Heimsuchung

Erzählung

von  Quoth

Und auch dies war wiederum nur eine Vorstufe zu derjenigen Liebe, der Du entsprangst und Deine Geschwister, edle Verstorbene. Während mein Bruder bei München in der Kapelle einer früheren Schweige hauste, ein selbstzufriedenes Leben als Siemensianer führte und meinen hohen Frauenkonsum (schon die dritte oder vierte!) nicht begriff und nur kopfschüttelnd wahrnahm (Natascha wurde von unserer Mutter, die die Maßstäbe für ihn setzte, als mein „Betthäschen“ bezeichnet), folgte ich der Frau, die ich durch eine Kontaktanzeige in der Westfälischen kennengelernt hatte, nach Duisburg Marxloh, wo sie im Haus ihres Großvaters, des „gottlosen Malermeisters“, wohnte, spazierte nächtens mit ihr durch den Schwelgernpark und hielt romantisch Händchen im rotwabernden Licht der nahen löschenden Kokerei und inhalierte tief den Duft nach Schwefelwasserstoff …

Ach, hätte ich gewusst, ein wie plötzlich gekapptes Leben Dir bevorstand, wieviel mehr noch hätte ich Dich geliebt, hätte mich bemüht, die Bücher zu lesen, die Du lasest, und die Musik zu verstehen, die Du hörtest. Aber so habe ich Dich eitel geschätzt als ein selbstverständliches und verdientes Ornament meines Lebens, das plötzlich weggekratzt wurde vom Krebs und nun stehe ich arm da und kann nur versuchen, denselben Fehler bei meiner anderen Tochter und bei meinem Sohn nicht zu wiederholen.

Nach Jahren vergnügten Kellnerns in einem Kölner Café, unterbrochen durch Reisen nach Columbien, Costa Rica und Kuba im Dienst verschiedener NGOs, hast Du endlich eine Stelle gefunden, die Deinem Studium der Lateinamerikanistik entsprach, warst für die Zukunftsstiftung Entwicklung der GLS-Bank in Kenia, Peru und Nepal, und Deine wohlwollende Chefin wollte Dich zu ihrer Nachfolgerin aufbauen. Dann fandest Du den Mann, den Du zum Vater machen wolltest, das Kind kam – und Du warst der glücklichste Mensch, wir alle teilten Dein Glück, vor allem Deine Schwester, die schon ein dreiviertel Jahr vor Dir Mutter geworden war.

Doch es schlug ein Blitz namens Sarkom ein und vernichtete Dich binnen eines halben Jahres. Trauer, Trauer, Trauer, ein Nichtfassenkönnen, das nicht weichen will, hin und wieder Ausflüge ins Labyrinth des Selbstmitleids, die alles nur noch unerträglicher machen – was bleibt, ist, dass wir uns an Dein Töchterchen klammern, in dem Du ja fortlebst, und versuchen, ihrem Vater nach Kräften beizustehen, sein Leben als verwitweter Alleinerziehender mit seiner Arbeit als Ingenieur unter einen Hut zu bringen.

Wiederhole ich mich? Habe ich das alles nicht schon mal gesagt? Während mein Erinnerungsvermögen sich schlafen legt und ich unmerklich in Richtung Demenz schliddere, muss ich Dein schreckliches und so heldisches Sterben verdauen, liebe Tochter, Nacht um Nacht suchst Du mich heim, nicht im Traum, sondern als wandelnder, von Cortison aufgepumpter Vorwurf, Dich je gezeugt zu haben. Nein, das ist ungerecht, Du hast gerne, glücklich und abenteuerlich gelebt, hast Dein Töchterchen über alles geliebt und bis zum letzten Moment gestillt – hat es sich bis dahin nicht auch gelohnt?



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Kommentare zu diesem Text


 Regina (10.02.25, 01:47)
Der Tod lässt Hinterbliebene leiden, die Verstorbene hat er, jedenfalls zunächst, von ihren Schmerzen erlöst.

 Quoth meinte dazu am 10.02.25 um 11:45:
"Sie (er) hat ausgelitten," ist wohl die Formel, die man am Sterbebett am häufigsten hört. Auch mir fiel nichts Besseres ein. Danke für Empfehlung mit Kommentar.

 EkkehartMittelberg (10.02.25, 13:46)
Hallo Quoth, 

die Erzählung geht unter die Haut, der Titel ist gut gewählt.

LG
Ekki
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