4 Der erste Kontakt

Text

von  Isensee

Benjamin 1 zog 1996 ins Dorf, und damit meine ich nicht irgendeinen Benjamin. Benjamins gibt es viele, aber sie teilen eine seltsame Ähnlichkeit, fast wie genetische Variationen derselben archetypischen Skulptur. Ein Benjamin hat immer etwas Überproportionales. Vielleicht riesige Ohren und winzige Augen oder eine unglücklich gebaute Hüfte, die aussieht wie der Punkt, an dem ein Puzzle falsch zusammengesetzt wurde. Benjamin 1 war da keine Ausnahme: kleinwüchsige Beine, die zu einem Körper gehörten, der weder groß noch klein sein musste, sondern einfach Benjamin war. Er war ein Benjamin der Sorte "froschbenjaministisch" – märchenhaft in einer Art, die ins Berghain gehört, wo sich Gleichmut mit Glitzer trifft.

Das Haus, das Benjamin bewohnte, passte sich perfekt ins Dorf ein, Es war ein Haus, das ständig so wirkte, als würde es gegen irgendeine Bauverordnung verstoßen, aber nie erwischt werden. Der Natursteinweg davor war so angelegt, als hätte jemand alte Klosterplatten aus Italien gestohlen und sie mit einem Augenzwinkern hierhergebracht. Die Ausfahrt aus diesem Grundstück bestand aus einem grobporigen Beton,in einer winterlichen Laune von zu viel Seeeis inspiriert. Und dann waren da die transplantierten Koniferen – frisch gepflanzt, in Erde, die aussah, als hätte man sie von einem luxuriöseren Grundstück herangekarrt. Alles an diesem Anwesen schrie nach "gesundes Angepflanztes", das doch irgendwie fremd wirkte.


Benjamin selbst war das Gegenteil von transplantiert. In der Klasse fügte er sich ein wie ein Stück altes Inventar, das nie in Frage gestellt wurde. Er hätte mühelos Klassensprecher werden können – wenn da nicht die Sache mit dem Fahrstuhl gewesen wäre. Die Dorfschule hatte ihn extra für Benjamin gebaut. Ein Fahrstuhl nur für ihn, der bald zu einer Art Jugendzentrum für verbotene Experimente wurde. Es dauerte nicht lange, bis dieser Fahrstuhl alles gesehen hatte: verbotene Fahrten, halbherzige Versuche der Zerstörung und mehr heimliche Liebesgeschichten, als irgendein Fahrstuhl es je verdient hätte.

Die erste Einladung zu Benjamin nach Hause stellte mich vor ein absurdes Dilemma: Steige ich die Treppe vor ihm hoch, während der Lift ihn langsam nach oben trägt, oder warte ich höflich, bis er oben ist? Letzteres schien das österreichisch-passive Gebot der Höflichkeit zu erfüllen, aber es fühlte sich falsch an. Also wartete ich – halb mit einem Anflug von schlechtem Gewissen, halb fasziniert von dem mechanischen Spektakel. Der Treppenlift knarzte, ratterte, drehte Benjamin hektisch in Position und spuckte ihn schließlich oben aus wie einen Serviceroboter.

Sein Zimmer war der Ort, an dem die Langeweile des Dorfes endete. Konsolen stapelten sich wie Monumente, dazwischen prangte ein leise surrendes ISDN-Modem, das den Weg in eine neue Welt bahnte. Hier bekam ich meine erste CD mit Internetpornografie in die Hand gedrückt. Es war wie die Taufe ins neue Jahrtausend: mehr Geschlechtsteile in 30 Minuten als Caesar, Dschingis Khan und Napoleon zusammen in einem ganzen Leben gesehen hatten.


Benjamin hatte allerdings auch seine Schattenseiten. Seine Familie war von dieser Sorte: Dekubaumfäller. Leute, die sich selbst ernst nahmen, aber keine Gäste am Tisch duldeten. Ich saß bei einem Besuch einmal hungrig in der Küche, während die Familie hinter verschlossener Tür aß. Benjamin entschuldigte sich nie. Stattdessen reichte er mir eine Handvoll Süßigkeiten, die er strategisch in seiner Rolle als Unterstützer der beliebten Schüler einsetzte. Diese Süßigkeiten kauften ihm den Zugang zu den coolen Kreisen, bis er schließlich Klassensprecher wurde. Ein Triumph, den er auf einem Schüleraustausch ins Ökodorf Wiesebach krönte. Von dort kehrte er zurück, und etwas hatte sich verändert.

Er lächelte jetzt anders. Es war dieses „Ich-weiß-mehr“-Lächeln, das Menschen nach einer erfolgreichen Treibjagd zeigen, wenn sie über Nachhaltigkeit sprechen, während sie ihre Jagdtrophäen polieren. Benjamin lächelte so und sprach von Permakultur, während er heimlich in der Schulkantine Tütensuppe aß. Seine Rolle als Schulsprecher war unvermeidlich. Wir alle schauten zu ihm auf, oder zumindest schauten wir auf das Podest, auf dem er saß.


Gestern sah ich ihn wieder. Er lief durch die Stadt – oder besser gesagt, er rollte auf einem futuristischen Roboterunterkörper. Er verteilte Flyer, die von einer Partei mit dem Slogan „Zukunft gemeinsam gestalten“ stammten. Dieses „Ich-weiß-mehr“-Lächeln hatte er immer noch, nur diesmal unterstrichen von einem dampfenden mechanischen Geräusch, das ihn wie einen Mechadinosaurier erscheinen ließ. Und dann war er wieder weg, verschwunden im Gewimmel.

Benjamin bleibt. Als Erinnerung, als wandelnder Beweis dafür, dass auch die, die wir nie ganz verstanden haben, irgendwann in unseren Erinnerungen überleben. Vielleicht als Dekubaumfäller, vielleicht als froschbenjaministischer Ökomessias. Aber immer als Benjamin.



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