Probleme? Petronius Arbiter weiß Rat: (7) Seltsamer Nationalstolz? Football's coming Rome.

Text

von  Willibald

Leo Fürstenberger  schreibt:

Mir ist etwas Seltsames passiert. Heute früh las ich die London Times, kam auf den Sportteil und wurde unwiderstehlich angezogen von dieser Überschrift:

Tuchel outsmarts Guardiola to conquer Europe for Chelsea.
Tuchel überlistet Guardiola, um Europa für Chelsea zu erobern.

Es folgte eine Ekloge:

„Die Stars des Triumphs waren vorhersehbar - bis auf einen. Das war Tuchel, der Pep Guardiola zum dritten Mal innerhalb von sechs Wochen mit seinem genialen Stellungsspiel und seinem verheerenden Konterfußball überlistete. Wie lange die Ehe zwischen Chelsea und dem Deutschen auch dauern mag, man wird die spektakulären Flitterwochen und ihren wunderbaren Höhepunkt mit dem Feuerwerk in Porto nie vergessen.“

Seltsam: Was bringt mich in Hochstimmung, wenn ich von dem Erfolg eines deutschen Trainers in England höre? Was bringt  mich in Hochstimmung, wenn englische Zeitungen den Genius des Deutschen rühmen? Was macht mich stolz, dass da ein Deutscher ist, der eine englische Mannschaft mit drei deutschen Spielern, dem  Recken Rüdiger, dem  Helden Havertz,  dem wackeren Werner,  zum Europameister „macht“?  Bin ich irgendwie ein dumpfer, prärationaler Nationalist, jedenfalls phasenweise?



Petronius Arbiter schreibt:

Unsere Körper sind existenzielle Rätsel, jetzt, wo die Wissenschaft vieles durchleuchten will und kann,  vielleicht sogar mehr denn je. Man denkt, man kennt sich. Aber manchmal halte ich inne und erinnere mich daran, dass ich voller geheimer Kammern und Tunnel bin, die ich nie sehen werde. Wenn etwas aus dem Abgrund ausbricht, in dem unser Gehirn herumfährt, muss man hinsehen. Und dann bleibt es gar nicht so vage. Und die Gehirnforschung  gibt uns keine tieferen Auskünfte. Wir haben in uns einfach die Anlage, das zu schätzen, was uns vertraut ist oder uns in der Glücksuche unterstützt. Arbeit, Beruf, Freundschaft, Liebe, Prestige, Lebensunterhalt, all das geht ohne unsre direkte Umwelt nicht, Freunde, Familie, Staat.  Und ja, wir werden den Reflex immer wieder erleben, der uns das  Umfeld zu schätzen heißt  und uns zu freuen, wenn andere es auch schätzen.

Das geht sehr weit und hat leicht komische Seiten. Ich erinnere mich, dass mein Vater einen gebrauchten Ford Taunus kaufte – den mit der Weltkugel vorne am Kühlergrill – und zum Kundendienst oder bei kleineren Pannen immer wieder zum Ohliger fuhr, dem Fordhändler in Miltenberg West gleich beim Mainzer Tor. Mein Vater schimpfte auf das Auto. Er schimpfte auf das Auto zuhause am Mittagstisch. Er schimpfte bei Kollegen. Ich spürte, wie sich dabei in mir alles zusammenzog. Wie konnte man nur dieses hellblaue Gefährt so verächtlich behandeln!

Es war unser Gefährte auf der Reise nach Kaiserlautern zu den Großeltern, es brachte uns in den Odenwald und den Spessart. Einmal fuhr mein Vater die Familie  zu dem Odenwald-Freibad  in Mönchberg und wunderte sich eine halbe Stunde lang, dass das Auto nicht richtig zog, bis er am aufkommenden Geruch richtig erkannte, dass die Handbremse noch halb angezogen war.

Ich denke auch an die leicht seltsamen und dennoch rührenden Namen kleiner deutscher Vereine. Da gibt es den Hymendorfer SV, da gibt es nahe Passau den DJK Pörndorf. Das DJK steht für „Deutsche Jugendkraft”. Hört sich fast faschistoid an, aber gut, eine Abkürzung. Und wohl nicht toxisch. Da gibt es den  SV Frisia 03 Risum-Lindholm, die Spielvereinigung – ja, das ist es,  vereint gegen andere spielen und kämpfen und nicht auf Foul setzen. Da gibt es den  TSV Drelsdorf-Ahrenshöft-Bohmstedt und den SG Koosbüsch-Weidingen/Wißmannsdorf-Hütterscheid.  Allein wegen der Namenslänge liebenswert.

Natürlich gibt es eingefleischte, verbohrte Fußballfans, die herumpöbeln und sich aufführen wie das Fähnlein der grundtief Bescheuerten. Aber immer wieder habe ich bei Fußballspielen erlebt, wie sich Fans neben mir wild aufführten und dabei augenzwinkernd genossen, in die Rolle des tribalistischen Stammesangehörigen zu fallen. Ich kenne das selber von mir, ich agiere auf der emotionalen Ebene mit einer Art Brunftschrei, wenn "wir" ein Tor geschossen haben,  das ist mein eines Ich.  Das andere Ich lächelt und lacht, wenn es mir zusieht. Ok, Soziologen sprechen von dem grundlegenden Bedürfnis nach "positiver kollektiver Identität". Aggression, Kooperation und Sehnsucht nach Anerkennung gehören zu unserem Bewusstsein und Antriebspotential. Solange wir uns damit auch in einem entspannten Feld der Selbstbeobachtung und des Selbstgenusses bewegen, sollten wir keineswegs missbilligend auf uns heruntersehen.

Wie sprach Thomas Tuchel gestern nach dem 0:1 gewonnenen Spiel und rührte mich fast zu Tränen:

"Ich laufe wie durch einen Film. Meine Kinder sind hier, meine Frau, meine Eltern.  Meine Eltern, die mich auf jeden Fußballplatz gefahren haben, meine Frau, die in der Landesliga Süd bei der 2. Mannschaft des FC Augsburg an der Seitenlinie hinter mir stand und dachte: 'Mit wem bin ich denn da zusammen?',  meine Oma, die zu Hause zuschaut mit über 90 – für die alle ist das hier gerade. Für die alle ist das jetzt. Wenn ich darüber nachdenke, fange ich an zu weinen. Es war sauschwer. Wir haben auch Glück gebraucht, um zu Null rauszugehen. Trotzdem: Wir haben es gestern gefühlt, wir haben es vorgestern gefühlt. Wir haben die ganze Zeit gesagt: Wir sind der Stein im Schuh von Manchester City.“



Roger Laforce kommentiert:

Unsere Schweizer  Nationalspieler sind zu einem grossen Teil Fussballsöldner in fremden Diensten. Dort verdienen sie das Geld für die schicken Autos und ihre Extravaganzen.  Die Motivation für das eigene Land zu spielen tritt da wohl in den Hintergrund, dies umsomehr als die angehenden Helden schon in den Himmel gelobt werden - auch von den Medien - bevor sie gezeigt haben, was sie anderswo gelernt haben sollten und ob sie den Ansprüchen genügen können. Mehr Bescheidenheit vor den Spielen wäre angebracht.

Riccardo Sardo kommentiert:

Der König war dieses Mal nicht Ronaldo, der zwar ein Tor schoss, sondern der 26-jährige Atalanta-Spieler Robin Gosens. Eigentlich ist er für die 12.000 Zuschauer in der Allianz Arena ein halber Unbekannter, mit nur neun Einsätzen für die Nationalmannschaft, ein Auswanderer eigentlich: Er verließ das Rheinland als Junge, um sein Glück zu suchen, wuchs in Holland auf, und dorthin holte ihn das italienische Atalanta vor vier Saisons.

Gian Piero Gasperinis Stürmer durchlöcherte die portugiesische Abwehr,  Semedo wurde düpiert, Gosens erzielte nach fünf Minuten ein wunderschönes Tor, das von VAR annulliert wurde, er war maßgeblich an den ersten drei deutschen Toren beteiligt, erzielte das vierte und krönte "einen Tag, den ich in meinem Leben nie vergessen werde".

Der Applaus der  Zuschauer ist heiß und nicht endenwollend, als er nach einer Stunde wegen Wadenbeschwerden aufhört. Die Standing Ovation ist die e Würdigung einer grandiosen Leistung, der Scherz des erfahrenen Teamkollegen Müller ("Du gehst schon, nach nur einer Stunde?") ist ein Kompliment und eine Weihe.

Italien freut sich, Deutschland freut sich. Das Weitere wird man sehen.

Karl Wagner kommentiert:

Hm, Charles de Gaulle hat etwas Einleuchtendes gesagt, meine ich:
"Patriotismus heißt, dass die Liebe zum eigenen Volk an erster Stelle steht; Nationalismus, dass der Hass auf andere Menschen als die eigenen an erster Stelle steht."

London Times:[/,b]

Er kommt nicht nach Hause, noch nicht. England gab in diesem Turnier alles, wurde aber von einem alten Problem heimgesucht, von Elfmetern, der Geißel in  Gareth Southgates Leben bei Europameisterschaften. Die Fehlschüsse der drei Ersatzspieler Marcus Rashford, Jadon Sancho und Bukayo Saka kamen England teuer zu stehen. Es ist brutal, wie die Jahre des Schmerzes weitergehen.

Das berühmte Lied hallte im Stadion wider und wurde noch intensiver, als Shaw England so spektakulär früh in Führung brachte. Alle, die den Wembley Way hinaufgingen, wachsam nach fliegenden Fackeln und Dosen Ausschau hielten und dabei ihre Füße von dem mit Bier beschmierten Pflaster hoben, kannten die Geschichte und all die Jahre des Schmerzes. Und jetzt.

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Kommentare zu diesem Text

LARK_SABOTA (37)
(30.05.21)
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 Willibald meinte dazu am 31.05.21:
Hast Du, habt ihr vielleicht noch Probleme zum Radschlagen?

Antwort geändert am 31.05.2021 um 10:40 Uhr
LARK_SABOTA (37) antwortete darauf am 01.06.21:
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 AchterZwerg (31.05.21)
Ja,
das ist in der Tat rührend. In Tuchels Aussage vereinen sich Kraft und Poesie. Stolz und Demut.
"Wir haben es gestern gefühlt, wir haben es vorgestern gefühlt. Wir haben die ganze Zeit gesagt: Wir sind der Stein im Schuh von Manchester City.“
Da muss ma erstmal druffkomme ...

:)

 Willibald schrieb daraufhin am 31.05.21:
Des glaubst du aber, du! der trifft wenigstens mal alles, ne!

 Willibald äußerte darauf am 31.05.21:
Tuchels Sprachduktus erinnert an den Beschwörungston Deines famosen Foto-Gedichtes, Dear Heidrun.
gobio (30)
(31.05.21)
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 Quoth (31.05.21)
Hallo Willibald, Du fragst: "Was bringt mich in Hochstimmung, wenn ich von dem Erfolg eines deutschen Trainers in England höre?" Ich kann das sehr gut verstehen, Hochstimmung ist bei mir nicht vorhanden, weil ich von Fußball nur wenig verstehe, aber ich freue mich: Über Klopp, über Tuchel. Ein Lieblingssport englischer Schüler war das sog. "kraut-bashing" - deutsche Austauschschüler zu hänseln, zu schubsen, zu provozieren und fertig zu machen. Ist es das noch? Wenn es nachgelassen hat, dann haben die beiden Trainer sicher dazu beigetragen. Was können die Enkel oder Urenkel der Nazis für das, was ihre Groß- oder Urgroßväter den Engländern angetan haben? Dass sie die Gerechtigkeitswaage ein bisschen wieder ins Gleichgewicht gebracht haben, ich glaube, das ist der Grund für die Freude über den Erfolg der beiden Trainer! Gruß Quoth

 Willibald ergänzte dazu am 04.06.21:
Das sind spannende Antworttexte , lieber Quoth, lieber Guobio.
:
Tatsächlich ist es ungerecht und unfair, was deutsche Schüler an englischen Schulen an „Nazibashing“ erlebten.

Selbstverständlich heißt das keineswegs, dass es sich hier um ein englisches Monopol handelt. Aggression, Spott, Hass auf Fremdes gibt es offensichtlich in allen Gemeinschaften. Wohl auch so etwas wie ein Gefühl für Fairness. Und das wird dann manchmal trotz Hass aktiviert. Rummenigge, Klinsmann, Trautmann sind da die Stichworte. Und das Hochgefühl, das Quoth beschreibt, stellt sich wohl auch deshalb ein, weil der Hass – anders als oft – nicht das letzte Wort haben muss.

Gobio beschreibt seine Erfahrungen mit einem zehrenden, rücksichtslosen Auspressen der Schwimmer zum Ruhme des nationalen Verbandes. Die Frustration und die frühe Erkenntnis, kein Wohlgefallen und kein Wohlverhalten gegenüber einem solchen Verband. Wenn ich den Gründling richtig verstehe, ist ihm nationale Begeisterung generell zuwider. Ein Verdikt, das man bei ihm als universal verstehen kann.

Mir ist diese Wertung keineswegs unverständlich, mir greift sie aber „zu weit“. Und das Verdikt einer illusionären, wirklichkeitsverfehlenden, irrenden Jubeleinstellung trifft eben nicht das Phänomen in seiner Ausfächerung und seine destruktiven wie levitierenden wie kathartischen Potenzen.

Ich erinnere an die fröhliche Hymne der Brasilianer »Eu, sou Brasileiro, com muito orgulho, cum muito amor« (» Ich bin Brasilianer, mit großem Stolz, mit viel Liebe« und „»Von Natur aus ein Gigant,/bist Du schön und stark, unerschrockener Koloss,/und in Deiner Zukunft spiegelt sich die Größe.«) – sie bricht ab, schon nach wenigen Minuten. Bittere Tränen. Ein trauerndes und wütendes Land nach dem 7:1. Dante vom FC Bayern, jetzt in der brasilianischen Elf muss getröstet werden.

Der Torwart Jens Martin Knudsen trägt am 12-09. 1990 im Spiel der Faröer gegen Österreich
eine weiße Bommelmütze. Und der österreichische Trainer Josef Hickersberger erlebt in diesem Spiel seinen vorletzten Arbeitstag. Später dichten Inselbewohner ein Lied auf den Triumph: "Die Berge und das Volk, stolz stehen sie da, David stürzte Goliath, vorwärts, vorwärts, Färöer!"

1954: „Hier sind alle Sender der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlins, angeschlossen Radio Saarbrücken. Wir übertragen aus dem Wankdorf-Stadion in Bern das Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft zwischen Deutschland und Ungarn.“ Die Reporterstimme gehört Herbert Zimmermann. 1994 beschreibt Friedrich Christian Delius diesen 4. Juli 1954: "…..und als die Namen Fritz Walter und Rahn fielen und ein erster gewaltiger Schuss, den der Reporter mit einem wuchtigen Stimmstoß nachahmte, zuckte mir der rechte Fuß: das Wunder war da, es gab eine direkte Verbindung zum Spielfeld in Bern."
„Sechs Minuten noch, keiner wankt, der Regen prasselt unaufhörlich hernieder. Es ist schwer, aber die Zuschauer, sie harren aus . . . Und Bozsik, immer wieder Bozsik, der rechte Läufer der Ungarn, am Ball. Er hat den Ball – verloren diesmal, gegen Schäfer, Schäfer nach innen geflankt, Kopfball – abgewehrt, aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Rahn schießt – Tooor! Tooor! Toor! Toor! Tor für Deutschland! Linksschuss von Rahn. . . . 3:2 führt Deutschland fünf Minuten vor dem Spielende. Halten Sie mich für verrückt, halten Sie mich für übergeschnappt!“

Als Deutschland unter Rudi Völler gegen die tschechische B-Elf verloren hatte und nach der Vorrunde heimwärts flog, staunte alle Welt über die Griechen, chancenlos, aber… Was geschah da plötzlich? In der Europameisterschaft 2004 gab es ein Wunder. Und eine Erklärung: „Unser Trainer“, rief der griechische Fußballexperte Charisteas in die Mikrofone, „hat uns die deutsche Mentalität beigebracht.“

Als "König Otto II" (der erste König Griechenlands war Othon, die griechische Version von Otto) wurde Rehhagel von einem Land umarmt, das bis zum Sieg gegen Portugal am Eröffnungstag der EM 2004 noch nie ein großes Meisterschaftsspiel gewonnen hatte. Jetzt sind Ronaldo, Deco und Carvalho geschlagen. Die griechische Presse nennt Rehhagel „Rehakles“ und ja, es gibt ein Banner griechischer Fans zu bestaunen: „Otto Uber Alles“.

Antwort geändert am 04.06.2021 um 19:36 Uhr
gobio (30) meinte dazu am 17.06.21:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Willibald meinte dazu am 17.06.21:
Salute, Gründling, habe dazu schon oben geantwortet, kommen wir offensichtlich nicht zusammen, weil die Idiotenbrüller die lustigen Fans und dann die gnadenlose Maschinerie ... schweres Geschütz.

Guck mal hier unten das Kinderringelspiel im Ausmeister und die Tischratschläge. Offensichtlich hat der Ausmeister ein faible für das überbordende "s".



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