Gedanken in der Adventszeit, in Tinte getaucht

Anordnung

von  Quoth

Kerzen anzünden in der Dunkelheit. Warum ist es feierlicher, als das elektrische Licht anzuschalten? Wahrscheinlich, weil Kerzenlicht so beschützenswert ohnmächtig ist gegen Nacht und Zugluft.

Die Messingleuchter sind von meiner Urgroßmutter, ich liebe sie mit großer Wehmut und Nostalgie. Andere verbinden nichts mit ihnen, für sie stehen sie nur im Weg.

Jetzt erschallen wieder Chöre – aus Radios, Fernsehern und in Kirchen – für Atheisten ein Ärgernis? Unter den Sängern und Sängerinnen des Bachchors, den ich kenne, sind mindestens 5% Atheisten und 90% Agnostiker. Die wenigen Frommen erkennt man daran, dass sie nicht besonders gut singen.

Der Kantor, dessen hoffnungsvoller Sohn mit 20 an Lymphdrüsenkrebs starb. Wie ertragen Sie das?, fragte ich ihn. Nur durch ständigen Blick auf den Gekreuzigten, war seine Antwort.

Ich gehe über den Weihnachtsmarkt. Gerüche nach Kebab und Baklava mischen sich unter die von Glühwein und Schmalzgebackenem. Ich entscheide mich für Falafel mit Hummus, dazu trinke ich Ayran. Ein großer weißer Lkw kommt heran. Aber er fährt vorbei.

Wenn ich in diese Kirche gehe, bemächtigen sich meiner fromme Gefühle, ich weiß nicht woher. „Ich glaube nicht an dich, lieber Gott, aber ich danke dir, dass du die Menschen so schöne Gebäude hast bauen lassen!“

Die erste nackte Frau, die ich sah, war die aus Holz geschnitzte Eva des Altars. Was für Rundungen! Welche Anmut! Ich kann nicht ausschließen, dass sie heute noch meine Vorstellung von Frauenschönheit bestimmt. Und hat sie nicht Größtes vollbracht, als sie vom Apfel der Erkenntnis aß? Größeres als Adam, der es nur ihr zuliebe tat?

Meinem Bruder, Physiker und Atheist, sage ich: Ihr Atheisten seid eigenbrötlerische Einzelgänger. Mitnichten, erwidert er, denke nur an die Kongresse von Physikern, Astronomen und Biologen! Auch wenn ein paar unverbesserliche Gläubige darunter sind – es sind große, fröhliche und oft genug auch feuchtfröhliche Ereignisse. Nur getanzt und gesungen wird leider nicht. Aber auch das kommt vielleicht noch!

Wer sich rühmt, Menschen immer mit Respekt behandelt zu haben, erinnert sich wahrscheinlich nur selektiv.

Ärgere ich mich, wenn ich beim Mensch-ärgere-dich-nicht geschlagen werde? Ja, aber es ist ein Ärger auf einer anderen Ebene als der, wenn ich mir an der niedrigen Kellertür den Kopf stoße, ein Ärger, den ich vorausgesehen und in Kauf genommen habe, um mit anderen zu spielen.

Immer, wenn ich Mensch-ärgere-dich-nicht spiele, denke ich an meinen Vater, der es im Lazarett spielte, um ein Weilchen zu vergessen, dass ihm jetzt der rechte Fuß fehlte, den ich noch habe.

Mein Sohn sitzt mit seiner Mutter in der Philharmonie. Er ist mir abhanden gekommen.

Meinen Enkelinnen zeige ich im Chat die Paprika, die Zwiebel, den Lauch und die Aubergine und bin merkwürdig glücklich, wenn sie sie benennen können.

Jules Renard sagt: „Der Vorhang der Erinnerung lässt sich nur zurückziehen, wenn auch er es will.“ Deshalb habe ich mir eine Liste angelegt, in der ich festhalte, was mir oft partout nicht einfallen will – z.B. den Begriff fossil, aber auch Peripetie und die Schauspieler Charles Laughton und Robert de Niro. Für letzteren habe ich mir eine Eselsbrücke gebaut: Er hat es an die Nieren … Und an wen will ich mich wohl erinnern, wenn ich denke: Er ist kein Spinner? Natürlich an Baruch –

Ich mag die Streberspiele nicht, bei denen man Punkte oder Spielgeld sammeln muss – Schaffe, schaffe, Häusle baue, Kinder zeuge und verrecke … Sie sind zu wirklichkeitsnah, der Glücksfaktor ist zu niedrig.

„Schneeflöckchen, Weißröckchen“ sollte man allen Wohnungslosen vorsingen, die jetzt erfrieren.

Unterfüttert mit Ironie -ein Unterfutter von der Wirksamkeit einer schusssicheren Weste.

Mein Akustiker geht auf Distanz zu mir, seit ich herausgefunden habe, dass er Spätaussiedler aus Kasachstan ist. Er glaubt, dann müsse ich ihn verachten. Obgleich das Gegenteil der Fall ist, glaubt er mir das nicht. Das ist wie mit Anti- und Philosemitismus: Beide sind ungerecht.

Das Kernproblem der Spätaussiedler ist, dass sie in mehr als 4000 km Entfernung in Asien lebten, als „wir“ den Holocaust in Deutschland, Polen und der Ukraine begingen. Das „Nie wieder!“ unserer Staatsraison lässt sie kalt.

Auf die Mülleimer musste ich ordentlich drauftrommeln, damit die festgefrorenen Deckel aufgingen. Erinnert mich an einen Schulfreund, der nach Trinidad zog und mir schrieb, dass Mülltonnen in seiner neuen Heimat Musikinstrumente seien, er höre sie oft bis tief in die Nacht hinein.




Anmerkung von Quoth:

Dem Andenken an Jules Renard (1864-1910)

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Kommentare zu diesem Text

kipper (34)
(04.12.23, 01:01)
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 Quoth meinte dazu am 04.12.23 um 22:23:
Vielen Dank für Deinen Kommentar.
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