Von bösen Mächten

Text

von  atala

Die beste Aussicht über den See und die Vulkane hat man von den Dorffriedhöfen aus. Ich steige zwischen die Gummibäume auf den Hügel bis zum Eingang der Gedenkstätte. Bevor ich zu den Gräbern gehe, trete ich in einen Raum, der mit Kiefernadeln ausgelegt ist. In der Mitte steht ein menschgroßer, flacher Stein. Ich suche den Aufbahrungsstein nach Spuren der Verstorbenen ab, aber ich sehe nur Kerzenwachs und vertrocknete Blütenblätter.
Draussen spuckt ein Vulkan dunkle Wolken in den meerblauen Himmel. Die bemalten Holzkreuze sind alle zum See gerichtet. Neben jedem Kreuz wurde eine kleine Staude gepflanzt. Ein Mann, der sich als Mitarbeiter der Gemeinde vorstellt, fragt mich, ob ich jemand bestimmtes suche. Als ich verneine, begleitet er mich bei meinem Gang über die Gräber. Manchmal zeigt er auf ein Grab, liest die Namen und erzählt, wie sie gestorben sind.
Von einem Steinfall getroffen.
An Covid.
Plötzlicher Kindstod.
Ich frage ihn, ob auch die Opfer des Bürgerkriegs hier liegen. Er schüttelt den Kopf und sagt,
die sind im Staub, der uns umgibt und in der Luft, die wir atmen.
Wir gehen gemeinsam weiter und bekreuzigen uns.
Er habe mich gefragt, was ich hier mache, weil manche Leute sich nicht benommen hätten. Ich vermute, er meint Jugendliche, die sich zum Trinken treffen. „Haben sie Abfall liegen lassen?“, frage ich. David schüttelt den Kopf. „Brujeria haben sie betrieben. Schwarze Magie.“
In letzter Zeit würden sich die Probleme mehren. Gruppen versammeln sich hier auf dem Friedhof, die dunkle Rituale vollführen mit dem Ziel anderen zu schaden und dem Böses, das sich eben erst gerade zur Ruhe gelegt hätte, zu neuem Leben zu verschaffen. Deshalb sperre er manchmal den Friedhof zu. Man müsse aufpassen, erklärt er mir. Er wolle nicht, dass sich schon wieder etwas ereignet, jetzt, da das Dorf gerade wieder zu Ruhe gekommen sei.
Alles begann mit der Restaurierung der einen Kirchenwand, erzählt David. Man wollte die eine Wand restaurieren, die, die modrig geworden ist und Risse bekommen hat. Ein Arbeiter, ein Jugendlicher aus dem Dorf, hat, als die den Boden umgewälzt haben, einen Schädel in der Erde gefunden. Anstatt ihn ordnungsgemäss zu bestatten mit allen nötigen Ritualen, den sieben Gedenktagen, dem Anzünden von Kerzen und Verbrennen von getrockneten Blumen, aufsagen von Gebeten, hätte er mit anderen den Schädel auf dem Kopf getragen, den Kiffer springen lassen. Sie hätten sich in gar zugeworfen, sagt David.
„Was für einen Schädel?“, fragte ich. „Von wem?“ Er hat mit den Schultern gezuckt. Das wisse keiner so genau. Womöglich einer der desaparecidos, den Verschwundenen aus dem Bürgerkrieg oder den Narcokonflikten. Aber einigen aus dem Dorf vermuteten auch, dass er viel älter war, ein alter Vorfahre, da Jadeschmuck danebengelegen war, der dann aber verschwunden sei.
Nach diesem despektierlichen Umgang mit den Überresten hätte es angefangen. Wie eine Seuche, sagt David. Begonnen habe es bei den Jugendlichen und wie eine übertragbare Krankheit hätte es eine Person nach der anderen befallen.
Ich kann mir einen Besessenen nicht vorstellen, woran erkennt man, dass es jemand erwischt hat, frage ich ihn. Sie taumeln herum, als seien sie betrunken, antwortet er. Sie schauen in die Ferne, als wäre weit weg ein Ort, an den sie sich sehnen, aber schaue man genauer hin, blicken sie ins Leere. Sie sprechen nicht, sie trinken und essen nicht. Wolle man sie halten, fangen sie an zu beben und zittern. Eine schreckliche Krankheit. Wie hat es geendet, fragte ich ihn. Heiler und Schamanen mussten gerufen werden, zum Teil von weit her. Sie sprachen wiederholt Schutzzauber, bis es sich gelegt hätte, bis der letzte Jugendliche mit Leben in den Augen aufgewacht sei.
Es knackst hinter uns. Erschrocken drehe ich mich auf. Aber es ist nur ein Huhn, das sich von einem Garten durch die Bäume am Friedhofsrand verirrt hat.


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Kommentare zu diesem Text


 Judas (09.03.23, 19:19)
Ohne Worte, gefällt. Rundum gut. Da waren glaub ich irgendwo ein, zwei Tippfehler, nicht so wild.

 AchterZwerg (10.03.23, 07:09)
Ich frage ihn, ob auch die Opfer des Bürgerkriegs hier liegen. Er schüttelt den Kopf und sagt,

die sind im Staub, der uns umgibt und in der Luft, die wir atmen.
Allein dafür gibts von mir die Doppelbesternung! <3 

Der Rest ist allerdings auch nicht übel ...

 Judas meinte dazu am 11.03.23 um 13:07:
ohja, ganz fantastische Passage.
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