Schreibende am Fenster 04

Tagebuch zum Thema Beobachtungen

von  HeBu

Mittwoch 29.04.2020


Die Schreibende hat ihren Platz eingenommen, heute sind schon mehr Fußgänger durch den Ausschnitt des Fensters gegangen als gestern. Aber das ist etwas, das schon bald versiegen wird. Ein Straßenbaugerät dominiert jetzt den Ausschnitt, den die Schreibende für ihre Arbeit gewählt hat. Die Absperrungen, am Anfang und am Ende des Weges, sind nicht zu sehen, aber sie werden wohl da sein. Wer auch nicht zu sehen ist, an dessen Anwesenheit aber kein Zweifel besteht, sind die Männer, die dem Asphalt zu Leibe rücken werden. Darunter finden sie nicht den Strand, was sie finden ist vermessen und bewertet – als marode bewertet. Und dann gibt es noch die alten Römer, deren Hinterlassenschaften hier immer unter der Oberfläche lauern. So ist es in Kulturlandschaften.

Stille und Schatten – mehr nicht.

Fahrradfahrer und Fußgänger in geringer Zahl zwar, aber sie lassen die Schreibende zweifeln an der Absperrung der Straße . Die Neugier, der Wunsch, Gewissheit über ihre Annahme zu erlangen, drängt sie ihren Posten zu verlassen, die auferlegte Beschränkung zu überwinden – sie hält stand.

Die Bekannte, die gestern schon das Fenster kreuzte: wieder ist sie vorbeigegangen, ein Telefon vor dem Mund. Wohin geht sie? Noch einmal wagte die Schreibende eine Vermutung: Sie ist auf dem Weg zur Arbeit. Das Leben mit Vermutungen kommt der Schreibenden gerade unerträglich vor.

Und noch eine Vermutung: Die Katze putzt sich das Mäulchen, sie hat wohl endlich gefressen.

Der Startschuss fällt, die Baumaschine wird – angeschlossen! Ketten rasseln, schweres Metall schlägt auf Stahl, ein Motor springt an, ein Warnton erklingt, dass alles ist zu hören.

Die Schreibende zweifelt am Projekt „Fenster“: Es wird ihr bewusst, wie tot dieser Raum ist, den das Fenster zeigt. Es ist die Beobachtung einer Verarmung. Durch die Pandemie verlor die Straße einen großen Teil ihres Lebens. Die Männer, die ihre Eingeweide erneuern sollen, haben sie in Narkose gelegt. Und das über Wochen.

Das Pausieren des Projektes, so erfährt die Schreibende von ihrem Auftraggeber, bedeutet aber nicht das Ende der Anstellung. Er verlangt einen Ersatz. Um also Kurzarbeit zu vermeiden, wird die Schreibende schauen müssen, was noch in ihre halbe Stelle passt.

Auf die Schnelle fallen ihr nur Texte für Anthologien und Rezensionen ein. Rezensionen bringen eine Leseverpflichtung mit sich, was faktisch eine Ausdehnung der Arbeitszeit darstellt. An diesem Arbeitsplatz ist kein PC, erst am Ende der festgelegten Arbeitszeit wird das Ergebnis als Reinschrift diktiert. Also muss die Schreibende ihren Arbeitstag vorbereiten. So kam dann eines zum anderen, und von Kurzarbeit konnte nicht mehr die Rede sein.

Auf Ihrem Schreibtisch ist kein Platz für „Vorbereitungslisten“ - zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls nicht. Sie muss darüber nachdenken.

Ein Mann geht mit seinem Kind vorbei, das Kind deutet auf die Straßenbaumaschine, der Mann schiebt den Kinderwagen weiter – telefoniert. Der Vater der Schreibenden Frau hätte noch die Aufmerksamkeit besessen zu sagen: „Ja, das ist ein Bagger.“ Mit einem Hörer am Ohr hätte er auf das Plappern seiner Tochter geantwortet: „Siehst du nicht, dass ich telefoniere?“ Sein Ton wäre abweisend gewesen, vielleicht ungeduldig, aber er hätte der Schreibenden Aufmerksamkeit geschenkt.Die Schreibende Frau kann ihre Beobachtung auch so beschreiben: In einem Kinderwagen sitzend bemerkte das Kind einen Bagger. Sein Arm geht hoch, dessen Finger deutet, der Mund spricht.
Ein Mann schiebt einen Kinderwagen, sein Arm hält ein Handy ans Ohr, der Mann spricht – er wird gehört.

Hier auf diesem Tisch ist doch Platz für eine Vorbereitungsliste. Die Schreibende wird sie auf diese Art benutzen: eine kurze Notiz, dann wird die „Schweinehundliste“ zur Seite gelegt. Auf diese Art, hofft die Schreibende, dem „inneren Schweinhund“ ein Schnippchen zu schlagen.

Die Ergonomie des Arbeitsplatzes geändert, eine Kantorunterlage gibt die Schreibfläche an. Die Frau schreibt auf DIN-A3-Bögen. Aktuell sind es Plakate der Gruppe „Schandmaul“, die sie vor Jahren aus dem Altpapier holte. Sie schreibt mit einem Bleistift, den sie vor Jahren aus einem Geschäft holte.

Noch kein Feierabend.

Du sitzt an einer Kasse und niemand kommt. Die anstrengende Arbeit ist in Bereitschaft zu sein.

Das Warten auf Godot [auch eines dieser Werke von denen man nur den Titel kennt], warten auf die Muse, manche warten auf die Wiederkehr von Jesus Christus – welche Herausforderung an den Homo Sapiens.




Anmerkung von HeBu:

Dieser Text ist im Rahmen eines Schreibexperiments entstanden, zu dem noch ein paar folgen werden. Allerdings ist das Experiment wegen Corona zum Erliegen gekommen.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (16.05.22, 16:54)
Ich habe Becketts "Warten auf Godot" im Theater gesehen, das Stück wird landauf, landab immer wieder gespielt, von "... auch eines dieser Werke von denen man nur den Titel kennt" kann also keine Rede sein.

Kommentar geändert am 16.05.2022 um 16:54 Uhr

 Thal (02.06.22, 19:06)
.. auf DIN-A3-Bögen.. zufällig auch in Kleinstschrift?

 HeBu meinte dazu am 02.06.22 um 19:47:
Nein, nicht in Kleinschrift.
Das Format soll den "gewohnten" A4 Rahmen "sprengen". An einer Schreibgewohnheit rütteln. Und kann als Gegenpol zum Fenster verstanden werden. Dessen Rahmen, das Umherschweifen des Blickes und das Konfabulieren zügelt.
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