Die Toten trinken Wasser und essen Huhn
Text
von atala
Ich sitze mit meiner Grossmutter am hölzernen Tisch. Wir trinken Kaffee und gabeln Papaya und Bananenstücke auf. Alles ist so wie immer: der Geruch der überreifen Früchte, das plastifizierte Tischgedeck, der Fernseher, der in der Ecke läuft. Nur das Gesicht meiner Grossmutter ist schmaler geworden und ihre Augen scheinen hervorgerückt zu sein. Es kommt mir so vor, als hätte ich kurz das Zimmer verlassen, um in den Garten zu gehen, und in der Zwischenzeit wäre sie gealtert.
Die Frage des US-amerikanischen Zöllners, weshalb ich nach Guatemala wolle. Visiting family? Wiederholte er mit Zweifel in der Stimme. Eine allein reisende junge Frau aus Europa.
Mein Gepäck kommt auch diesmal nicht mit mir an, es befindet sich noch im Transit.
Mein Kleid, das ich zur Hochzeitsfeier meiner Cousine trage möchte, habe ich vorsichtshalber im Handgepäck verstaut. Auch diesmal der Gedanke, dass es mehr Sinn ergeben würde, mich erst bei der Ausreise so gründlich zu kontrollieren. Wenn ich die Koksbündel bereits geschluckt hätte.
Angekommen im Land, sehe ich: Pick-Ups, die mit Früchten, Holz und Menschen beladen sind. Maisstaude an Maisstaude. Brennende Felder. Grüne Feuerspitzen, wenn der Müll mitverbrennt, der am Strassenrand und in den Feldern liegt, der die Äste wie eine sonderbare Krankheit befällt. Der beissende Geruch dringt durch die Busscheibe.
Meine Grosstante, Xiomara, steht dicht vor mir. Sie schaut mich mit grossen Augen an und nennt den Namen meiner Mutter. In ihrem Blick ist kein Zweifel. Auch als meine Verwandten ihr erklären, ich sei die Tochter, nicht Aura, sondern die Tochter von Aura, sieht sie mich an, und spricht mich mit dem Namen meiner Mutter an. Hinter ihrem Rücken tippt sich mein Cousin mit dem Zeigefinger an die Schläfe.
Über Xiomara sagt man, sie sei verrückt geworden. Ihr Mann, Hernández, dem man während der Militärdiktatur kommunistische Machenschaften unterstellte, wurde nachts vor vierzig Jahren von Soldaten abgeführt und seither nicht mehr gesehen. Immer wieder meinte Xiomara, die sich in entfernte Viertel verirrt hat, Hernández auf der Straße wiedererkannt zu haben und ist jungen Männern gefolgt.
Grossvater erzählt mir, dass er Xiomara in den Zeiten des Bürgerkriegs jeden Sonntag in die Dorffriedhöfe fuhr, wo die namenlosen Toten offen aufbewahrten wurden, auf der Suche nach dem Leichnam von Hernández. Er erzählt mir, dass er genauso Ausschau hielt wie sie, weil er wusste, dass der tote Körper Xiomara heilen könnte. Und dass sie ihn ihr Leben lang nicht gefunden haben.
Ein evangelischer Prediger steht mit einem Mikrofon in der Hand auf dem Dorfplatz. Er ist an einem Baum gelehnt und liest den Text ab, den er vom Handy hinunterscrollt. Entspannt sieht er aus, aber er beschwört gerade den Weltuntergang herauf. Er erzählt von der Apokalypse. Wir stünden am Anfang vom Ende. Kein Zufall sei es, dass wir Masken tragen. Gott habe die unbezwingbare Krankheit geschickt zur Strafe unserer Sünden. Unserer unzähligen gottlosen Sünden. Das Ende zum Greifen nah. Wir seien Zeugen der letzten Zuckungen des Weltkörpers. Das letzte Aufbäumen vor der schwarzen Kreatur. Er rezitiert die Offenbarung des Johannes. Liest mit monotoner Stimme Passagen, in denen Hagel und Feuer mit Blut vermischt aufs Land fallen, ein fahles Pferd erscheint, am Horizont wird der Himmel wie eine Pergamentrolle zusammengerollt, dahinter zeigt sich bodenlose Schwärze.
Der Mann bereue es, habe er nicht seine Jugend Gott gewidmet, sondern den Drogen. Noch sei es aber nicht zu spät. Am Schluss stimmt er ein Kirchenlied an. Die Boxen überschlagen sich. Seine Stimme ist zu laut, er trifft die Töne nicht.
Währenddessen schlürfen zwei junge Frauen in der indigenen Tracht neben mir am Ananassaft. Sie löffeln den Reis, die schwarzen Bohnen, legen ein Stück Avocado auf die Tortilla und tunken sie in den Teller. Sie sind ins Gespräch vertieft, lachen auf. Das Elend, das der Mann heraufbeschwört, scheint sie nicht zu erreichen. Ich stelle mir einen Schutzkreis vor, den sie umgibt wie eine Seifenblase.
Das Land meiner Mutter riecht nach Feuer und oft auch nach Benzin. Ich inhaliere alles ein, nehme tiefe Atemzüge, ausser wenn ein Bus, der eine schwarze Wolke hinterlässt, an mir vorbeifährt. Dann halte ich den Atem an.
Die beste Aussicht über den See und die Vulkane hat man von den Dorffriedhöfen aus. Ich steige zwischen die Gummibäume auf den Hügel bis zum Eingang. Bevor ich zu den Gräbern gehe, trete ich in einen Raum, der mit Kiefernadeln ausgelegt ist. In der Mitte steht ein menschgroßer, flacher Stein. Ich suche den Aufbahrungsstein nach Spuren der Verstorbenen ab, aber ich sehe nur Kerzenwachs und vertrocknete Blütenblätter.
Draussen spuckt ein Vulkan dunkle Wolken in den meerblauen Himmel. Die bemalten Holzkreuze sind alle zum See gerichtet. Neben jedem Kreuz wurde eine kleine Staude gepflanzt. Ein Mann, der sich als Mitarbeiter der Gemeinde vorstellt, fragt mich, ob ich jemand bestimmtes suche. Als ich verneine, begleitet er mich bei meinem Gang über die Gräber. Manchmal zeigt er auf ein Grab, liest die Namen und erzählt, wie sie gestorben sind.
Von einem Steinfall getroffen.
An Covid.
Plötzlicher Kindstod.
Ich frage ihn, ob auch die Opfer des Bürgerkriegs hier liegen. Er schüttelt den Kopf und sagt,
die sind im Staub, der uns umgibt und in der Luft, die wir atmen.
Wir gehen gemeinsam weiter und bekreuzigen uns.
Am Fuss des spiegelglatten Sees, der umringt ist von Vulkanen, bringt mir eine ältere Frau das Weben bei. Ich habe ihr zugeschaut, wie sie gedankenversunken gearbeitet hat, sie hat kurz aufgeschaut und mich gesehen. Innerhalb von vier Tagen könne sie mir das das Handwerk beibringen, hat sie gesagt und sich vorgestellt: Doña Socorra sei sie und sie habe schon dem ganzen Dorf das Weben beigebracht. Nun ist es schon der dritte Tag in Folge, dass ich zu ihr gehe und ich kann es noch immer nicht. Doña Socorra hat mir gezeigt, wo die Stöcke zwischen den Fäden hingehören, dass man mit dem Webstab durch die Fadenkreuze durchmuss. Sie gelangt durch die kleinste Spalte, ich hingegen treffe die Kreuze nicht und muss ganz nah mit dem Gesicht an die Webarbeit herangehen. Manchmal hat sie keine Geduld mehr, dann steht sie auf, dreht eine Runde im Hof und kommt wieder zurück.
Wir sitzen auf Plastikschemel, das eine Ende der Arbeit an den Stamm des Avocadobaums festgeschnürt. Sie sagt: Man muss den Oberkörper hin und herwiegen, das Gewebe spannen und lockern. Sich bewegen, als sässe man auf diesen kleinen Schiffen, die einem am See von Ort zu Ort fahren. Ihr Spanisch ist gebrochen und einfach, das Tz’utujil, das sie mit den anderen Weberinnen spricht fliessend und geschwungen. Heute sagt sie aber: ya estas caminando. Du kannst schon gehen. Ich kann ganze Linien ohne Fehler einarbeiten. Während ich ohne ihre Anleitung webe, singt mir Doña Socorra ein Kinderlied vor, das früher meine Mutter mir vorgesungen hat. Im Lied sucht ein ganzes Dorf ein verschwundenes Kälbchen, weil sie sich sorgen, dass es ein Raubtier findet. Sie selbst habe zwei Kinder, erzählt Doña Socorra. Eines sei aber nur einige Monate alt geworden. An dieser Stelle hört sie auf zu weben, bleibt regungslos sitzen. Dann legt sie den Stock aus der Hand und fängt an zu erzählen. Sie hält sie ihre Webarbeit fest. Befühlt mit dem Daumen und den Fingerkuppen alle Knoten. Ihr Rücken ist eingeknickt, sie macht sich ganz klein.
Abends schreibe ich in mein Notizbuch, was mir Doña Socorra erzählt hat. Ich mache eine Liste:
Kopf und die Hälfte des Halses
ein Fuss
der andere Fuss bis zum Knie
Oberschenkel
ein Arm
Nasenspitze
der Rumpf
Die Körperteile, die sie von der Weberin, Leonora, gefunden haben, nachdem die Soldaten das Dorf verlassen haben. Sogar das Ohr, hat Doña Socorra gesagt und dabei ihr eigenes mit Daumen und Zeigefinger gehalten.
Auch sie hätten die Soldaten festgenommen und die immer gleichen Fragen, nach den Rebellen gestellt. 15 Tage lang. Sie hat sie angefleht, sie nachhause zu lassen, damit sie ihr Neugeborenes stillen könne. Hat ihnen versichert, nicht zu wissen, wer die Guerilleras sind, niemandem geholfen zu haben. Sie sei eine einfache Weberin. Nach 15 Tagen liessen sie sie laufen, aber ihr Kind war nicht mehr am Leben, als sie heim kam.
Ich denke an eine Wandzeichnung an der Mauer in der Hauptstadt. Um zu meiner Grossmutter zu gehen, fährt man mit dem Auto an dieser Wand entlang. In Kinderästhetik sind Menschen in Militäruniform abgebildet. Wie sie Leuten in Trachten ein Huhn geben, darüber schwebt eine Friedenstaube und in Lettern steht „Danke für alles“. Und ich denke, dass die Menschen hier mit Geistern leben, die sie überallhin begleiten.
Am Steg, an dem die kleinen Boote, die mich ins Dorf von Dona Socorra bringen, belausche ich ein Telefongespräch. Ein junger Mann erzählt von seinem toten Freund, der 18jährig erschossen wurde, wahrscheinlich von Bandenmitgliedern. Seine reiche Tante, unverheiratet, kam ganz in schwarz, aus einem glänzenden Auto, mit einem schwarzen riesigen Hut und Schleier vor dem Gesicht. Ihr sagte man nach, sie sei eine Hexe und es war ihr verboten, sich der Leiche zu nähern. Es gelang ihr trotzdem, denn er sah wie sie einen Kamm über die Haare des Toten strich und sich dann ihre Haare kämmte. Ein Cousin des Verstorbenen tauchte mitten in der Zeremonie gekleidet in einer Militäruniform auf. Er hob eine Waffe gegen den Himmel und schwor Rache vor Gott, das Kinn stolz erhoben.
Ich sitze im Bus, aus dem Radio scheppert Musik. Beim Fahrer vorne blinken Lichtlein zum Takt der Musik. Er hat eine Minidisko installiert. Eine Indígena sitzt vor mir, das Haar bis zur Hüfte, in den zwei Zöpfen ein himmelblaues Band geknüpft. Der Fahrer schneidet die Kurven. Sein Mitarbeiter ist ein Kind. Es lehnt sich aus dem Bus, er ist der Rückspiegel, winkt anderen Autos zu, gibt Handzeichen.
Que Dios de bendiga!
steht zum Schutz auf der Scheibe.
Mein Leben liegt in ihren Händen.
Im Land meiner Mutter wartet der Tod an jeder Ecke in seiner gesichtslosen Fratze.
Zurück in der Hauptstadt erzählt mir mein Cousin von der Beerdigung eines Verwandten seiner Freundin, an der er vor ein paar Tagen teilgenommen hat. Frauen in schwarzen Schleiern seien am Leichenzug mitmarschiert, die markerschütternden Schreie von sich gaben. Sie weinten herzzerreissend und knieten begleitend von heftigen Ausbrüche am Sarg. Als er seine Freundin fragte, ob sie enge Freundinnen oder nahestehende Verwandte seien, hat sie ihm zugeflüstert: „Das sind plañideras. Sie kennen den Verstorbenen nicht, sie jammern gegen Bezahlung.“ Während er mir das erzählt hat, verdeckt er mit seinen Händen sein Gesicht und tut zwischen dem Lachen so, als müsse er schluchzen.
Er erzählt mir auch von den unbekannten Verstorbenen, den XX. Man kennt weder die Vornamen noch die Nachnamen dieser Toten. Zuerst werden sie für sieben Jahre unter einem einfachen Holzkreuz im staatlichen Friedhof begraben. Dann kommen sie ins Beinhaus, das kein Haus ist, sondern eine kreisrunde Öffnung. Ein Schlund, der sich fortwährend füllt.
Vor einigen Jahren hat die FAFG, die Guatemaltekische Stiftung für forensische Anthropologie, Knochen aus dem Loch gegraben und mit der Identifizierung der Toten begonnen. Sie wollten die Verschwundenen aus dem Bürgerkrieg finden. Sie gleichen die DNA der Skelette mit Spuren der Vermissten ab. Eine immerwährende, unendliche Arbeit.
Mein Cousin und ich besuchen den cementerio general in Guatemala Stadt, den grössten Friedhof des Landes. An einer Wand sind Fotos der neuen desaparecidos, den Verschwundenen, angebracht.
Die Gesichter jungen Männern. Von älteren Männern. Von jungen Frauen. Ernste, lächelnde Gesichter. Geschminkte Augen, nach hinten frisiertes Haar. Fotos, aufgenommen für einen anderen Zweck, als man noch nicht wusste, dass sie hier hängen werden. Ein Mann geht an uns vorbei, zeigt auf die Bilder und sagt: Sie nehmen sie immer wieder ab.
(Stelle mir vor, es sei Dona Soccoras Kind. Suche nach Ähnlichkeiten mit Dona Socorra, obwohl ich weiss, dass es keinen Sinn ergibt. Der Schatten ihres verstorbenen Kindes, als könnte er als reales Gesicht in die Gegenwart greifen)
Eine Verwandte klebt mir falsche Wimpern ans Lid. Die Brautjungfern sind um vier Uhr aufgestanden, um ihre Haare zu glätten, sich zu frisieren und zu schminken. „Que guapa!“, sagt sie und lächelt mich zufrieden an,
die Tube mit dem Klebstoff in der Hand.
An der Hochzeit der Cousine kennen alle Gäste die Lieder auswendig, ausser ich, die nur den Refrain kann.
Die Band und die Gäste brüllen die Hits nach, als hänge ihr Leben davon ab. Meine Grossmutter tanzt mit meinem Cousin. Sie klammert sich an seine breite Schulter, hält sich an seiner Prankenhand. Als sie sich drehen, verschwindet sie ganz nach hinter seinem Rücken.
Mit Trommelwirbel wird das Werfen des Brautstrausses angekündigt. Einige gehen in die Grätsche, bereit zu hechten, die langjährige Freundin eines Cousins zieht sogar ihre High Heels aus. Ich überlege mir, wie ich ausweiche, kämen die Blumen auf mich zugeflogen. Eine mittelalterliche Tante des Bräutigams fängt den Strauss und macht damit die Hoffnung der jungen Frauen zunichte. Sie tanzt jetzt auf der Bühne, schwingt die Blumen in der hochgestreckten Hand. Die Freundin meines Cousins zischt einer anderen ins Ohr, sie solle sich den Strauss doch reinschieben.
Ein verlassenes Glas Wasser und ein Teller mit etwas Huhn stehen auf einem der Tische. Für Onkel Oscar, sagt eine Frau. Erst kürzlich sei er gestorben, hat es nicht mehr zur Hochzeit geschafft. Damit auch sein Hunger und Durst gestillt sei. Ein Kind steht am Ende des Abends neben dem Glas und sagt, so viel hat er getrunken und hält den Daumen und Zeigefinger nah beieinander.
Im Land meiner Mutter haben die Menschen gelernt mit den Toten zu leben.
Bevor ich zurück an den Flughafen fahre, macht meine Tante ein Foto von mir und meiner Grossmutter. Wir sitzen im Garten und legen unsere Arme umeinander. Mein Kopf ist an ihren Nacken gelehnt. Als das Foto geknipst ist, wendet sie den Kopf zu mir und sagt: Vielleicht sehen wir uns jetzt zum letzten Mal.
Kommentare zu diesem Text
wie anders ist die Welt, wenn man sie jenseits der Hochglanzfotos der Reisekataloge geschildert erlebt.
Fesselnd und ich glaube mit Herzblut geschrieben!
Liebe Grüße
TT