Feucht

Es muss auch trockene Tage gegeben haben. Davor und danach. Ich erinnere mich an die Sonne. An dem Tag, als mir der Vorderreifen auf einem Kiesweg wegrutschte und ich so unendlich langsam fiel, dass ich jede Schieflage, die mein Körper im Umkippen durchlebte, einzeln wahrnahm. Ich sehnte mich nach dem Aufprall. An den Schmerz, als sich die Kieskörnchen in meine Handflächen und Knie bohrten, erinnere ich mich nicht. Die Erfahrung, den Lauf des Geschehens nicht aufhalten zu können, blieb. Damals erlebte ich zum ersten Mal die Illusion der Zeitlupe. Die Kieselsteine hinterließen winzige Mulden in meiner Haut. Ich konnte nicht aufhören, über diese Unebenheit zu streichen. An dem Tag, als ich mich beim Versteckspiel in einen Strauch hineinquetschte und sich eine Nacktschnecke in meinen Haaren verfing. So miteinander verklebt, übertrug sich mein Ekel vor der Schnecke auf mich selbst. Ich schämte mich und wusste nicht wofür. Als hätte die Schnecke mich absichtlich ausgewählt. An dem Tag, als ich viel zu warm angezogen an meinem alten Gymnasium vorbeilief, auf dessen Mauer viele Jahre später immer noch derselbe Satz in schwarzer Sprühfarbe stand: I’ll never let you go.

Und, und. An keinem dieser Tage hatte es geregnet. Trotzdem kann ich mir die Luft der Stadt nicht mehr trocken denken. Die warme, feuchte Luft eines einzigen Tages hat sich in alle Zeiten ausgedehnt. Ich hatte sie selbst mitgebracht aus dem Umland von einem Tag am See. Und den Wunderbaumgeruch. Das Kopfweh, das mir den Magen umdrehte. Die kirschgroßen Muttermale in Raffas weißem Gesicht. Vickis Locken, die ihr schlaff über die Schultern fielen. Das Surren der Bremsen am Seeufer. Ich wollte ein Lied, das mich aufreißt, aber Anja sang einen Schlager in den Hals der Likörflasche, die sie sich vor die geschürzten Lippen hielt. Unser schweigsames Lachen.