Bis das Salz erbricht

Kurzgeschichte zum Thema Existenz

von  RainerMScholz

Diese mörderischen Berge. Mit ihren lächelnden messerwetzenden Menschen. Diese Steine und Grate, Schluchten, Erker und Schlote, diese lunaren Abgründe und furchterregenden Gipfel, diese Steine, die sprechen.
Weithin ist es zu riechen, beinahe zu schmecken, am Rande der Speichelfeuchte des Gaumens, spürbar auf der Haut, dort setzt es sich fest, an den Leib geschmiegt, die Zunge belegt, vielleicht sogar das Gehen erschwerend, so tranig und ölig und speckig glänzend. Der Geruch des Todes, das Gespür für die Verneinung des Lebendigen, der Ruch des Gesottenen. Eine blutige frische Leber ist wie eine Einladung, das Tierhafte, das Unterdrückte an die Oberfläche zu lassen, das stets lauert und gärt und hungert. Dieses lebendige rohe Fleisch mag die Eucharistie sein, die das Vergangene und das Zukünftige miteinander im Hier und Jetzt vereint, um das Wesenhafte alles Lebens zu schmecken und zu trinken und erfahren zu können. Es duftet wie das Leben selbst, es schreit und jubiliert.
Auch ein abgebissenes Ohr kann riechen und schmecken, oder eine Nase, nicht so vermufft, wie man vielleicht glaubt; das Innere einer Mundhöhle, die weichen Teile, der Knorpel, wie klebriges altes Sperma, salzig, gummiartig; oder wie Hintern, das Innere eines alten Omnibusses in Erinnerung rufend, Kindheit, Kleinheit; ein Bauchnabel, bei Männern anders als bei Frauen, ich weiß nicht, wieso; eine Achselhöhle, nach Bärenfalle, oder nach Veilchen riechend; drahtige oder weiche Schamhaare, mehrfach gelutscht wie Zuckerwatte ohne Zucker. Der Unterleib ist ziemlich simpel meist, er exaudiert und schmeckt schlicht nach Unterleib, nach Fruchtbarkeit oder Verderben, oft beides. Eine Kniekehle, eine zarte Ferse, die Schenkel, ein hauches Zart von Nichts.
Alte Menschen riechen nach alten Menschen. Urin, Kot, Bettlakenschweiß. Aber die Innereien, das Innerste, sind wie der offene Schoß einer empfängnisbereiten Frau, ein Empfinden von Dammbruch und Erdbeeren, Heu und warmem, dunklem Kuhstall. Aber nur der offene, frische Leib. Der alte: nach Aas.
Der Himmel jedoch ist das frischeste sprudelnde Blut, der Fluss des Lebens, zart, jungfräulich und rein, die pulsierende rote Süße, die dem leuchtenden, goldenen Tabernakel entspringt. Im Aushauchen ist die Auferstehung. Das ist mein unverbrauchter Leib, mein Wille und mein Dasein. Mein Wein. Mein Herzallerliebst. Eau de vie. Odeur de la cote. Parfum de la petite mort.
Die schrecklichen Ebenen und endlosen Wüsten und Wüsteneien. Mit diesen übergroßen, dürren, aufrecht stehenden Vogelscheuchenmenschen, die schauen mit brennenden Augen. Diese unergründlichen Wasser. Und die Menschen peitschen die See und die Tiefen und Untiefen und schreien gegen den Wind und die Steine, den Sand und die Sterne am Himmel. Sie fressen die Meere leer. Sie fressen die Sterne, sie fressen das Land.
Diese mörderischen Berge. Mit ihren grinsenden, messerwetzenden Menschen. Diese stummen Steine. Das verstummte Land.


© Rainer M. Scholz

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