und ab. Er will, dass ich ihm ins Gesicht sehe und sage, dass er hier der Boss ist. Ich sage es. Draußen auf dem Gang gibt es ein Geräusch. Kichernd steigt er von mir herunter. Alles ist still. Wir geben uns der vorgetäuschten Massenmasturbation unter unseren Bettdecken hin. Hellraider.
Mannschaften aus der Umgebung meiden uns. Auf dem Feld lassen wir all unserem Hass freien Lauf. Wir haben Eisen unter unseren Stiefeln und Schlagringe, die wir aus grünlackierten Abwasserdrehknäufen zurechtfeilten, in den Taschen. Das Feld ist ein Acker und ich bin der Letzte Mann. Egon sagt: Lass niemanden durch. Egon vertraut mir. Er ist blond und dürr und ist im Sturm die Spitze. Er grinst. Ich lasse niemanden durch. Das fällt mir leicht, denn ich brauche nur auf meinen Hass zu rekurieren und darauf, dass ich meinen Körper nahezu zu verlassen vermag, ich vergesse einfach, dass ich Ich bin, die Schmerzen, die Gefahr und das Risiko. Als sei ich allein für diese Aufgabe auf der Welt, die Verhinderung eines Durchbruchs, koste es, was es wolle. Von mir hängt das Wohl der Truppe ab. Mit mir steht und fällt die Verteidigung. Ich habe Eisen unter den Sohlen und die Fäuste geballt. Ich bin von Stolz erfüllt, nachdem wir den Acker verlassen. Das Feld gehörte uns, unabhängig von Sieg oder Niederlage. Auch wegen mir.
Am Samstag tauchen wir in dem kleinen chlorverseuchten Bassin, das unser Schwimmbad ist, nach Geldstücken, die Pater Stefan ins Wasser wirft. Wir lernen schwimmen.
Thomas, Georg und Joachim haben mich gegen Dennis aufgestachelt, ein schwächerer Kamerad mit geringem Ansehen. Ich provoziere ihn, verulke ihn, mache ihn lächerlich. Unerwartet schlägt er zu mit dem Furor der Verzweiflung und der Erniedrigung. Ich wache im Krankenlager auf. In Zukunft muss ich zwei Stockwerke tiefer gehen. Es sind jetzt 481 Tage. Ich habe schnell gelernt.
Pater Johann hat ein Loch in der Stirn. Aus Stalingrad, wie kolportiert wird. Bei großer Hitze dehnt sich das verbliebene Metall in seinem Schädel aus und er schreit und weint und ist orientierungslos. Ich kann Pater Johann gut leiden. Dann wird er pensioniert. Ich trauere um Pater Johann. Er war wie ein Vorbild für mich.
Am Wochenende war ich bei meiner Großmutter. Fronturlaub. Wir haben uns nichts zu sagen, nur, dass sie dauernd weint, und wie leid es ihr täte. Sie versucht auch mit ihrem verschrumpelten Mund mich zu küssen. Angewidert stoße ich sie von mir. An meinen Handflächen spüre ich ihre leeren Brüste unter ihrer Kittelschürze. Ich sehne mich nach der Rückkehr in meinen Krieg. Ich will zurück. Zurück in meine Welt. Mein Onkel fährt mich zum Bus. Ich sehe, dass ihm das nicht leicht fällt. Doch eigentlich ist er es, den ich bedauere. Die Deckenlichter im Bus sind milchiggrün. Ich sehe nur Kameraden, die mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt sind. Wir fahren schweigend los. Draußen ist es Nacht.
Ich rieche. Pater Dietrich hat mich darauf aufmerksam gemacht: Georg wird dafür Sorge tragen, dass du dich regelmäßig wäschst. Georg bewohnt mit Klemm die Stube, auf der ich liege. Doch ich habe Angst vor den Gemeinschaftsduschen. Die Seife auf dem Boden. Ich nicke. Ich gehe in die Duschräume. Aber ich dusche nicht. Oliver Klemm ist immer noch mein Boss.
Christian Illi, ein Freund von Zuhause, etwas dicklich, mit einem dunklen Teint, ist nun auch hier. Seine Eltern haben eine Kneipe, der Küster trinkt da seinen Frühschoppen, und unser Grundschullehrer, Herr Winziers, wird auch empfohlen haben. Ich freue mich und weiß doch gleichzeitig, dass diese Freude mich verletzlich machen wird. Also gehe ich zwei Stockwerke tiefer, begrüße ihn und schlage ihn zusammen. Er lächelt mich dabei dauernd an, verständnislos, ahnungslos, roboterhaft. Er wird schon lernen. Es ist der 793. Tag.
Früher habe ich noch telefoniert, habe mich in die Schlange vor dem öffentlichen Münzfernsprecher gestellt. Heute weiß ich nicht mehr, wen ich anrufen soll. Und auch nicht, ob ich früher trauriger war, als ich es noch wusste, oder jetzt, wo es mir egal ist.
Meine mir fremde Mutter will die Ferien mit mir verbringen. Sie quasselt an einem Stück. Ich weiß nicht, was ich mit ihr anfangen soll und sie nicht mit mir. Wir kennen uns nicht. Früher hatte sie mir einmal, bei einem ihrer wenigen Besuche, ein Maniküreetui geschenkt, mit dem ich mir sogleich die halbe Fingerkuppe des linken Zeigefingers abschnitt. Sie hat mich erschreckt und konsterniert angeblickt und ist dann wieder gefahren. Daran kann ich mich noch erinnern.
Ich weiß jetzt, dass meine Zeit hier bald endet. Mit Christian Illi gehe ich durch die Stadt. Heimaturlaub. Ganz zufällig treffen wir einen ehemaligen Lehrer. Triumphierend schreie ich ihm ins Gesicht, dass es bald aus sei. Ich habe schwere schwarze Stiefel an. Christian hält mich am Arm fest. Leute drehen ihre Köpfe nach uns. Ich sehe seine abgeknabberten, verkrüppelten Fingernägelstümpfe und denke: was soll`s schon. Christian und ich gehen weiter. Der Mann lächelt zu Boden. Immer noch verlegen. Er steckt seinen Daumen in den Mund.
Und jetzt bin ich hier. Bei euch. Ihr wollt mir zeigen, wie die richtige Welt funktioniert. Zurück aus meinem Krieg, real und im Kopf. Alles sehr mondän hier und schick, ich weiß nicht, was es soll. Ich kenne eine Methode, um nicht zu Schaden zu kommen. Kennt ihr die auch? Seid ihr da besser als ich? Ich habe Eisenstollen unter den Sohlen und einen Schlagring in der Tasche. Und was habt ihr?!
© Rainer M. Scholz