Vergessen

Text

von  Saudade

Jules liebte seine Juliette unendlich, bis er sie vergaß, das kam schleichend. Zuerst wusste er nicht mehr, wo er seine Brille hingelegt hatte, dann ging er einkaufen, kam mit nichts zurück, irgendwann wiederholte er ewig dieselben Sätze und nach und nach wurden die Erinnerungslücken immer größer. Jetzt sitzt er den ganzen Tag in seinem bequemen Stuhl und liest die Zeitung, wenn er sie weglegt, beschwert er sich sogleich, warum er heute noch keine Zeitung bekommen hat. 

Juliette bringt ihm, wenn er liest, Tee und lächelt, streichelt, nach dem Abstellen auf den Beistelltisch, liebevoll seine Hand, da zuckt er die Hand zurück und fragt Juliette, wer sie überhaupt sei?

Juliette ist traurig, aber sie liebt Jules noch immer überalles. Denkt gerne an die Anfänge zurück. Sie lernten sich 1952 in einem Jazzkeller kennen. Eigentlich hatte sie ein Auge auf Marc geworfen, der stellte sie Jules vor, den sie zunächst vor lauter Verliebtsein nicht beachtete, aber abgesehen davon, dass Marc eher an ihrer Freundin Marie interessiert war, war Jules sehr hartnäckig, jedoch auf eine lustige und süße Art, so wurde er bald zu ihrem ersten und letzten Gedanken am Tag. 

Sie heirateten 1953, Jules war 19, sie war gerade 18 geworden. Jules wurde gleich nach der Hochzeit vom Militär in den Indochinakrieg geschickt und dort schwer verwundet. Dennoch kam er lebend wieder nachhause, wurde nie wieder ganz gesund. Sein Bein zog er nach und seinen linken Arm konnte er nicht ganz heben. Das störte das Glück der beiden jedoch nie. Jules fand eine Arbeit in einem Büro, Juliette war Haushaltshilfe. Sie lebten bescheiden, hatten keine großen Wünsche, ihnen fehle es daher an nichts, außer an Kindern, die kamen nicht, denn Jules war seit dem Krieg impotent. Oft sagte er, sie solle sich jemanden anderen suchen, sie könne doch nicht... 

Da unterbrach sie ihn, lächelte, meinte, er sei ein wunderbarer Mann und Liebhaber, ihr fehle an nichts. Das war nicht ganz wahr, denn Kinder fehlten ihr schon. Die Adoptionsbehörde lehnte ihr Gesuch ab, gaben die Kinder Eltern, die beide gesund waren, das traf Juliette sehr hart, aber sie schwieg.

Die Jahre vergingen wie im Flug, sie wurden beide gemeinsam alt und nun hatte Juliette ihr Kind: Jules. 

Sie hat sich, als die Diagnose von Dr. Lerond bestätigt wurde, von ihm geistig verabschiedet, küsste ihn zärtlich, in ihr kam das Gefühl des ersten Kusses wieder hoch, danach weinte sie. Jules sah sie an, fragte: "Wo ist meine Frau?!"

Sie sagte: "Ich bin deine Frau." Da protestierte er, meinte, so eine alte Frau würde er sich nie nehmen. 

Irgendwann hat Juliette mit dem Weinen aufgehört und sieht Jules an, so oft es noch geht. 


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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (05.05.25, 00:22)
Ein Text über das Vergessen, der sich tief einprägt.

LG
Ekki

 Saudade meinte dazu am 05.05.25 um 00:26:
Danke, Ekki.
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