Atem. Halt. Bruch.
Leipzig vibrierte. Kein schönes, warmes, butterweiches Vibrieren – nein, mehr wie ein Föhn, der in der Badewanne explodiert. Eine Stadt mit rhythmischem Murmeln, nur dass niemand wusste, welcher Takt eigentlich lief. Und inmitten dieser Wanne aus Strom und Glas, auf einem Balkon mit Rostflecken wie Schimmel auf Toast, saß Andreas. Das letzte Viertel einer Weißweinnacht in der Hand, das Gesicht in einer Halb-Richtung-Zukunft gedreht.
„Bist du wieder Baudelaire auf Low-Budget?“ Julian in der Tür, lächelnd wie ein Blitzerfoto. Seine Stimme – zu süß, um echt zu sein, wie Himbeeraroma in einem Chemielabor. „Immer dieses Gucken, André. Immer dieses Denken. Immer dieses... dich.“
„Andreas,“ murmelte er, ein Reflex. Julian wusste es, Julian ignorierte es, Julian war der Typ Mensch, der Namen wie Altpapier behandelte.
„Andreas klingt wie ein Volkshochschulkurs in Selbstaufgabe.“ Julian rauchte, und der Rauch schien den Raum schwerer zu machen. „Kannst du mal nicht sterben, bevor du lebst?“
Andreas wollte etwas sagen. Konnte es aber nicht. Denn Julian war wie Leipzig – laut, zu grell und irgendwie ungreifbar. Es war nicht Liebe, was ihn an Julian band. Nicht einmal Begehren. Vielleicht eher eine Art... Orbit-Gefangenschaft.
Innenwelt. Schwarz. Weiß. Rot.
Rafael war anders. Rafael war alles, was Julian nicht war: ein stiller Vulkan mit mehr Magma als Worten. Seine Hände wühlten durch die Luft, als könnten sie etwas Greifbares daraus formen. Auf der Leinwand lief kein Film, sondern ein Fieber. Proteste, Tränen, Tränengas, ein Rhythmus aus Schmerz.
„Das ist Leipzig,“ sagte Rafael, und seine Stimme war heiß und kalt zugleich. „Das ist alles. Und nichts. Und genau deshalb muss es bleiben.“
„Du bist so verdammt pathetisch.“ Julian, der plötzlich da war, wie ein Schatten, der aus sich selbst geboren wurde. „Glaubst du ernsthaft, irgendwer interessiert sich dafür? Für dich? Für uns? Für... das?“
„Halt die Klappe.“ Rafael drehte sich zu ihm, und Andreas spürte, wie die Luft zwischen ihnen dicker wurde. „Du verstehst nichts, Julian. Nicht die Stadt. Nicht die Menschen. Nicht mich.“
„Ich verstehe mehr, als dir lieb ist,“ sagte Julian und zündete sich noch eine Zigarette an. Sein Lächeln war so scharf, dass es schneiden konnte. „Ich verstehe, dass du längst tot bist, Rafa. Du und deine ganze kleine Welt aus Wut.“
Der Moment des Kippens
Die Waffe lag auf dem Tisch. Einfach so, wie ein vergessenes Stück Geschichte. Rafael hatte sie mitgebracht, ohne ein Wort, ohne einen Grund. Julian hob sie auf, seine Augen glänzten wie Straßenlaternen im Nebel.
„Ist das dein Ernst?“ Julian zielte auf die Wand, auf das Fenster, auf Andreas, auf die Idee von etwas. „Rafa, das ist so unfassbar klischeehaft, dass ich fast kotzen möchte.“
„Halt die Klappe,“ wiederholte Rafael, diesmal lauter. „Du denkst, das ist ein Spiel? Es gibt keine Spiele mehr. Keine Regeln. Nur noch... nichts.“
„Perfekt, dann passt das ja zu dir.“ Julian richtete die Pistole auf sich selbst, dann auf Rafael. Immer spielerisch, immer grausam.
Andreas stand da, die Füße wie festgeklebt auf dem Boden. Er wollte schreien, wollte lachen, wollte wegrennen.
„Du bist ein Feigling,“ sagte Rafael schließlich. Es war keine Beleidigung, sondern eine Feststellung.
Zersplitterung.
Der Schuss war laut und leise zugleich, ein Echo, das keinen Raum brauchte. Rafael kippte nach hinten, langsam, als würde die Schwerkraft zögern. Sein Blut war rot, aber nicht wirklich rot. Mehr ein... Herzschrei ohne Ton.
Julian stand da, die Waffe noch in der Hand. Sein Lächeln war weg, aber nicht seine Kälte.
„Das war ja leicht,“ sagte er schließlich, seine Stimme ein scharfer Riss in der Stille. „Er wollte sterben. Also bitte. Wunsch erfüllt.“
Andreas fiel auf die Knie, seine Hände suchten Halt auf dem glatten Boden, fanden nichts.
„Ich bin kein Monster,“ sagte Julian, als er ging. „Ich bin Leipzig. Und Leipzig stirbt nicht.“