Die Prophezeiung des Soldaten

Short Story zum Thema Horror

von  Milta_Svartvis


Vor kurzem träumte ich, dass ich in mondloser Nacht meinem verstorbenen Jugendfreund und  Zechkumpanen Johann begegnet sei. 


In meinem Traum wanderte ich barfuß und nur mit einem Nachthemd bekleidet durch eine von Eichen umgebene Straße. Die Straße war einsam und verlassen, nur beleuchtet vom  blassen Licht der Laternen. Es war der Weg, der vom städtischen Friedhof zum Bahnhof führte.

Plötzlich sah ich eine Gestalt. Sie war schlank und hochgewachsen. Auf den Schultern schien ein langer, dunkler Schal zu liegen, doch im trüben Zwielicht konnte es auch ein lebendiges Tier sein, dass da der Gestalt um den Hals lag. Immerhin konnte ich erkennen, dass es sich bei der Person um einen Mann handelte. Den Rücken zu mir gewandt, ging er in einiger Entfernung leicht schwankend vor mir her. Dann, im Schein einer Laterne, erkannte ich ihn, auch wenn ich ihn bislang nur von hinten sah und die Identität eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit war. Es war mein alter, teurer Freund Johann! Während meiner Zeit in Tübingen hatten wir gemeinsam die Matura abgelegt und bei mehr als einer Gelegenheit in den Schenken dem Geist des Mephisto auf dem Grund einer Flasche nachgejagt. Tatsächlich, es bestand kein Zweifel, dass er es war! In seinen schwarzen Stiefeln und dem langen, blauen Mantel, den er kurz vor dem preußisch - französischen Krieg  erstanden hatte. Damals  hatten wir uns in patriotischem Eifer freiwillig gemeldet, doch erkrankte ich kurz zuvor an einer schweren Krankheit und war daher nicht mehr in der Lage, für das Reich zu kämpfen. 

Johanns stets etwas unordentliches schwarzes Haar wehte im Wind hin und her. Auf seinen Schultern ruhte sein Haustier, ein schwarzer Kater mit Namen Hoffmann. Johann hatte dieses Tier über alles in der Welt geliebt und als es an Altersschwäche starb, war ihm das Herz gebrochen. Wenig später war er in den Krieg gezogen und nie mehr vom Schlachtfeld in Sedan zurück gekehrt.
Ich rief nach ihm, meine Stimme verhallte mit einem Echo im Wind. Johann blieb stehen. Ein leises Miauen durchbrach die gespenstische Stille. Der Mann drehte sich um und ich stieß einen Schrei des Entsetzens aus.
Johann sah fast genauso aus wie damals vor vierundvierzig Jahren. Doch hatte man ihm offenbar das Gesicht weggeschossen. Anstelle der Augen waren da nur noch ein paar blutige Löcher. Die Nase war nicht mehr vorhanden. In der Hand hielt er eine Flasche Echter Nordhäuser, den er zu Lebzeiten oft getrunken hatte. Hoffmann fixierte mich mit seinen goldgelben Augen, bevor er seinen Kopf genussvoll schnurrend an Johanns Schulter rieb -  genau wie damals, als wir junge Burschen gewesen waren. Der Tote lächelte freundlich.
"Heinrich!", rief er mir fröhlich zu.              

"Komm, trink mit mir einen Schluck!"  
Er wedelte mit dem Nordhäuser als wäre die Tatsache, dass er tot und entstellt war, nicht weiter erwähnenswert. Wir standen etwa drei Meter voneinander entfernt, doch wagte ich nicht, mich ihm noch weiter zu nähern. Irgendetwas daran schien bedrohlich. 

In der Ferne vernahm ich schwachen Lärm. "Johann!", rief ich. "Was ist mit dir geschehen?"
"Ist das nicht offensichtlich, Heinrich?", fragte er und sein Lächeln verschwand. "Man hatte uns gewarnt... doch wir wollten es nicht glauben.", bemerkte Johann mit kalter Nüchternheit in der Stimme und ich wusste, worauf er damit anspielte.
"Nein ", sagte ich. 'Wollten wir nicht." 
Der ferne Lärm verdichtete sich nun zu einer Klang Kaskade aus Schüssen, Schreien, Kanonen Salven, Explosionen und gebrüllten Befehlen. Die Geräusche kamen immer näher und näher. "Und es wird auch nicht besser werden, glaub mir!" Der Tote, der mal mein bester Freund gewesen war, glitt seiner Katze mit dünnen, weißen Fingern durchs Fell, während irgendwo ein lauter Knall ertönte und ein grelles Licht aufblitzte. "Was meinst du?", fragte ich verängstigt.
"Das werdet ihr schon sehen", erwiderte Johann. "Sehr bald schon." Daraufhin nahm er einen Schluck aus der Flasche und wischte sich mit der Handfläche den blutverkrusteten Mund ab. Nur wenige Kilometer hinter uns schlug eine Bombe ein und legte das Postamt in Schutt und Asche. Über uns durchquerten Flugzeuge den Nachthimmel. Johann blickte auf. "Nun schaue dir das an, Freund! Unterliegen auch Zeiten und Waffen dem ewigen Wandel des Seins, so bleibt einzig der Mensch in seiner Zerstörungswut die eine Konstante! " Wieder sah er mich aus diesen blutigen, schwarzen Höhlen an und zuckte mit den Schultern. "C'est la vie, oder wie man sagt."
Der Kater schien von der Vernichtung um uns herum ungerührt. Desinteressiert und aus halb geschlossen Augen sah er mich an.
"Johann... Was geht hier vor?"
"Das, was noch Jahrhunderte lang vor sich gehen wird.", antwortete Johann und hob den Nordhäuser in meine Richtung.
"Auf bald, Heinrich! ", rief er mir zu.
Der Tote nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche, warf sie über den nächsten Garten- zaun und drehte sich um.
Als ich ihm hinterher wollte, kam ich nicht von der Stelle. Meine Füße schienen am Boden fest zu kleben. Ich schrie Johann nach, er solle mir helfen, doch er ging einfach weiter. Ich konnte ihn singen hören als seine Stimme durch den Lärm schwach zu mir herüber drang:


"Alouette, gentille Alouette, 

Alouette, je te plumerai... "


Ganz in meiner Nähe schlug eine Kanonenkugel ein und riss die Straße in Stücke. Pflastersteine regneten auf mich nieder. Panisch schrie ich immer wieder Johanns Namen, als die Umgebung plötzlich in einer Schwade aus Senfgas verschwand. Meine Augen und meine Haut brannten wie Feuer. Aus Schmerz und nackter Angst heraus versuchte ich, um Hilfe zu schreien, doch durch das Gas ich bekam keine Luft mehr, welches mir die Lungen wegzuätzen schien.
Pochende, schmerzhafte Blasen bildeten sich auf meinem ganzen Körper. Als die Welt um mich herum auseinander brach, hörte ich zum letzten Mal die Stimme meines Freundes rufen, der in der mir so vertrauten höhnischen Ironie Schopenhauer zitierte:

 
"Wenn der Tod unsere Augen schließt, werden wir in einem Lichte stehen, von welchem unser Sonnenschein nur ein Schatten ist."

 
Dann traf mich eine Kanonenkugel und löste  meinen Körper zu einem blutigen Brei auf.

Schreiend riss ich die Augen auf. Mein Herz raste. Kalter Schweiß klebte mein Nachthemd an meinen bebenden Gliedern fest. Es verging ein Moment, bevor ich begriff, dass ich nur geträumt hatte. Langsam, ganz langsam beruhigte ich mich wieder. Meine Schlaf - kammer war in tiefstes Schwarz gehüllt. Vorsichtig tastete ich mit der Hand nach der Nachttischlampe und schaltete das Licht ein. Als ich meine Stielbrille zur Hand nahm und auf die Wanduhr schaute, sah ich, es war viertel vor zwei. Dieser schreckliche Alptraum hing noch immer wie giftiger Nebel über meinem Gemüt. Also erhob ich mich aus dem Bett, stieg in meine Hausschuhe, ging die Treppe hinunter und holte mir aus dem Vorratsschrank einen Schnaps. Bevor ich mich wieder schlafen legte, holte ich eine kleine Kiste unter meinem Bett hervor. Angeregt von meinem finsteren Traum, suchte ich nach einer alten Fotografie. Ich nahm eines von mehreren in Wachspapier eingewickelten Bündeln heraus. Die meisten Bilder waren etwa drei Jahrzehnte alt und stammten aus der Zeit, als ich meine geliebte Margarete kennen lernte, welche nun seit fast zwei Jahren im Reich des Herrn weilt. Doch ein Bild, das älteste, stammte aus meiner Jugendzeit. Es war die Aufnahme eines Amateurphotografen und zeigte mich und meinen besten Freund Johann bei einem gemeinsamen Gelage zwischen den Ruinen der Asseburg. Das Herz wurde mir schwer bei diesen seligen  Erinnerungen. Oh, was haben wir geträumt! Im Geist der Romantik und des allgegenwärtigen Patriotismus sahen wir uns als glorreiche Streiter für die geeinte deutsche Nation. Glorreich würden wir ein stolzes, freies Vaterland auf Schweiß, Tapferkeit und Feindesblut aufbauen.
Doch der einzige, der dann wirklich in den Krieg ging war Johann. Johann, der in Frankreich fiel  und dessen Leichnam nie gefunden wurde. Den man nie in Heimaterde begrub und dem keine Ruhmeslieder gesungen wurden. Nur einer von vielen. Während ich ein Leben hatte, das mir ironischerweise von einer Krankheit gerettet wurde, welche im Normalfall tödlich verläuft, starb Johann, als er Unsterblichkeit im Schlachtenruhm suchte.
Ermattet und melancholisch gestimmt ging ich schließlich zu Bett. Es dauerte lange, bis ich wieder einschlafen konnte. Meine Gedanken schweiften immer wieder ab zu dem furchtbaren, fast schon prophetischen Traum und ich grübelte über dessen Bedeutung nach.


Als ich zwei Tage später in einem Kaffeehaus die Zeitung las, wurde es mir klar. Die Neuigkeit traf mich wie ein Blitzschlag. Ich brach an Ort und Stelle zusammen und wurde rasch ins Hospital gebracht. Ein schwerer Nervenschock. Die Ärzte haben   wenig Hoffnung, dass ich mich wieder erhole.  Wahrscheinlicher ist es, dass ich hier mein Leben aushauchen werde. Sei's drum! Sollte mich der Herr in seiner unendlichen Weisheit und Gnade zu sich holen, so wird mir zumindest das Leben in einer Welt erspart, die auf eine Katastrophe zusteuert,  die alles übertrifft, was der Mensch an Grauen zu kennen glaubt. Und obgleich ich nie jemand gewesen bin, der zum Lebensüberdruss neigte,  auch nicht als das fortschreitende Alter mir immer mehr an Kraft und Vermögen nahm, hoffe ich nun, dass ich so bald wie möglich mein Ende finden werde. Mich überwältigt Furcht bei der Vorstellung, einzuschlafen und noch weitere solcher Visionen zu durchleben, die meinen geschundenen Geist noch tiefer in die Zukunft führen.

Die Leute denken, dass ich wegen der Schlagzeilen in Ohnmacht fiel. Und tatsächlich wären diese schrecklich genug um sensiblere Gemüter zu traumatisieren.

Aber sie hatten nicht diesen schrecklichen Traum gehabt! Diesen Traum, indem ein teurer Freund zurück kehrt um vor dem größten Fehler der Menschheitsgeschichte zu warnen, einem Fehler, den unser Geschlecht immer und immer wieder begehen und nie daraus lernen wird, bis wir eines Tages den Punkt erreichen werden, an dem es zu spät ist und wir unseren eigenen Untergang besiegeln. Erst mit diesen Bildern im Hinterkopf ergibt sich ein Zusammenhang, aus dem ich nur den schrecklichsten aller Schlüsse für die Welt zu ziehen vermag.


Es war die Abend Ausgabe vom 1. August 1914, die der Nation mitteilte, dass Kaiser Wilhelm II  gegen 19 Uhr in St Petersburg dem Russischen Zarenreich den Krieg erklärt hatte und dass seitdem ein Weltkrieg immer wahrscheinlicher wird.








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