Der Kieler „Drogenarzt“

Kurzgeschichte zum Thema Drogen/ Alkohol

von  Koreapeitsche

(Remedacen - Der unaufhaltsame Aufstieg des Dr. Gorm G.)

Die Nachwehen der Proteste am Sophienblatt, der Räumung und des Abrisses der besetzten Häuser hatten desolate Zustände in der Kieler Subkultur zur Folge. Da war die Stunde des sogenannten „Kieler Drogenarztes“ Dr. Gorm G. gekommen, der die Szene mit einem Substitutionsmedikament namens Remedacen versorgte. Manche behaupteten, Remedacen sei selbst eine Droge. Deshalb gelte das Prinzip Drogen gegen Drogen. Die Remedacen-Tabletten wurden in der Szene kurz Remis genannt. Junkies und Ex-Junkies kehrten teils mit Einkaufstüten voll Remedacen aus der Praxis zurück und naschten diese teils wie Bonbons oder Fruchtdrops.
Mein Cousin hatte stets einen großen Glaspokal mit Glasdeckel auf dem Wohnzimmertisch stehen, aus dem sich seine Gäste nach Lust und Laune mit Remis bedienen durften. Einige bezeichneten  diesen  Glaspokal als Urne. Mir bot er diese Tabletten nur einmal an. Ich lehnte kategorisch ab und wurde nie wieder gefragt. Ohne diese Remedacen kam mein Cousin längst nicht mehr klar im Leben. Er sagte immer
      „Von den Remis werde ich immer ganz riemig“,
und freute sich immerzu, wenn er ein paar davon naschte.
      Die Patienten des Drogenarztes bekamen nach Einnahme der Tabletten stets hellblau-leuchtende, fixierende Augen, die mich an die Beschreibungen der Augen der Einwohner des Planeten Dune in dem Science Fiction Roman „Der Wüstenplanet“ erinnerten.  Verantwortlich für die blauen Augen war ein Gewürz namens Melange, das die Einwohner in der Story konsumierten. Das Gewürz galt als lebensnotwendiger Rohstoff auf dem Planeten.
Die „Remis“ des Drogenarztes entwickelten einen typischen Medikamentenmundgeruch. Die Augen der Konsumenten wirkten dermaßen floureszierend, dass es künstlich und nicht mehr menschlich wirkte. In den Kieler Discos konntest du an den Augen und am Mundgeruch alle mit Remedacen substituierten Junkies erkennen, sobald du dich in Nahdistanz mit ihnen unterhieltest. In Discos mussten die Besucher*nnen bei Gesprächen die Köpfe eh eng zusammenstecken, wenn sie sich bei der hohen Dezibelzahl verständigen wollten. Spätestens beim typischen Remedacen-Mundgeruch sollte klar gewesen sein, dass es sich um einen substituierten Junkie handelte. Substituiert konnten die immer frei heraus reden. Es ging ihnen sichtlich gut. Bloß die blau-schimmernden Augen und der Atemgeruch waren wirklich gewöhnungsbedürftig. Einige redeten sehr emotional wie ein Wasserfall. Sie hatten mitunter einen Redeflash, der abrupt abreißen konnte. Andere waren durch die Remis fortwährend im Wohlfühlmodus, und nichts konnte sie beirren. Dazu kam die Euphorie in der Stimme, die wirklich fesselnd war und Gesprächspartnern wie mir Freude bereitete. Es wirkte trotzdem beängstigend, da du wusstest, dass die Leute unter dem Einfluss des Medikaments standen. Für viele der Konsumenten lief das Leben in die falsche Richtung.
Gorm G. hatte in seiner Praxis am Sophienblatt einen Schrank voll mit Großpackungen der Remedacen-Tabletten, so berichteten ehemalige Patienten. Die gab er ohne Rezept raus. Einige Tabletten gab es dennoch auf Rezept, je nach Situation. Der Kieler Drogenarzt, so bezeichnete ihn vor allem die Boulevardpresse, galt als sehr umstritten. Er geisterte eine Zeit durch die Medien mit Fotos in den Zeitungen und in Fernsehinterviews. Unvergessen ist das Flugblatt, das in der Alten Meierei verteilt wurde, mit dem auf die Heroinwelle und den Drogenarzt hingewiesen wurde. Das vorliegende Therapiekonzept wurde immer wieder kritisiert. Hauptkritikpunkt war, die Junkies und Ex-Junkies könnten dank der Tabletten „erst so richtig Party machen“. Dem stand das Argument entgegen, die Drogenabhängigen könnten mit Hilfe der Tabletten endlich einer geregelten Arbeit nachgehen, wie es auch bei meinem Cousin der Fall war. Er arbeitete substituiert als Maschinist auf dem Bundeswehr-Versorgungsschiff „Spessart“, auf dem obendrein der Koch der Dealer war. Allerdings nahm mein Cousin nicht nur die Remedacen, sondern er konsumierte dazu alles an Drogen, wonach es ihm begehrte.
      Während konservative Kräfte die Verwendung der Substitution per se kritisierten und in Frage stellten, äußerten auf der anderen Seite konstruktive Köpfe, dass staatliche Stellen ergänzend zusätzliche Therapien und eine gezielte Wiedereingliederung hätten anbieten müssen, damit die an Drogen gescheiterten parallel zur Substitution einen sicheren Halt in der Gesellschaft finden. 
Gorm G. war für die eine Seite der Heilsbringer, für die andere Seite war er ein Verführer zum grenzenlosen Rausch. Schlussendlich muss angesichts der vielen Drogentoten das Konzept der massenhaften Herausgabe von Remedacen als gescheitert betrachtet werden. Das Querfeuer der Substitutionsgegner war zu groß, sodass das Projekt scheitern musste. Oder hätte es ohne Remedacen noch mehr Drogentote gegeben? Man weiß es nicht.


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