Entwesentlichtes

Kurzgedicht zum Thema Identität

von  FrankReich

Die meisten reden über Sachen,
bevor sie sich Gedanken machen,
und auch am liebsten nur von Dingen,
die keinen Menschen weiterbringen.


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Kommentare zu diesem Text


 Regina (07.02.24, 18:37)
ja, in der Tat. Konzentration auf das Wesentliche tut not.

 FrankReich meinte dazu am 08.02.24 um 22:49:
Danke Regina, aber genau dort scheint das Problem zu liegen, denn wo nichts ist ... 🤔

Ciao, Frank

 Graeculus (07.02.24, 18:45)
"There's a-lotta people talkin' / But a-mighty few people know." (John Lee Hooker)

Am liebsten reden die meisten Menschen wohl über sich: "Mir geht nichts über mich." (Max Stirner) Tja, wen soll das weiterbringen? Vermutlich entlastet es wenigstens die Betreffenden.

 Terminator antwortete darauf am 08.02.24 um 05:41:
Am liebsten reden die meisten Menschen wohl über sich: "Mir geht nichts über mich." (Max Stirner)
Das ist nicht der Zusammenhang, in dem Stirner das gesagt hat. Stirners Philosophie ist der Endpunkt der Aufklärung, des Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit (Kant). Der Einzelne (bei Stirner: "Einzige") soll erkennen, dass die Gesellschaft, die Kirche, der Staat, und alle möglichen Gruppen ihn instrumentalisieren, benutzen wollen (und damit den kategorischen Imperativ verletzen).


Was Fichte theoretisch vollbringt, die Selbstsetzung des Ich, leistet Stirner praktisch: ich bin für mich Selbstzweck. Das ist mein Angelpunkt. Von hier aus betrachte ich meine Beziehungen, Verhältnisse usw. Ich bin zuallererst für mich da, nicht für den Staat, nicht für die Familie, nicht für einen guten Zweck. Erst auf dieser Grundlage kann das Individuum echte Beziehungen und faire Verhältnisse eingehen.

 FrankReich schrieb daraufhin am 08.02.24 um 23:06:
Danke für eure Kommentare, 
und ich denke, dass es in diesem Fall gar nicht mal so tragisch ist, wenn das Zitat von Stirner in einen anderen Zusammenhang gesetzt wird, denn vom Prinzip passt dieser ausgezeichnet zur Moderne, wobei ich mir jedoch sicher bin, dass die wenigsten wissen, was sie tun, sie funktionieren nur, mehr oder weniger ...  🙃

 FrankReich äußerte darauf am 08.02.24 um 23:06:
... quod erat demonstrandumm. 😂😂😂

Antwort geändert am 08.02.2024 um 23:09 Uhr

 Saira (07.02.24, 18:59)
Alleine deine Überschrift lässt innehalten …
 
Dieses Phänomen nimmt m.E. zu. Woran mag es liegen? Darauf erwarte ich jetzt keine Antwort, Frank.
 
Liebe Grüße
Sigrun

 FrankReich ergänzte dazu am 09.02.24 um 00:21:
Zugegeben, der Titel ist schon ein wenig irreführend, denn die Gabe, Wesentliches in und um sich herum wahrzunehmen, bzw. sich darauf konzentrieren zu können, geht vielen Leuten ja nicht erst seit heute ab, es ist wohl schon seit eh und je so, wie das bekannteste Gedicht des Barockdichters Johannes Scheffler alias Angelus Silesius (1624 - 1677) verdeutlicht:

Mensch, werde wesentlich! Denn wenn die Welt vergeht,
so fällt der Zufall weg: Das Wesen, das besteht!

Dem gegenüber trat die Aufklärung, die Folge davon waren Philosophen wie bspw. Immanuel Kant oder Max Stirner, die den ethischen Egoismus sowohl in seiner schwachen als auch starken Form einer Untersuchung unterzogen, bzw. definierten oder sogar proklamierten.
Einer meiner Lieblingsdichter, der Expressionist Ernst Stadler (1883 - 1914) nahm allerdings Schefflers Faden in folgendem Gedicht wieder auf:

Der Spruch

In einem alten Buche stieß ich auf ein Wort,
Das traf mich wie ein Schlag und brennt durch meine Tage fort:
Und wenn ich mich an trübe Lust vergebe,
Schein, Lug und Spiel zu mir anstatt des Wesens hebe,
Wenn ich gefällig mich mit raschem Sinn belüge,
Als wäre Dunkles klar, als wenn nicht Leben tausend wild verschlossne Tore trüge
Und Worte wiederspreche,  deren Weite ich nie ausgefühlt,
Und Dinge fasse, deren Sein mich niemals aufgewühlt,
Wenn mich willkommner Traum mit Sammethänden streicht
Und Tag und Wirklichkeit von mir entweicht,
Der Welt entfremdet, fremd dem tiefsten Ich,
dann steht das Wort mir auf: Mensch, werde wesentlich!

Während Schefflers Intention zum Spruchgedicht noch seiner tiefreligiösen Einstellung entsprang, verweltlicht Stadler diesen, bezieht ihn aber auch gleichzeitig auf sich, bzw. das lI, i. e., dass er die religiösen und politischen Masken der Gesellschaft für sich durchschaut und dafür zumindest für einen Moment befähigt ist, die eigene abzulegen, um den Spruch Schefflers auf seine Zeit zu reflektieren.
Das Gros der heutigen Individuen ist aber immer noch nicht so weit, wie es Stadler damals schon war, sie sind also nicht etwa in einen Zustand zurückgefallen, sondern einfach noch nicht aus dem alten erwacht, ein etwas moderneres Beispiel dafür ist die SF- Erzählung von Ray Nelson (1931 - 2022) aus dem Jahr 1965, bzw. deren Verfilmung "Sie leben" von 1988 durch John Carpenter, die vom Prinzip her recht simpel gestrickt ist und eigentlich auch nur wieder den Gegensatz von "denen da oben" zu "denen da unten" herauszustellen scheint, bei näherer Auseinandersetzung damit jedoch evoziert, dass die Beschäftigung mit dem Wesentlichen eine Entwicklung erfordert, die noch immer nicht stattgefunden hat; meiner Ansicht zufolge ist damit die Bezeichnung des heutigen Menschen als "Homo sapiens" vollkommen überzogen, soweit sind wir einfach noch nicht und wenn das so weiterläuft wie bisher, werden wir das auch nie sein. 🤔

Dank und ciao, Frank

 FrankReich meinte dazu am 09.02.24 um 00:35:
P. S.: Eigentlich nimmt somit nicht das Phänomen als solches zu, sondern die Menschheit und dadurch wird das Problem von manchen auch intensiver wahrgenommen, so zumindest empfinde ich es.

 Saira meinte dazu am 09.02.24 um 11:22:
Moin Frank,
 
großen Dank für deine tiefgehenden Gedanken, deine Bezugnahme auf Philosophen wie Kant und Stirner sowie auf Stadler und Scheffler.
 
Ganz besonders beeindruckend schildert Ernst Stadler in seinem von dir zitierten Gedicht „Der Spruch“ das fehlende Gespür des Menschen für das Wesentliche.
 
Du hast klug recherchiert eine nachvollziehbare Analyse erarbeitet. Top!
 
Liebe Grüße
Sigrun
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