VI. Die Selbstprüfung

Erörterung zum Thema Selbsterkenntnis

von  Terminator

Nietzsches Zweiteilung der Menschheit in die Wohlgeratenen und Missratenen ist grundsätzlich zutreffend, auch wenn die Menschheit ontologisch dreigeteilt ist (Lehrstand, Wehrstand, Nährstand). So gibt es auch wohlgeratene Bauern, vortreffliche Kaufleute, Menschen aus dem Dritten Stand, die nicht im Ressentiment gegen die höheren Stände leben. Da die Ständegesellschaft nicht mehr existiert, geht es heute um (Neid auf) den inneren Adel.


Ich erkenne und anerkenne Nietzsches Unterscheidung, und muss mich somit selbst prüfen. In der Tradition härtester Selbstkritik zähle ich mich sofort zu den Missratenen, und mein erster Impuls ist der Entschulss zum Suizid.


Wer aus einem anderen Grund als dem Wunsch, zu leben, oder der Furcht vor dem Tod den Suizid unterlässt, lügt. Keiner lebt um der Anderen willen, wenn er sterben will. Das sind nur Ausreden, um die mutige Tat der Selbstentleibung zu fliehen. Die Gründe sind immer geheim und meistens jämmerlich. Die meisten Verzweifelten bringen sich nicht um in der Hoffnung, dass sich jemand doch noch ihrer erbarmt. Der Glaube daran, aufgrund eines Selbstmords in die Hölle zu kommen, beleidigt die Güte Gottes. Gott wird arme Verzweifelte, die keine Kraft zum Leben mehr hatten, nicht zum Teufel schicken.


Alles Probleme, die mir fremd sind. Bei mir bedarf der Suizid nur eines festen Entschlusses. Sollte ich mich tatsächlich am Ende der Selbstprüfung zu den Missratenen zählen, wäre mir der Weg zum Freitod durch keine Ängste oder Hoffnungen verbaut. Aber wenn ich mich als missraten empfinde: missraten als was? Als Mensch schonmal nicht, denn meine Würde, Ehre und Integrität habe ich stets erfolgreich verteidigt. Ich habe nie meine Seele verkauft und keine Todsünde begangen: ich habe das Recht, zu leben, nicht verwirkt.


Bin ich als Mann gescheitert? Was für ein Mann – ein Männchen, ein Deckhengst? Der wollte ich nie sein. Wo ist meine olympische Medaille? Warte, ich suche. Allenfalls für Denksport habe ich eine: einen Hochbegabtenschein. Aber weltlichen Erfolg kann ich nicht nachweisen. Bin ich also ein Missratener, der nur intelligent ist? Was bedeutet denn "nur intelligent"? Habe ich außer Intelligenz nichts, was mir Wert gibt, keine Würde, keine Ehre, keine Integrität (erkämpft und verteidigt, nicht bloß behauptet)?, – doch, durchaus. Lebe ich selbst- oder fremdbestimmt? Lebe ich in Liebe und Heiterkeit oder in Hass und Ressentiment? Oh là là: ich bin ein glücklicher Philosoph.


Aber was ist ein Philosoph? Der Fussballspieler fragt: "Wie viele Tore hast du in deinem Leben geschossen?" Ich muss zugeben: "Keins bei offiziellen Spielen". Der Casanova fragt: "Wie viele Frauen hast du verführt?" Ich muss sagen: "Null". Der Scharfschütze ist neugierig: "Wie viele Feinde hast du getötet?" Ich sage: "Ich habe noch keinen Menschen getötet". Und es ließen sich weitere arbiträre Kriterien anführen, nach denen ich missraten wäre. Aber was ist mein eigenes Ideal? Was will ich, was wollte ich schon immer sein? Die Leidenschaft des Erkennens hat meinen Willen ergriffen, als ich noch ein Kind war. Das forschende und denkende, geistige, theoretische Erkennen war immer die Herausforderung, die vor mir lag. Ich bin nicht als gescheiterter Rennfahrer Philosoph geworden.


Vortrefflich zu sein im Geistigen aus Überschuss oder wenigstens ohne Sorge um das körperliche Wohl oder den weltlichen Erfolg macht aus mir einen Wohlgeratenen. Vortrefflich! Ja, das bin ich.


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Kommentare zu diesem Text


 Hamlet (14.03.23, 20:32)
Ich lobe diese schonungslose Ehrlichkeit (à la Nietzsche), die so konsequent ist, dass sie sich notfalls sogar gegen sich selbst richtet. Das ist nur verständlich, wenn man die  Wahrheit und Wahrhaftigkeit als höchste Werte hegt und hoffen darf, wenigstens noch darüber irgendwie aufzusteigen - wenigstens im Erlangen der Weisheit, Weisheit nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zu irgendeinem Omega-Punkt, der ein positives oder negatives Glück bedeutet.

 Dieter Wal (23.03.23, 22:36)
Der Scharfschütze ist neugierig: "Wie viele Feinde hast du getötet?" Ich sage: "Ich habe noch keinen Menschen getötet".
An einem Mörder ist nichts vortrefflich. Also bleib dabei.


Was für ein "Männlichkeitsideal" ... .

Hier viel mehr als suizidal-schöne Musik:  JS BACH - Cantate 82, Ich habe genug - Les Musiciens de Saint-Julien
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