Muttersprache

Text

von  Lilo

Anfangs dachte ich, es läge an der Stadt. Dass ich nicht zu ihr gehörte, weil ich dort nicht geboren war. Und ihre Sprache nicht sprach. Anfangs war es vor allem die Sprache. Das harte R, die ständig stimmlosen S und V, die Vokaldehnungen und -verkürzungen und -verschiebungen, die Diphthongierungen. Ich erinnere mich an keinen Moment, an dem ich sie nicht verstanden hätte. Das war es nicht. Die Fremdheit ging tiefer als eine dialektale Abweichung. Eher als aus dem Singsang, kam sie aus den Stimmen selbst. Wie sie in den Kehlen gurgelten. Wie sie die Wörter spuckten und mit den Schultern zuckten. Aus den Scherzen, die mich nicht zum Lachen brachten, aus den Rügen. Aus der Art, wie die Nasen gerümpft wurden und worüber. Aus dem Schenkelklopfen. Aus dem Wort Gott und seiner Härte. Und aus dem Wort Scheiße, dass klang wie das Fett, das aus einer Bratwurst sprudelt, wenn man mit der Gabel hineinsticht. Die Fremdheit zwischen mir und den Menschen dieser Stadt war total. Unüberwindlich. Das fiel nicht nur mir auf. Anfangs hellte sich etwas in mir auf, wenn ich den Namen meiner Geburtsstadt hörte. Oder einen Fetzen ihrer Sprache im Fernsehen. Sie war immer so lustig und schnell. An die Geburtsstadt selbst hatte ich kaum Erinnerungen.  Später wurde mir klar, dass auch die Sprache meiner Geburtsstadt nicht meine war. Ich hatte sie nicht verloren. Ich hatte sie nie besessen. Ich hätte sie auch nicht besessen, wenn wir nicht umgezogen wären. Es war nicht meine Muttersprache. Meine Muttersprache ist ein Konglomerat. Unrein. Gebrochen. Vom Fernsehen geschliffen. Und der Schrift versöhnt. Aber heimatlos. Die Erwachsenen bescheinigten mir ein schönes Hochdeutsch. Die Kinder fanden, ich rede komisch. Ich hörte nicht, was sie meinten. Ich höre mich selbst nicht. Immer noch nicht. Auf die Frage, wo ich herkomme, kann ich nicht die Antwort geben, auf die die Frage zielt. Ich verstehe die Frage. Aber ich spreche die Sprache nicht, in der sie beantwortet werden müsste. Ich komme aus meiner Familie. Und die ist Geschichte. Ich halte meinen Blick dorthin gerichtet, wo ich hinwill.



Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Agnete (66)
(02.07.23, 19:51)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Dieter_Rotmund (03.07.23, 15:47)

Und der Schrift versöhnt.



Toller Satz, gefällt mir sehr gut!
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram