Eduard

Erzählung zum Thema Gegensätze

von  tulpenrot

Eduard


„Wenn ich nicht jeden Morgen dasselbe esse, wird mir schlecht“, sagte Eduard. „Da die Haferflocken einen sauren Magen machen, muss ich hinterher noch einen Apfel essen. Der neutralisiert“, erklärte er weiter. „Das reicht mir zum Frühstück.“

Eduard war ein freundlicher junger Mann, ein Bekannter von Gerdas Tochter Ilse, der zu Besuch war und bei Gerda im Gästezimmer übernachtete.
Von da ab stellte sie ihm morgens nur eine Schüssel hin, keinen weiteren Teller und keine Tasse, nur die blaue Tüte mit den Schmelzflocken, kalte frische Milch, einen Apfel. Und legte ein Messer und einen Esslöffel dazu. Gerda brauchte erheblich mehr Geschirr für Kaffee oder Tee mit Milch und Zucker, für Brot und Marmelade oder Honig oder Frischkäse, Ei und Schinken oder Müsli mit Obst. Gerda liebte die Abwechslung. Mal so, mal anders.

Es sollte anschließend nach dem Frühstück ein netter Ausflug mit dem Auto werden. Ilse hatte ihre Mutter zu einem gemeinsamen Treffpunkt bestellt. Sie hatte zusätzlich zu Eduard noch Karl eingeladen mit zu fahren. Auch Karl war ein freundlicher junger Mann. Eduard und Karl saßen auf den Rücksitzen. Man fuhr zum Kaffeetrinken in ein Schloss. Der Kaffee war nichts Besonderes, der Kuchen ging so, aber der Ausblick auf das tief gelegene Flusstal war unglaublich schön und romantisch. Gerda versuchte eine Unterhaltung zustande zu bringen. Eduard und Karl antworteten recht einsilbig. Ilse war ebenfalls nicht sehr gesprächig.
„Ist ja eigentlich nicht meine Idee, das Ganze hier. Und es sind nicht meine Freunde, also bin ich für nichts verantwortlich“, sagte sich Gerda und schwieg nun auch. Keiner wusste anscheinend mit dem anderen viel anzufangen. Also brachen sie bald wieder auf zu ihrem nächsten Ziel.

"Ich vertrage übrigens das Autofahren nicht", bemerkte Eduard ganz überraschend beim Einsteigen. "Könntest du bitte langsamer fahren als bisher? Vor allem in den Kurven?"
Gerda schaute ihn verdutzt an. Warum sagt er das erst jetzt? Das war ein bisschen seltsam, fand sie. Also gab sie sich ab jetzt alle Mühe, das Tempo so zu drosseln, dass er zufrieden war. Sie fuhr dann auf der Überlandstraße eben nur noch 50km/h, riskierte aber dadurch, dass die anderen Autofahrer sie laufend, zum Teil halsbrecherisch überholten. Gerda fühlte sich ungemütlich, weil sie zum Verkehrshindernis geworden waren.
„Aber du fährst doch selber Auto. Wie ist es denn da?“, fragte Gerda.
Wenn er selbst am Steuer säße, würde er auch sehr langsam fahren, betonte Eduard. Er habe schon als Kind das Autofahren nicht vertragen, erklärte er. Die Autoreisen nach Österreich seien jedes Mal eine Qual gewesen.
„Und was haben die Eltern dazu gesagt oder dagegen unternommen?“, fragte Gerda.
„Nichts“, bekam sie zur Antwort.
„Und es hat sich nicht gebessert seither?“, fragte sie besorgt.
„Nein.“
Gerda war sauer. Warum ließ er sich auf diesen Ausflug ein, wenn er doch wusste, dass Autofahren nichts für ihn ist?

Sie hielten im nächsten Ort, um durch die Straßen zu schlendern und das Wasserschloss zu besichtigen. Die Sonne schien. Eduard kramte in seinem Rucksack herum, zog zu Gerdas Entsetzen einen schwarzen Knirps heraus und spannte ihn auf. Er war potthässlich und obendrein auch noch völlig verbogen. Es sah bescheuert aus. Warum trug er kein langärmeliges T-Shirt und einen flotten Sonnenhut und eine schicke Sonnenbrille, wenn er die Sonne nicht verträgt? Musste er so altertümlich daherkommen? Gerda schämte sich mit ihm unterwegs zu sein, sagte aber nichts und trottete lustlos hinter Ilse, Karl und Eduard her.

Abends saßen Eduard, Ilse und Gerda zu Dritt beim Abendessen. Vielerlei Käse- und Wurstsorten, Quark, Schinken, dazu Tomaten und Gurken hatte Gerda zur Auswahl aufgetischt. Aber Eduard hatte es als erstes auf die Tomaten abgesehen. Ungläubig und mit großen Augen beobachtete Gerda, wie Eduard eine Tomate nach der anderen als Ganzes in den Mund schob, bis er tatsächlich alle sechs aufgegessen hatte ohne sich darum zu kümmern, ob die anderen am Tisch eventuell auch etwas davon wollten. Bekümmert knabberte Gerda an ihrem Brot.
Sie bot Eduard Saft an. Er lehnte ab. „Ich kann auch einen Tee kochen“, meinte sie. Eduard schüttelte den Kopf. „Oder magst du Mineralwasser?“
„Ich trinke nur Leitungswasser“, gab er zur Antwort. Gerda erhob sich und füllte eine Glas-Karaffe mit Wasser und schenkte ihm ein.

Inzwischen hatte Eduard auf dem Aufschnittteller eine einzelne letzte Scheibe gekochten Schinken entdeckt. Er fragte, ob er die nehmen dürfe.
„Natürlich“, sagte Gerda als höfliche Gastgeberin und reichte ihm den Teller hinüber. Da nahm er mit den Fingern die Schinkenscheibe vom Teller, obwohl eine Aufschnittgabel daneben lag, und schob sie sich wieder einfach so in den Mund, wie er es mit den Tomaten vorher gemacht hatte.

Als nächstes hatte Eduard Appetit auf ein Stück von der Salat – Gurke. Sie lag auf einem Teller direkt neben Ilses Gedeck. Statt zu fragen, ob sie ihm den Teller mit der Gurke herüberreichen könnte, langte er mit seinem Messer an ihr vorbei und schnitt sich von der Gurke ab. Ilse unterbrach ihr Essen, legte die Hände in den Schoß, saß stocksteif da und wartete, bis er fertig war.
"Geradezu provozierend!", dachte Gerda aufgebracht. Sie konnte ihr Entsetzen fast nicht zurückhalten. Ihr war der Appetit vergangen.

„Gibt es denn überhaupt keine Tischsitten mehr?“, fragte sie nach der Abreise von Eduard ihre Tochter. „Noch nicht einmal ganz einfache Benimmregeln? Er ist doch Studienrat!“
„Was regst du dich so auf?“, bekam sie zur Antwort. „Eduard ist schlicht und ergreifend nur schüchtern. Er wollte niemandem zur Last fallen.“
„Schlicht …“, echote es in Gerda, als sie die Bettwäsche im Gästezimmer abzog. „… und ergreifend.“ Sie zuckte die Achseln und lüftete gründlich.

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (04.01.16)
Da kann man nur hoffen, dass keine real existierende Figur hier Pate stand. Immerhin ist es Dir überzeugend gelungen, Gegensätze zwischen alt und jung herauzuarbeiten. Darunter leidet die Gesellschaft schon ein wenig. Ich denke nur ans Grüßen bei Begegnungen draußen. LG

 tulpenrot meinte dazu am 04.01.16:
Danke, Armin. Ich wundere mich einfach immer wieder mal. Und frage mich, ab wann soll man was sagen? Aber Lüften tut auf jeden Fall gut! Und ist harmlos.
LG
Angelika
swetlana (51)
(06.01.16)
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 tulpenrot antwortete darauf am 06.01.16:
Das mag ich auch. Bloß, wenn man an Gerdas Tisch gesessen hätte, hätten wir beide nix abbekommen. Eduard hätte sie alle schon gegessen. So nach dem Motto: "Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr". Es fragt sich nur, wer wen hier kontrollieren wollte und wer gefährlicher lebt als die anderen. Ich würde vorschlagen, dass Ilse und Gerda und Eduard noch ein wenig darüber nachdenken. Aber vielleicht hat Karl das Spiel durchschaut - wer weiß? Jedenfalls herzlichen Dank für deine Anmerkung und das Sternchen.
LG tulpenrot
swetlana (51) schrieb daraufhin am 06.01.16:
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