Da hörte ich zum ersten Mal dieses "Wenn-du-wohin-gehst-geh-ich-auch-wohin mit eigenen Ohren

Text

von  Lilo

Der qualifizierte Entzug beginnt mit der körperlichen Entgiftung. Die körperliche Entgiftung dauert fünf Tage. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es Enno dabei gehen würde, mit sich. Wie er sich ohne Alkohol und Kokain aushielt. Und das Leben. Ich kannte sein Zittern, morgens vor dem ersten Schluck Wodka. Ich kannte sein plötzliches Aufspringen, um eine Line zu ziehen. Wie es ihm nüchtern, der Betäubung beraubt, gehen könnte, ob er noch unruhiger würde oder ruhiger, ob etwas aus ihm hervorbräche- und wenn, was? Ich konnte es nicht wissen. Es gab so viele Möglichkeiten. Zwanzig Minuten nach unserem Abschied am Donnerstagmorgen, hatte er noch einmal angerufen. Ich stand an der Theke eines Biobäckers mit Café und wartete auf meine Bestellung. Ein Hipster-Laden, frequentiert von Kleinkindeltern. Eine Laugenbrezel kostete 2,50 Euro. Es war abstrus oder wahr, dass Enno und ich zu diesen Leuten gehören könnten. Dass wir mit ihnen vielleicht ein Seminar besucht hatten, bevor wir auf unsere jeweiligen Wege einschlugen. Enno sagte mir noch einmal auf eine seiner umständlichen Arten, dass er mich ein bisschen gerne mochte. „Ich dich auch“, sagte. Eine Frau kam in den Laden und lächelte mich an. „Ich dich auch? Dafür bin ich noch nicht bereit!“, lachte Enno.

 

Als er Donnerstagabend nicht anrief, nahm ich an, dass er es geschafft hatte. Zumindest den Weg in die Klinik. Nur eine kleine Restsorge surrte unruhig in meinem Hinterkopf. Wie eine eingesperrte Fliege, die in unregelmäßigen Abständen laut gegen das geschlossene Fenster fliegt, aber sonst so leise ist, als wäre sie gar nicht da. Was, wenn er nicht hingegangen war und sich schämte, es zuzugeben? Als er am Freitagabend nicht anrief, war ich beruhigt. Als er am Samstagabend nicht anrief, war ich mir sicher. Er war tatsächlich dort.

 

Ich kannte mein Bangen um eingehende oder ausbleibende Anrufe vorwärts und rückwärts und hätte es, wäre es ein Gedicht, doch nie aufsagen können ohne zu stottern. Das Bangen hatte mich durch alle meine Beziehungen zu Männern begleitet, es war konstant, unabhängig von der Person. Mein zweifelhafter Anteil. Die Haltung, die ich in Beziehungen einnahm, war eine akrobatische Glanzleistung, geduckt mit eingezogenem Kopf im Startloch sitzend, aus den Augenwinkeln dem Augenblick harren, in dem ich weggestoßen werde, um schon beim Fertig aufspringen zu können. Damit mich das Los nicht trifft. Über zwanzig Jahre lang hatte ich geübt, das Bangen in mir auszuhalten und nach außen hin zu verbergen. Ich wusste, dass kein Mann es mir würde nehmen können. Ich musste mich in die Unsicherheit hineinwerfen wie in die Luft, den Zug, der mir unter die nackte Haut fuhr, als unvermeidlich annehmen. Irgendwann hätte ich mich der Wirklichkeit so radikal und unbedingt ausgesetzt, dass ich mich darunter nicht mehr zusammenkrampfte. Ich lernte, mich abzustellen. In Abschiedssituation, beim Dahinsagen von Zukunftsplänen und Verbindlichkeiten kappte ich die Verbindung zu meinem Gegenüber. Ich ließ das Gesagte Wort bleiben. Es erreichte mich nicht. „Ja, ja“, sagte ich nur. Ich bin die Frau, die nach eineinhalb Jahren Beziehung an einem Bahnhof wartet und davon ausgeht, dass ihr Freund, den sie das erste Mal über Weihnachten mit nach Hause nehmen will, es sich in letzter Minute anders überlegen könnte, trotz Abmachung und Ticket. Bangen war mein Normalzustand, meine Gewohnheit. Ich war darauf gefasst, dass es sich früher oder später einstellen würde. Aber es kam nicht.

 

Am Sonntagabend rief Enno an. Am Abend des vierten Tages in der Klinik. Er entschuldigte sich, dass er sich nicht früher gemeldet hatte. „Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet“, sagte ich schnell. „Trotzdem“, sagte Enno, „ich wollte es gerne“. Das Gespräch war kurz. Die Leberwerte ok. Die Neurodermitis hatte ihm mehr zu schaffen gemacht, als der Alkoholentzug. Er aß jeden Tag drei Bananen. Der Mann, mit dem er das Zimmer teilte, hatte am dritten Tag aufgegeben. „Ich freue mich, dich zu hören“, sagte ich. „Nächste Woche kann ich das erste Mal für drei Stunden raus, also soll ich. Ich muss mir ein Meeting aussuchen, irgendwo in der Stadt, und hingehen, die erste Stunde, danach können wir uns sehen. Ich melde mich wieder, wenn ich mehr weiß-„ Wir legten auf. Und aus weiter Entfernung nahm ich, so ganz am Rande, etwas Erstaunliches wahr: dass Enno da war. Zum allerersten Mal in meinem Leben spürte ich etwas, das für mich bisher zwischen leerem Wort und unbehaglichem Druck changiert hatte. Verbindlichkeit. Ich hatte die Freiheit, die Duckhaltung aufzugeben.


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