Weitere Gedanken in der Adventszeit

Anordnung

von  Quoth

Wenn ich drei Briefe in den Postbriefkasten stecken muss, bringe ich oft nur einen weg, um noch Ziele für zwei weitere Gänge zu haben. Ich hasse Spazierengehen.

Das ästhetische Begutachten von Landschaft hat sich durch die Erderwärmung verändert. Moore, Meere, Gletscher und Wälder haben etwas Bedrohliches erhalten – und dabei schlagen sie nur zurück. Um herkömmliche Naturpoesie zu schreiben, bedarf es heftiger Verdrängung.

Mein Bruder, Physiker, glaubt, dass die Raumfahrt, wenn wir die Erde unbewohnbar gemacht haben, weit genug entwickelt ist, um einigen Glücklichen die Rettung auf andere Planeten oder deren Monde zu ermöglichen.

Es gibt einen ernsthaften Konflikt zwischen meiner Partnerin und mir: Wir kochen beide gern. Die Lösung: Wenn ich koche, liest sie im Wohnzimmer die Zeitung, wenn sie kocht, lese ich in kV und ergötze mich an Reimwerken, Aphorismen und Prosaergüssen, gelegentlich auch an den offenbar unvermeidlichen zänkischen Stammtischeleien.

In der Schweiz war ich Anarchist, in Frankreich lief ich über zum Glauben an die Vernunft, England lehrte mich Pragmatismus, Deutschland die Dialektik, Italien aber Sinnlichkeit und Genuss. So bin ich eine Art weltanschaulicher Zwiebel geworden.

Schon Brecht hat sich gefragt, was eine Naturwissenschaft wert ist, die Atombombenabwürfe ermöglicht. Würde ich ein Stück über das Leben des Galilei schreiben, ich würde die Kirchenleute ahnen lassen, dass die von Galilei so stark vertretene Naturwissenschaft und ihre technische Umsetzung zwar einen scheinbaren und zeitweiligen Fortschritt, in Wirklichkeit aber den Untergang von Natur und Menschheit in der Klimakatastrophe herbeiführen wird.

Das Blackfacing ist in Verruf geraten – siehe den Kampf um den Zwarte Piet in den Niederlanden - , aber das Redfacing ist nicht besser. Winnetou ist der Inbegriff eines zur Rothaut geschminkten Weißen, und in Bad Segeberg, das im Mittelalter Frontstadt gegen die Wenden war, sollte man lieber einen Obotriten statt eines Apatschen zum Helden machen und statt Old Shatterhand den tapferen Mönch Vizelin ins Kalkbergtheater stellen, der von hier aus versuchte, die Slawen zum Christentum zu bekehren, bis ihn ein Schlaganfall zwang, hilflos und stumm die Nachrichten von ihrer Rückkehr zum Heidentum entgegenzunehmen.

Mein schärfster Konkurrent in der Grundschule war Berti, ein dürrer Zappelphilipp, aber er schrieb in Diktaten eine Eins nach der anderen – Worte wie Diphterie, Typhus und Rhythmus waren für ihn ein Kinderspiel, während ich vor allem die h hinter Konsonanten immer wieder vergaß und noch heute imstande bin, Teater und Rabarber zu schreiben. Später wurde er Anhänger von Bodyart, infizierte sich mit Masern, stellte sich rot gefleckt in seiner Galerie aus und gründete schließlich einen Erregerzoo mit der Begründung, diese letzten und einzigen ernsthaften Feinde des Menschengeschlechts hätten es jahrhundertelang zu seinem Segen kurz gehalten und seien sehenswerter als Löwen und Tiger. Dort habe ich erschauernd Yersinia pestis und Vibrio cholerae zum Kaiserwalzer von Strauss unter dem Mikroskop schwimmen und zappeln sehen. Ach, könnte ich Dich, Berti, doch einmal noch treffen und mit Dir einen Roten kippen! Aber Du bist vor zehn Jahren in Westafrika, als Ebola dort grassierte, verschollen. 

Dona nobis pacem in der der bald 250 Jahre alten Krönungsmesse gehört und war gerührt - von so vielem. 




Anmerkung von Quoth:

Wir sollten der Wahrheit keine Beachtung schenken. Dann fällt sie uns plötzlich um den Hals.
Jules Renard (1907)

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Kommentare zu diesem Text


 Lluviagata (11.12.23, 07:49)
Guten Morgen, verehrter Quoth,

danke für diese Gedanken, die kurzweilig sind, die sich, zwar verbunden mit wechselnden Gefühlen, dennoch rasch lesen lassen und mich zwingen, sie ein zweites, drittes Mal zu lesen, damit ich deren Bedeutung in ihrer Gänze erfassen kann. 

In einem Punkt möchte ich dir besonders zustimmen - diese Stammtischzerrereien vergällen mir den kV-Tag. Zum Glück gibt es  so viele schöne Dinge, die das Leben liebenswert machen,  zum Beispiel gute Freunde, mit denen man über Ursache und Wirkung diskutieren darf, ohne dass einer weint.

Liebe Grüße in deinen Tag
Llu ♥

PS: Und jetzt ist mir nach Naturpoesie!

 Quoth meinte dazu am 11.12.23 um 11:07:
Und mir erlaubst Du, Dich an mein Lieblingsgedicht von Gustav Falke zu erinnern:

De Stormfloot


Wat brüllt de Storm?
De Minsch is ’n Worm!
Wat brüllt de See?
’n Dreck is he!

De Wind, de weiht, up springt de Floot
Un sett up den Strand ehr’n natten Foot,
Reckt sick höger un leggt up ’t Land,
Patsch, ehre grote, natte Hand.

De lütte Diek, dat lütte Dorp,
De Floot is doröver mit enen Worp.
Door is keen Huus, dat nich wankt un beevt,
Door wahnt keen Minsch, de morgen noch leevt.

Wat brüllt de Storm?
De Minsch is ’n Worm!
Wat brüllt de See?
’n Dreck is he!

Es begleitet mich seit meiner Kindheit und einer Reise nach Amrum ... Vielen Dank für Kommentar, Empfehlung und Lielingstext, liebe Llu- Quoth
Dieter Wal (58)
(11.12.23, 12:54)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Quoth antwortete darauf am 12.12.23 um 17:08:
Danke für Empfehlung, Lieblingstext und Kommentar (wenn dieser auch zu schmeichelhaft ausgefallen ist)!
Dieter Wal (58) schrieb daraufhin am 12.12.23 um 17:16:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Oops (11.12.23, 13:35)
Gerne gelesen:).

LG Oops

 Quoth äußerte darauf am 12.12.23 um 17:07:
Freut mich. Warum? Danke für Empfehlung mit Kommentar!

 Oops ergänzte dazu am 12.12.23 um 17:27:
Sie hoch intelligenter Mensch wollen von mir kleinem Menschlein wissen warum ich den Text gut finde? Nagut

Jeder Absatz eine Geschichte für sich. Jede Geschichte kurzweilig interessant bis humorvoll dargebracht. Und ich singe leidenschaftlich gern Dona nobis pacem.

 Quoth meinte dazu am 12.12.23 um 17:34:
Vielen, vielen Dank! Das sind doch Aussagen! Bitte mehr davon!
Ich habe mich gefragt, warum ich von "Dona nobis pacem" so gerührt war - und bin auf ein fast unentwirrbares Bündel von möglichen Gründen gestoßen. Vielleicht sagst Du mir, warum Du es so gerne singst ...

Antwort geändert am 12.12.2023 um 17:37 Uhr

 Oops meinte dazu am 12.12.23 um 18:19:
Die Tonlage liegt mir und im Chor als Kanon gesungen wirkt dieses Mantraähnliche Lied besonders tief und mittendrin der tiefe Wunsch

nach Frieden. Ich fühle mich aufgehoben in einer Gemeinschaft in der Jeder/Jede genausogern singt.:)
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