Der anonyme Brief

Erzählung zum Thema Moral

von  Quoth

Nach ihrem Auftritt als Statistinnen in „Kornblumenblau“ kamen die Mädels in betont abgerissener und sorgloser Kleidung wieder zusammen, trugen absatzlose Schuhe und löchrige Jeans sowie zu große Pullover in Farben wie Grau, Blau und Olivgrün, kaum Schmuck – nur Hedwigs silberner Napoleon Bonaparte war wieder dabei. Sie hatten sich für die Filmaufnahme dermaßen schick gemacht, dass Max Matzke sie wieder nach Hause geschickt hatte. „Zieht Alltagsklamotten an!“, hatte er sie grinsend gebeten, „ich brauche keine aufgebrezelten Tussis!“ Betroffen und beschämt hatten sie vorgehabt, gar nicht wieder in den Bahnhof von LUNDEN zurückzukehren, aber dann dachten sie, es sei witzig, ins andere Extrem zu verfallen, und was sie dann anzogen, das trugen sie auch jetzt.

„Der Anfang unserer Filmkarriere war nicht eben ein Ruhmesblatt,“ sagte Else bedauernd, die ein mausgraues abgetragenes Kostüm ihrer Mutter ausgegraben hatte. „Aber ich finde es gut, dass Matzke unserer Eitelkeit eine Lehre erteilt hat.“

Während die Mädels rekapitulierten, wie sie sich aufgedonnert hatten, brütete Herta schweigend und lustlos über ihrem Tortenstück. „Herta, was hattest du dir noch mal angetan? War es nicht das schwarze Kleid mit weißem Krägelchen, das du auch anziehst, wenn du in der Kirche aus der Bibel liest?“ Ellinor versuchte, die Verdüsterte mit ins Gespräch zu ziehen. Aber Herta schrak nur auf, sah hilfesuchend von einer zur anderen und wusste offenbar nicht, worum es ging. „Was ist mit dir los, Herta?“ Ellinor verstand es trefflich, nachzubohren. Wenn sie etwas wissen wollte, bekam sie es auch heraus. „Du bist doch sonst nicht so. Wenn irgendwas dich bedrückt, dann spuck es aus und unterbreite es der geballten Urteilskraft von vier lebenserfahrenen Frauen, die dir durchaus wohlgesonnen sind.“

„Nein, es ist nichts. Ich habe da nur einen Brief an Frank abgefangen, den ich besser sofort in den Papierkorb geschmissen hätte. Er war mir suspekt, weil die Adresse aus ausgeschnittenen Druckbuchstaben zusammengeklebt war. Nun, zum Inhalt will ich mich nicht weiter äußern. Es ist zu peinlich.“

„Mach keine halben Sachen, Herta. War es ein Drohbrief? Hat Frank Feinde?“

„Ein Drohbrief war es in gewisser Weise schon. Es lag ein Foto dabei, dessen Veröffentlichung Frank schaden würde. Und der Absender drohte, er würde es veröffentlichen, wenn Frank nicht …“ Herta konnte nicht weiter sprechen. Es verschlug ihr die Sprache. Aber Else hatte die Ergänzung sofort parat:

„… wenn er nicht so und so viel zahlt.“ Herta nickte. „Also ein Erpresserbrief.“ Herta nickte erneut. „Aber womit wird Frank erpresst? Was zeigt das Foto? “

Herta kramte stöhnend in ihrer Handtasche und holte den Umschlag hervor, nahm das auch aus Druckbuchstaben zusammengeflickte Schreiben und das Foto heraus und ließ die Mädels es lesen und betrachten. Aber mehr als ein knurriges „Hm!“ war von ihnen nicht zu vernehmen. „Das wirft Fragen auf!“, sagte Hedwig schließlich. „Kannst du uns was dazu sagen?“

„Was soll ich dazu sagen? Ich möchte mich von Frank trennen. Das ist alles, was ich zu sagen habe. Aber nach fast dreißig Jahren Ehe ist das kein Kinderspiel. Außerdem ist er eine Säule der Gemeinden, in denen er als Organist und Chorleiter wirkt. Es ist eine Katastrophe!“

Arbeiter kamen herein und trugen das Schild LUNDEN hinaus. Offenbar sollte gedreht werden. Ein smarter Produktionsleiter, der sich als Massimo vorstellte, federte auf riesigen Sneakern herbei und informierte sie: Die Szene am und im Bahnhof müsse nachgedreht werden, weil der mit der Bahn ankommende Lover umbesetzt worden sei. Sie sollten einfach sitzen bleiben und die Kamera ignorieren. Im Fußball sei der Schiedsrichter Luft, im Filmgeschäft die Kamera, ergänzte er klug.

„Was wir reden, wird nicht aufgenommen?“, vergewisserte sich Ute.

„Nein, ihr könnt Blablabla machen oder auswendig Gelerntes aufsagen, nur den Mund bewegen, das müsst ihr! Und ein bisschen Lebhaftigkeit kann auch nicht schaden!“ Massimo verschwand.

Nun wurden aber doch Haare zurechtgerückt und -gedrückt, Hedwig legte Rouge auf, Kajalstifte wurden gezückt, und es dauerte ein Weilchen, bis sie zu dem Brief zurückgefunden hatten.

„Dann mache ich gleich mal den Anfang!“ Ellinor sah sich das Foto noch einmal scharf an. „Das ist eindeutig dein Mann, Herta. Und eine Fotomontage scheint es auch nicht zu sein. Wie kam es zu dem Foto?“

„Frank leitet doch einen Chor in Apenrade. Bei der Hin- oder Rückfahrt über die Grenze konnte er offenbar der Versuchung nicht widerstehen, mal in eins dieser Kinos zu gehen, die sind in Dänemark ja erlaubt.“

„Wie lange leitet er den Chor schon?“ wollte Else wissen.

„Seit zehn Jahren.“

„Dann besucht er diese Kinos auch schon seit zehn Jahren,“ sagte Else brutal. „Und du kannst froh sein, vielleicht wäre eure Ehe schon längst im Eimer, wenn er sie nicht besuchte.“

„Mein Mann hat mich mit seinen Sekretärinnen betrogen, jedes Jahr mit einer anderen,“ seufzte Ellinor, „das war sehr viel schmerzhafter. Aber ich hatte ja Holger, dessen Muse ich war – immerhin! Doch zurück zu der Erpressung: Frank soll auf keinen Fall zahlen! Wenn sie das Foto an die Kirchenleitung oder die Presse schicken, wie sie androhen, verlieren sie das Druckmittel. Ihnen geht es nur um Geld. In den Papierkorb mit dem Zeug! Aber Frank zur Rede stellen würde ich auf jeden Fall.“

„Das habe ich schon getan.“

„Und was hat er gesagt?“

„Er sei froh, dass ich es herausbekommen hätte. Er litte furchtbar unter seinem - Trieb, manchmal könne er kaum noch den Chor dirigieren, weil er immer an die Unterwäsche der jungen Sopranistinnen denken müsse, und von denen habe er leider viele.“

„Und was hast du gesagt?“

„Aber du hast doch mich!“ Ellinor, Else, Hedwig und Ute lächelten gerührt, schauten einander vielsagend in die Nornengesichter und staunten, als plötzlich eine Flasche Veuve Clicquot auf dem Tisch stand. Massimo kam herbeigefedert und bedankte sich: „Bravo! Habt ihr toll gemacht! Die Flasche geht auf die Produktion!“ Er entkorkte sie professionell, ließ sich auch ein Glas bringen und stieß mit ihnen an.

Als er weg war, rief Ellinor mit erhobener Tulpe: „Wohlsein, Herta – und auf weitere zehn Jahre mit deinem Lustmolch!“

 



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Kommentare zu diesem Text


 AlmaMarieSchneider (09.12.21, 21:23)
Ein gelungener Text, die Mädels sehe ich vor mir und auch den Massimo.
Humorvoll dargestellt.

Herzlich grüßt
Alma Marie

 Quoth meinte dazu am 10.12.21 um 12:38:
Liebe Alma Marie, freue mich sehr über Deinen Beifall! Gruß Quoth

 Graeculus (09.12.21, 23:31)
Briefe mit einer Anschrift aus gedruckten Buchstaben sollte man gar nicht erst öffnen.
Das aber
„Und du kannst froh sein, vielleicht wäre eure Ehe schon längst im Eimer, wenn er sie nicht besuchte.“
ist ein bedenkenswerter Standpunkt.

 Quoth antwortete darauf am 10.12.21 um 12:39:
Diese positiven Seiten eines an sich unerfreulichen Phänomens sind es woh, die es am Leben erhalten. Danke für Empfehlung mit Kommentar!
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