Der Prinz

Erzählung zum Thema Identität

von  Quoth

Erschöpft von den Feiertagen, trafen sich die Mädels wieder zu ihrem alldienstäglichen Frühstück im Bahnhofscafé von Sandbergen; denn LUNDEN war natürlich nur der Ortsname in der Serie „Kornblumenblau“, in Wirklichkeit lebten sie in einer Gegend, die man auch gut als Streusandbüchse bezeichnen könnte, auf einem norddeutschen Geestrücken, den die enormen Wandergletscher der Eiszeit dort hinterlassen hatten. Hedwig, war jetzt immer pünktlich, da sie keinen zu pflegenden Mann mehr hatte, was sie einerseits erleichterte, andererseits aber auch in ein abgrundtiefes Loch fallen ließ.

„Für mich waren die Feiertage die Hölle,“ sagte sie, appetitlos an einem Quarkbällchen knabbernd, mit dem sie die Schwarzwälder Kirschtorte diätetisch ersetzte. „Überall war von einem Säugling die Rede, der in einer Krippe lag – hatte nicht auch ich süße Kinder gehabt – aber als sie erwachsen wurden, zogen sie weg, ließen sich ihr Studium von uns finanzieren und seither bekomme ich nur noch vorgedruckte Grußkarten von ihnen – und kann mein eigen Fleisch und Blut nicht mehr in den Arm nehmen. Ich sollte wütend auf sie sein, weil sie nicht einmal zu Amandus‘ Begräbnis gekommen sind – aber ich kann es nicht.“ Else legte ihre Hand auf Hedwigs Hand, die sich klein wie ein Mäuschen darunter duckte.

„Vielleicht geht es dir so wie mir. Plötzlich steht ein Mensch vor dir, du erkennst ihn nicht, und er entpuppt sich als – deine Enkelin!“ Ein verhaltenes Strahlen brach aus Elses sonst so strengem Gesicht. Die Frauen schwiegen und sahen sie staunend an. Eine Enkelin? Wo sie ihr Kind doch zur Adoption weggegeben hatte? Herta sagte:

„Du hast mich ja schon angerufen und mir mitgeteilt, dass sich bei dir etwas Wunderbares ereignet habe, du wolltest mir aber nicht sagen, was. Du hast sogar von ‚gnadenbringender Weihnachtszeit‘ gesprochen – ich traute meinen Ohren kaum.“

„Dabei war der Anfang alles andere als harmonisch … Sophie hat Heiligabend ihre Mutter gebeten, ihr endlich zu sagen, wer ihr Großvater mütterlicherseits ist. Und als Carola, so wurde meine Tochter von ihren Adoptiveltern genannt, sagte, das wisse sie nicht, wurde Sophie wütend, hat meine Adresse auf dem Umschlag der Weihnachtskarte gefunden, die ich geschickt hatte, und ist durch Wind und Regen zu mir gelaufen, und da stand der klapperdürre Backfisch nun vor mir, klatschnass, und sah mich so hilfesuchend und flehentlich an, dass ich sie bei mir aufnehmen musste, auch wenn ich noch gar nicht wusste, wer sie war. Und als sie mir das verriet, musste ich sie erst einmal in den Arm nehmen und fast totdrücken …“ Else stand auf, entschuldigte sich zur Toilette und ließ die Mädels rätselnd zurück. Ellinor fasste zusammen, was sie wusste:

„Mir hat Else mal erzählt, dass sie von ihrer Zeit als Lehrerin in Amman schwanger zurückkehrte. Aber den Vater des Kindes wollte sie partout weder benennen noch beschreiben, ja, sie behauptete sogar, es gäbe keinen, sie habe in Jordanien mit niemandem geschlafen. Es habe zwar einen Schüler gegeben, der sie recht schamlos angehimmelt habe, aber um den habe sie schon allein deshalb einen großen Bogen gemacht, weil er erstens ihr Schüler und zweitens ein Prinz aus der Familie der Haschemiten war, die auch das Königshaus stellt.“ Man hörte die Toilettentür ins Schloss fallen. Ellinor sagte: „Aber dazu wird sie uns bestimmt noch was zu erzählen haben.“ Else kam zurück, sie hatte sich frisch gemacht und Make-up benutzt.

„Ist Sophie magersüchtig?“, wollte Herta wissen. „So wie du sie beschreibst, ist das anzunehmen.“

„Sie war magersüchtig. Inzwischen isst sie wieder ganz gut. Natürlich rief Carola tags darauf an und verlangte von mir, dass ich Sophie zu ihr zurückbrächte. Sie sei anorektisch und dürfe der angefangenen jugendpsychiatrischen Behandlung keinesfalls entzogen werden. Als ich ihr aber sagte, Sophie habe bei mir mit gutem Hunger zwei Teller roten Heringssalat gegessen, wollte sie mir das nicht glauben, gab aber schließlich auf und überließ mir Sophie für drei Tage, die sie dann noch mal auf vierzehn Tage verlängerte. Und ich glaube sagen zu dürfen, dass Sophie förmlich aufblüht, seit sie bei mir ist.“

„Und hast du die Frage, deretwegen sie zu dir gekommen ist, beantworten können?“ Hedwig platzte vor Neugier.

„Nein, das konnte ich nicht, denn ich weiß es wirklich nicht. Auf Wunsch meiner Klasse unternahmen wir im Herbst 1975 eine Pilgerreise zum Grab Abdallahs, eines Vorfahren dieses Prinzen, den ich in meiner Klasse hatte und der unbedingt Deutsch und Englisch lernen sollte. Wir hatten uns zu essen und zu trinken mitgenommen, denn der Ort liegt mitten in der Wüste, und ein Lastkamel trug die Zelte, die wir in der Nähe des Grabmals aufschlugen. Am Morgen des zweiten Tages fehlte Omar, der Prinz, ich fragte die anderen, ob sie wüssten wo er sei, aber sie schauten einander nur mit verhaltenem Lächeln an – sie wussten es offenbar, mochten es mir aber nicht sagen. Es war aber auch ein Mädchen in der Klasse, Laila, mit der ich in einem kleinen Extrazelt schlief, und sie sagte mir: „Omar ist in dich verliebt und steht jeden Morgen früh auf, um seinen Liebeskummer der Morgensternin vorzutragen. Das machen verliebte Männer hierzulande seit Jahrhunderten.“

Ich konnte es nicht glauben, und am nächsten Morgen gegen vier Uhr früh kroch ich aus dem Zelt, in dem ich mit Laila schlief, und sah alsbald, wie auch Omar das Männerzelt verließ. Zum Glück bemerkte er mich nicht oder dachte, ich würde nur ein natürliches Geschäft verrichten, und beachtete mich nicht weiter. Auf einer entfernten Düne hielt er an, verbeugte sich vor der Venus, die leuchtend am Himmel stand, und flehte um ihren Rat. Er habe sich in eine wunderschöne Christin, seine Lehrerin, verliebt und wisse nicht mehr, was er tun solle. „Erlöse mich von dieser Liebe, Zohra, denn sie zerstört meine Zukunft!“ Unbemerkt verschwand ich im Frauenzelt, belauschte ihn aber auch am Morgen darauf. Ich gestehe, es schmeichelte mir ungeheuer und versetzte mich innerlich in Aufruhr, dass ich unscheinbares Lehrfräulein ohne mein Zutun diesen hübschen 18-Jährigen so in Brand gesetzt hatte. Und ich rätselte auch: Sollte ich zum Islam über- und in den künftigen Harem eines Prinzen eintreten? Ich wies das als absurd von mir, aber mein Prinz rang nicht mehr lange mit seiner Zukunft. Am dritten Morgen gelobte er Zohra, so nennen sie die Venus, er wolle auf alle Ämter und Privilegien seines Standes verzichten, nur um mich zu gewinnen. Da konnte ich mich nicht mehr beherrschen und schrie laut: „Nein, Omar, tu das nicht!“ – und wurde vor Scham auf der Stelle ohnmächtig, denn nun hatte ich mich verraten und er wusste, dass ich ihn belauscht und in gewissem Sinne auch an seiner Liebe berauscht hatte.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einer Bahre, die von zwei Kamelen getragen wurde. Ich hatte großes Glück gehabt. Eine Karawane war zufällig des Wegs gekommen und hatte mich halb erfroren im Wüstensand entdeckt – und gerettet. Omar kam nicht mehr in meinen Unterricht, es hieß, er sei Staatssekretär im Außenministerium geworden. Bald darauf kehrte ich nach Deutschland zurück und fiel aus allen Wolken, als die Ärztin mir mitteilte, dass ich schwanger war. Das ist es, was ich auch meiner Enkelin erzählte, ihre tiefbraunen Augen leuchteten, sie umarmte und küsste mich und rief: 'Jetzt weiß ich, liebste Großmutter, woher ich stamme!' 'Woher?', fragte ich. 'Aus Tausend-und-einer-Nacht!'"



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Kommentare zu diesem Text


 AlmaMarieSchneider (01.01.22, 16:48)
Eine wunderbare Geschichte. Ja, die Else, ihre Lebensbereicherung  immer noch ein Geheimnis.
Ein Lächeln
Alma Marie

 Quoth meinte dazu am 01.01.22 um 19:29:
Danke für Kommentar mit Empfehlunng und Lieblingstext. Es freut mich, Dich unterhalten zu haben in schwerer Zeit! Gruß Quoth

 Graeculus (01.01.22, 23:42)
Das changiert in der Tat gekonnt zwischen Bibel und Tausend-und-einer-Nacht. Ungemein originell obendrein.

 Quoth antwortete darauf am 02.01.22 um 13:06:
Vielen Dank, Graeculus, für Lob und Empfehlung mit Kommentar. Gruß Quoth

 AchterZwerg (02.01.22, 06:56)
Ein bezauberndes Kapitel, mit allem, was ein abenteuerlustiges Herz benötigt.
Und als Zugabe: Romantik!

Ich wünsche dir ein Jahr mit all diesen Ingredienzien! :)

 Quoth schrieb daraufhin am 02.01.22 um 13:03:
Scheint Dir ja gefallen zu haben. Freut mich!
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